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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DER WIEDERKEHRENDE TOTE

In Biasca war ein Mann vom Dach eines Hauses gestürzt und wurde in verzweifeltem Zustand von mitleidigen Leuten nach Hause getragen. Dort starb er nach furchtbarem Todeskampf, ohne daß er weder mit seiner Frau Magdalena noch mit seinen Kindern ein Wort mehr sprechen konnte.

Er war bei vielen Unternehmungen beteiligt gewesen. Nach seinem Tode erschienen bei der Witfrau viele Gläubiger. Sie bezahlte alle. Aber sie war wenig auf dem Laufenden über die Schulden und Guthaben ihres verstorbenen Mannes, und sie wußte auch nicht. wieviel die Summen ausmachten, die sie zu zahlen hatte, weil sie nicht alle die nötigen Abrechnungen und Papiere besaß. Deshalb geriet sie in Verwirrung und Aufregung. In ihrem Gebet flehte sie Tag und Nacht zum lieben Gott, daß er ihren Mann noch einmal in diese Welt zurückkehren lasse, und wäre es auch nur für wenige Stunden oder die Zeit, die dringend nötig war, um sie über die zahlreichen und wichtigen Angelegenheiten der Familie und des Geschäftes in Kenntnis zu setzen.

Und diesen ihren sehnlichen Wunsch teilte sie auch dem Herrn Pfarrer im Dorf mit, welcher zu ihr sagte: «Bedenket wohl, Magdalena, daß die Toten höchst selten in diese Welt zurückkehren; denn sie müssen, um diese weite Reise zu unternehmen, schreckliche Qualen erdulden. Und ferner drängt es mich, euch dar-



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auf aufmerksam zu machen, daß ihr nicht den Mut hättet, mit eurem Mann zu sprechen, auch wenn er auf die Erde zurückkehren dürfte.» Wieso», erwiderte die Witwe, sollte ich mich nicht getrauen, mit meinem Mann zu sprechen? An Mut fehlt es mir keineswegs. Ich fürchte mich nicht im geringsten.»

Und sie wiederholte ihren Wunsch im Gebet immer wieder.

Eines Nachts befand sich Frau Magdalena bereits im Bett, als sie hörte, wie jemand die Haustüre öffnete. Dann vernahm sie den Schritt einer Person, welche die Treppe heraufstieg, und sie erkannte deutlich die wohlbekannte Gangart ihres seligen Mannes. In diesem Augenblick war all ihr Mut verschwunden. Sie versteckte sich unter ihre Bettücher und getraute sich kaum mehr zu atmen.

Jetzt hörte sie, wie der Mann die Schlafzimmertür öffnete, wie er eintrat, sich ihrem Bett näherte und dort unbeweglich stehen blieb, in der Erwartung, daß sie mit ihm rede. Aber sie brachte kein Wort hervor, dermaßen hatte die Furcht sie gepackt. Eine Weile nachher hörte sie ihn im Zimmer umhergehen, und es schien, als ob er warte, bis sie spreche. Magdalenen aber preßte sich das Herz zusammen, und sie hielt auch so gut als möglich ihren Atem zurück. Der Verstorbene blieb noch eine Zeitlang im Zimmer, bald auf- und niedergehend, bald vor ihrem Bette stille stehend.

Endlich aber, des Wartens müde, öffnete er die Zimmertür, schloß sie mit Lärm hinter sich zu, eilte polternd die Treppe hinunter und dann zum Haus hinaus, wobei er die Haustür mit einer solchen Wucht ins Schloß warf, daß das ganze Haus erzitterte.

Am andern Morgen begab sich die Witfrau, noch



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ganz hebend vor Aufregung, zum Pfarrer und erzählte ihm alles, was diese Nacht geschehen war. Der Geistliche tadelte sie heftig und sprach: «Hab ich es Euch nicht gesagt, daß Ihr den Mut nicht hättet, mit dem Toten zu reden. Ihr könnt Euch die furchtbaren Qualen gar nicht vorstellen, die der arme Mann erdulden mußte, um wieder bis in sein Haus zu kommen. Und nun hat er Euren Wunsch gleichwohl nicht erfüllen können. »

Magdalena wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Doch begriff sie jetzt, daß sie an ihrem seligen Mann ein großes Unrecht begangen hatte, der ihr zuliebe zurückgekehrt war und dessen Grabesruhe sie gestört hatte.

Sie bereute es tief, aber es war zu spät.


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