Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE SCHWALBEN UND DER RABE DES KLOSTERS BIGORIO

Es war im Jahre der Gnade 1535. Die guten Bewohner des gegenwärtigen Kirchensprengels von Capriasca hatten endlich den Entschluß gefaßt, ein großes Kapuzinerkloster zu bauen. Wie es aber oft geschieht in solch wichtigen Angelegenheiten, entstanden Meinungsverschiedenheiten über die Lage, wo das Kloster hinkommen sollte. Endlich entschied eine schwache Mehrheit des Volkes. das Kloster müsse in die Nähe des Dorfes Lugaggia gebaut werden. Einige meinten, in dessen unmittelbare Nähe, andere dagegen genau an die Stelle, wo heute der kleine Palast der Familie Quadri steht, welche dem Land zwei tüchtige Architekten geschenkt hat, die dem Kirchsprengel von Pieve Capriasca zu Ehre und Ruhm gereichen.

Es war im Monat Juli, und man hatte schon mit den Grundmauern des Klosters begonnen, als zwei sehr merkwürdige Dinge geschahen, aus denen das brave Landvolk deutlich den Willen Gottes erkennen konnte.

Eines Tages nämlich flog eine Schar Schwalben herbei und setzte sich auf den Rand der weiten Grube, worin der gelöschte Kalk sich befand. Jeder Vogel nahm ein Stückchen Kalk in seinen Schnabel und flog davon in der Richtung gegen den Monte Bigorio bei Tesserete. Diese Arbeit der freundlichen Schwalben dauerte unaufhörlich einen ganzen Tag und noch den folgenden dazu. Nun wollten aber einige Dorfbewohner



Tessiner Sagen-019 Flip arpa

über die Sache ins klare kommen, und sie verfolgten die Flugrichtung der Vögel. Welch Wunder war da zu sehen! Auf einem anmutigen Hügel, etwa eine Viertelstunde oberhalb des hübschen Dorfes Bigorio, entdeckten sie, wie von Meisterhand gebaut, eine kleine Säule aus Kalk, etwa einen Meter hoch und ungefähr einen Fuß im Durchmesser. Diese wunderbare Arbeit war von den Schwalben ausgeführt worden. Das Ereignis machte großen Eindruck. Das Landvolk glaubte darin eine Offenbarung Gottes zu sehen, und die Meinungsverschiedenheit entbrannte mehr als zuvor. Immerhin wurden die Bauarbeiten in Lugaggia fortgesetzt.

Bald darauf kam ein neues Ereignis hinzu. Es war um die Mittagsstunde des 26. Juli, am Tage der Sankt Anna. Die Maurer hatten die rauhe und mühsame Arbeit eingestellt. Einige waren zum Mittagessen nach Hause zu ihrer Familie zurückgekehrt. Andere verzehrten ihr Mahl an Ort und Stelle. Plötzlich sahen sie aus der höhe wie im Steilflug einen großen Raben herabfliegen. Der setzte sich auf einen Kittel, aus dessen Tasche ein Papier ein wenig herausguckte. Schnell faßte er die Rolle mit seinem starken Schnabel und flog damit schleunigst davon. Es war der Bauplan, den der Architekt ausgearbeitet hatte für den Bau des Klosters. Man konnte beobachten, daß der Rabe die gleiche Richtung nahm wie die Schwalben, nämlich zur Ortschaft Bigorio hinauf.

Dieser unerhörte Vorfall, dessen Kunde sich unter der Bevölkerung rasch verbreitete, machte einen sehr starken Eindruck. Da der Bauplan fehlte, mußten die Arbeiten unterbrochen werden.

Am 29. Juli begaben sich zwei Bäuerinnen aus Bigorio



Tessiner Sagen-020 Flip arpa

auf einen Hügel nicht weit oberhalb des Dorfes, um Gras zu mähen. Da fand die eine von ihnen einen großen Bogen Papier, auf welchem Zeichnungen angebracht waren. Sie zeigte die Rolle ihrer Nachbarin, und weder die eine noch die andere begriff, was das bedeuten sollte. Um die Mittagsstunde kehrten sie heim und brachten das Papier dem Bürgermeister. Dieser erkannte, daß es sich um nichts anderes als den Bauplan für das Kapuzinerkloster handelte. Er beeilte sich, ihn dem Bauleiter sofort zu übergeben. Die Tatsache, daß der Plan in einem Wald auf dem Gebiet von Bigorio wieder gefunden wurde, und zwar genau auf dem gleichen Hügel, wo eine Woche vorher die Schwalben die Säule errichtet hatten, verbreitete sich wie der Blitz unter der Bevölkerung. Es war eine zweite Offenbarung. Alle erkannten darin ein Zeichen Gottes und der Madonna, der die Schwalben geweiht und heilig sind.

Jetzt waren alle darüber einig, daß man das Kloster nicht mehr im Dorf Lugaggia, sondern auf dem schönen Hügel oberhalb Bigorio bauen sollte. Und so geschah es. Und noch heute schaut das großartige Kloster der Kapuziner von Bigorio von dort oben herab auf den ganzen Bezirk von Capriasca wie ein liebevoller Vater, der seine Kinder überwacht.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt