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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE SAGE VOM LAGO D'ELIO

«Angiolina, erzählt mir eine hübsche Geschichte!», sagte ein Mädchen von acht oder neun Jahren zu einer alten Bäuerin, welche in einer Ecke des altertümlichen und geräumigen Kamines saft wo ein Feuer von drei oder vier Kastanienscheitern brannte, die rauchten und ringsherum warm gaben, und aus deren Glut bisweilen hohe Flammen emporloderten und fröhlich knisternde Funken sprühten.

Angiolina war wirklich ein altes Mütterchen. Aus ihrem abgebleichten und bunten Nastuch, das sie mit zwei Zipfeln um den Kopf gebunden hatte und das hinten am Hals bis mitten auf den Rücken herunterhing, guckten weiße Haare hervor.

Also setzte sich Angiolina behaglich in ihrem Winkel am warmen Kaminfeuer zurecht, wickelte ihren



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Rock und die Schürze mit einer kreisenden Bewegung um die Knie und Füße, damit sie nicht Feuer fingen, wärmte darnach die Hände an der lodernden Flamme und versteckte sie wieder in die Schürze. Darauf begann sie folgendermaßen zu erzählen:

Vor Zeiten war einmal ein hübsches Dörfchen dort drüben auf halber Höhe des Gebirges. Es lag wie versteckt in seinem Schoß. Man sieht seine Stelle noch heute und braucht nur dort hinunterzugehen auf den Platz. wo unsere Kirche von Losone steht, von dort aus kann man's sehen.

Die Leute dieses Dorfes waren hartherzig und so böse, daß sogar der liebe Gott ihrer überdrüssig und darob so sehr erzürnt war, daß er beschloß, sie zu strafen.

Die Madonna jedoch, voller Mitleid, beschwichtigte ihn und erhielt von ihrem göttlichen Sohne die Erlaubnis, noch einen einzigen Tag mit der Ausführung seines Vorhabens zu warten, denn sie wollte noch versuchen, ob es ihr möglich wäre, einige der Bewohner zu bekehren, um die Strafe aufzuschieben oder gar abzuwenden.

So sah man denn an einem stockdunklen Abend eine alte Bettlerin durch jenes Dörflein gehen, die ganz zerfetzte Kleider trug und vor den Türen um eine milde Gabe bettelte. Vergeblich klopfte sie an alle Türen, umsonst flehte sie mit sanfter und rührender Stimme, daß man sie einlasse und ihr ein Almosen spende. Niemand kam und öffnete ihr. Keiner gab ihr etwas. Die Türen und die Herzen der Bewohner von Elio blieben gleich fest verschlossen.

Als nun das arme Mütterlein überall die Runde im Dorf gemacht hatte, blieb es ein wenig stehen, um sich



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umzuschauen. und Tränen voll Schmerz rannen ihm aus den Augen und fielen zur Erde. Dann wandte es sich nach der Straße, die aus dem Dorf wegführte. Da kam es zu einer armseligen Hütte, an der es aber dennoch anklopfte.

Die Tür ging sogleich auf, und auf der Schwelle trat ihm eine Frau entgegen, die war ganz mager und abgezehrt vor Entbehrung und Elend. Und dann waren noch vier Kinder da, erschöpft und traurig wie ihre Mutter.

Als diese die alte Bettlerin sah, wie sie so spät noch umherging, um eine Unterstützung zu betteln, fühlte sie großes Mitleid und hieß sie sofort mit liebreichen Worten hereintreten, führte sie an das kleine Kaminfeuer und bat sie, in der am meisten geschützten Ecke Platz zu nehmen. Dann fachte sie das Feuer wieder an, damit sie ihre erfrorenen Glieder wärmen könne und bot ihr einige Kartoffeln an, die sie in der Asche gebraten hatte, den einzigen Ueberrest ihres dürftigen Nachtmahls.

Die alte Bettlerin aß davon einige, dankte der Mutter und den Kindern, die schüchtern um sie herumstanden, mit einem solch liebevollen Blick und einem so sonnigen Lächeln, daß sich ihr Herz mit einer seligen Freude füllte, wie sie es bis zu diesem Tage noch nie verspürt hatten.

Ein Weilchen später, nachdem sie völlig erholt schien, stand sie auf, nahm Abschied von der Familie, wandte sich aber unter der Haustür nochmals zurück und sprach:

«Eure Gastfreundschaft hat euch gerettet, und ihr werdet die Belohnung empfangen. Behaltet morgen die Schulter dieser Haustür wohl im Auge - und damit



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zeigte sie auf die Stelle, indem sie mit ihrem Stöcklein darauf schlug. Sobald ihr die ersten Tropfen Wasser hier herabfließen seht, so nehmet eure wenige Habe und flüchtet miteinander aus dieser Gegend, denn Gott der Herr hat sie verflucht.»

Kaum hatte sie das gesagt, so verschwand sie, wobei sie einen lieblichen Wohlgeruch und einen hellen Lichtschimmer zurückließ. der nach und nach in der Ferne erlosch.

Als jene Nacht vorüber war, und der Tag anbrach, redeten die Kinder mit der Mutter immer noch von dem, was am Abend vorgefallen war. Zitternd erwarteten sie die Nacht und harrten auf das Wunder, das da geschehen werde, indem Wasser herabkommen sollte vom lebenden Felsen.

Sobald der Abend dämmerte, wo, wie man bei uns im Tessin sagt, die Nase anfängt, einen Schatten zu werfen, wandten die Knaben kein Auge mehr von der Haustür und schauten unverwandt auf die bezeichnete Stelle.

Die Mutter dagegen, immer noch unentschlossen, ob sie das Häuschen verlassen sollte oder nicht - denn es war ihr einziges Gut und ihr alleiniger Zufluchtsort - raffte für alle Fälle die wenigen Habseligkeiten zusammen, die ihr wert schienen, gerettet zu werden.

Und richtig, auf einmal schrien die Kinder wie mit einer Stimme:

Mutter, Mutter, schau, schau, das Wasser, das Wasser, schnell fort!»

Auf dieses Rufen hin rannte die Mutter herbei, und noch bleicher geworden, als sie sonst schon war, sah sie wirklich einige Wassertropfen aus dem Stein herauskommen,



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der aber kein Loch zeigte und keinen Riß. Die Tropfen kamen immer schneller und mit immer größerer Geschwindigkeit, als wollten sie zur Flucht anspornen.

Zitternd vor Angst stellte sie sich vor den ältesten der Knaben. Der nahm den Kleinsten auf den Rücken. Dann nahm sie die zwei übrigen Kinder an die Hand und lud einen mächtigen Sack auf die Schultern mit all dem, was sie von ihrer Habe retten wollte. Hierauf eilten sie fort auf die Straße, die zum Dorf hinausführte und erreichten nach langem Wandern die Höhe eines Bergrückens, der sich langsam herabsenkte. Schließlich gelangten sie in ein geräumiges Tälchen und zuletzt in eine verlassene Blockhütte, in die sie hineingingen.

Dort zündeten sie ein Feuer an, um sich zu erwärmen und etwas sehen zu können. Im hintersten Winkel war ein Haufen Stroh. Auf diesen legten sich die Kinder hin und schliefen ein, ermüdet vom weiten Weg und von der Angst, die sie ausgestanden hatten.

Auch die Frau legte sich nieder und dankte Gott im Gebet, daß er sie aus der Gefahr gerettet. Dann versuchte sie zu schlafen; allein der Schlaf wollte nicht kommen, und sie verbrachte eine lange und kummervolle Nacht.

Endlich, endlich schimmerte die Morgenröte durch die Lücken der Hütte und meldete mit ihrem fahlen Licht der armen Frau, daß der Tag nicht mehr ferne sei. Und weil es ihr keine Ruhe mehr ließ, stand sie, um ihre Kinder nicht zu wecken, ganz leise auf, ging behutsamen Schrittes zur Hütte hinaus und lief an eine Stelle, von wo sie ihr Dörflein noch hätte erblicken können.



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«Um Gottes Willen!» rief die Frau und sank auf die Knie, denn es war ihr, als fiele sie in Ohnmacht und als müßte sie sterben, so elend wurde ihr beim Anblick dessen, was sie vor Augen hatte. Von dem schönen Dorfe Elio war nichts mehr zu sehen. An seiner Stelle bildete eine weite und gleichförmige Wasserfläche einen See. Totenstille herrschte ringsumher. Weder ein Haus noch ein Stall war noch zu sehen, weder die Glocke einer Kuh noch einer Ziege oder eines Schäfleins unterbrach wie sonst die Grabesruhe. Alles, alles war verschwunden, Leute und Vieh, ohne die geringste Spur übrig zu lassen.

Noch heute wird erzählt, daß man zu Zeiten, wo der See von Gewittern plötzlich aufgewühlt wird und die Wellen sich mit Wut aufbäumen, aus der Tiefe die Glocken einer Kirche läuten höre. Diese sind nämlich geweiht und erinnern die Lebenden an das begangene Unrecht derer, die da begraben wurden, und an die Strafe, die Gott der Herr ihnen geschickt hat.

Man berichtet auch, wenn der See ruhig daliege wie ein Spiegel, daß man durch das Wasser ganz unten in der Tiefe, Häuser, Dächer und Gäßlein sehen könne als Ueberreste des versunkenen Dorfes. Aber das erregt Schauder, und nur ganz wenige haben gewagt, so weit hinunterzublicken und jene geheimnisvollen Tiefen zu erforschen.

Dort, wo die Madonna jene heiligen Tränen geweint, sank die Erde nicht hinunter; es bildete sich ein Inselchen, so groß, daß ein Mensch darauf stehen konnte. Veilchen und Maiglöckchen erblühten dort immer. Mit der Zeit aber kamen neugierige Leute dorthin und wollten die Insel besuchen.

Und weil sie dadurch entweiht wurde, versank eines



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Tages auch dies Eiland in den See und verschwand in der Tiefe.

Das war das Schicksal des Dorfes Elio.

Hier endigte Angiolinas Erzählung zum großen Bedauern der kleinen Zuhörerin, die noch gerne, wer weiß wie lange, bei ihr gesessen hätte, um andere Geschichten zu vernehmen.


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