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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


ZUM GELEIT

Mit diesem Buch erscheint eine Auswahl von Sagen und Märchen aus dem Tessin, die ich im Laufe der vergangenen zwanzig Jahre unter dem Volke gesammelt und nach der Erzählung in ihrem heimischen Dialekt ins Deutsche übertragen habe.

Sagen und Märchen sind die Widerspiegelung der Phantasie- und Traumwelt einfacher Menschen, der Fischer am See. der Bauern im Tal, der Hirten und Aelpler auf den Bergen. Sie sind recht eigentlich die Literatur der kleinen Leute, die poesievollen Phantasiegebilde der Volksseele. Sie leben in der Stille der Dörfer, am Seeufer und auf den Alpweiden und gehen neben den Erzählungen der Kunstliteratur wie schlichte Bauernkinder einher. Sie sind das ungeschriebene, aber deshalb nicht weniger wertvolle Erzählgut, aus dem die hohe Dichtkunst nicht selten Stoff und Anregung empfängt. Sie sind anonym, gleich den alten Volksliedern, deren Verfasser und Komponist auch niemand kennt, denn das ganze Volk ist ihr Schöpfer. Sie werden vor dem Hause oder am flackernden Kaminfeuer im kleinen Kreise vorgebracht; die Mutter erzählt sie den Kindern, die Großmutter den Enkeln. So werden sie erzählend weitergegeben von Geschlecht zu Geschlecht und stellen ein ursprüngliches Volksgut dar, das uralte Vorstellungen bewahrt hat.

Während die Sagen mehr an bestimmte Oertlichkeiten



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gebunden sind und etwa von einer Schloßruine, einer alten Kapelle, einer Höhle oder einer Alpweide berichten, sind die Märchen beweglicher und freier und erzählen eher von allerlei Menschenschicksal.

Auf meiner Suche nach alten Volksliedern des Tessins gelangte ich einst an eine Bäuerin in Losone, die man mir als Kennerin alter Liederschätze empfohlen hatte. Sie erklärte mir aber, daß sie zu alt sei, um Lieder zu singen, dafür wolle sie mir aber einige Sagen erzählen. Und als wir abends am Kaminfeuer saßen und gebratene Kastanien aßen, erzählte sie mir die Legende vom «Lago d'Elio» und die Sage von den «Hundert Feldern».

Auf einer anderen Studienwanderung lernte ich Frau Luigia Carloni-Groppi in Rovio kennen, die eine Menge alter Märchen und Sagen wußte und mir ihre handschriftlichen Aufzeichnungen zur Verfügung stellte.

Weiteren Stoff für meine Sammlung, die damit angeregt war, fand ich in der Pieve Capriasca und im Val Colla, wobei mir die Herren Silvio Savi und Prof. Plinio Savi wertvolle Dienste leisteten. Auch von Herrn Giulio Genetelli in Preonzo und Frau Alberti-Mattei in Osogna, ferner aus dem Blenio-Tal, aus der Leventina und sogar aus dem abgelegenen Bedretto-Tal konnte ich manche alte Sage und manches Volksmärchen erhalten.

Einige der Märchen finden sich in ähnlicher Form auch bei andern Völkern oder klingen an bekannte Motive an. Ich habe sie aber gleichwohl in meine Sammlung aufgenommen, da sie in ihrer tessinischen Fassung doch ein bestimmtes Lokalkolorit besitzen. Ferner hat der Tessin naturgemäß manche Märchen mit Italien gemeinsam. Da ist dann viel vom blauen



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Meer und von abenteuerlichen Reisen die Rede. Andere dagegen haben deutlich die Tessiner Berglandschaft als Hintergrund. Sie erzählen vom Leben auf den Alpweiden, vom Käsebereiten in der Sennhütte, vom mühsamen Holzhacken in den Kastanienwäldern, vom Heuen an schroffen Felshängen, von der Oelmühle zuhinterst im Tal, vom Fischen am blaugrünen See. vom Hinabwandern mit der Gerla zum Markt, von den Spinnstubeten beim knisternden Kaminfeuer, aber auch vom Auswandern in ferne Länder und von der Heimkehr mit einem kleinen Sparbatzen. Auffallend viele Märchen fabulieren von einem unverhofft gefundenen Glück. Da wird etwa erzählt, wie ein armer braver Bauernbursche durch Klugheit und Tüchtigkeit viel Geld findet oder sogar eine Königstochter zur Frau gewinnt. Diese Sehnsucht nach einem sorgloseren Dasein ist begreiflich bei einem Volk, das hart arbeiten muß, um dem kärglichen Boden das zum Leben Nötige abzuringen. So entschädigt es sich für die Mühsal des Lebens wenigstens in seiner Phantasie, indem es von leicht errungenem Glücke träumt. Alle diese Sagen und Märchen spiegeln mehr oder weniger treu die Seelenregungen dieses schlichten, wackeren Bergvolkes wider, das zwar mit beiden Füßen tapfer auf dem Boden der Wirklichkeit steht, einer gemütvollen und phantasiereichen Fabulierlust aber ein weites Spielfeld gewährt.

Zum Schluß möchte ich meinem lieben Freund. Herrn Dr. Karl Bronner in Basel, meinen warmen Dank aussprechen für so manchen feinsinnigen Ratschlag und wertvollen Hinweis.

Dr. Walter Keller (Basel).


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