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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

UBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 2

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEN TIEREN UND DEM MENSCHEN

Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß in alter Zeit und in längst entschwundener Vergangenheit ein Pfau am Meeresgestade mit seinem Weibchen wohnte. Jene Gegend war die Heimat vieler Löwen, auch wohnten dort alle anderen anderen wilden wilden Tiere, Tiere, doch doch war war sie reich an Bäumen und an Bächen. Darum pflegte jener Pfau des Nachts mit seinem Weibchen auf einem der Bäume dort seine Zuflucht zu nehmen aus Furcht vor den wilden Tieren; am Morgen jedoch flogen die beiden fort, um den Tag über ihre Nahrung zu suchen. So lebten sie dahin, bis schließlich ihre Furcht so groß ward, daß sie nach einer anderen Wohnstätte suchten, zu der sie sich flüchten könnten. Und während sie nun auf der Suche nach einer solchen Wohnstatt waren, da tauchte plötzlich vor ihnen eine Insel auf, reich an Bäumen und Bächen. Dort, auf jener Insel, ließen sie sich nieder; sie aßen die Früchte der Bäume, die dort sprossen, und tranken aus den Bächlein, die dort flossen. Und während sie so friedlich lebten, kam plötzlich eine Ente auf sie zu; die war in großer Angst und lief rasch dahin, bis sie zudem Baume kam, auf dem die beiden Pfauen saßen, dann ward sie



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ruhiger. Da nun der Pfau nicht zweifelte, daß es mit jener Ente irgendeine sonderbare Bewandtnis habe, so fragte er sie, was es mit ihr sei und warum sie solche Angst habe. Sie antwortete: ,Ach, ich bin krank aus Kummer und Furcht vor dem Menschen! Darum hütet euch, und noch einmal, hütet euch vor den Menschenkindern!' Da sagte der Pfau: ,Fürchte dich nicht mehr, seit du bei uns bist!' ,Allah sei gepriesen,' rief die Ente, ,Er, der Kummer und Gram jetzt bei euch von mir nahm, da ich um eure Freundschaft zu gewinnen zu euch kam!' Als sie ihre Worte beendet hatte, flog das Pfauen weibchen zu ihr hinab und sprach zu ihr: ,Herzlich willkommen, sei uns gegrüßt und sei ohne Sorge! Wie sollte der Mensch zu uns gelangen können, da wir auf dieser Insel mitten im Meere sind! Hier vermag vom Lande her niemand zu uns zu kommen, und vom Meere aus kann uns keiner erkennen. Also sei gutes Muts, erzähle uns, was dir vom Menschen widerfahren und zugestoßen ist!' ,Wisse, o Pfauin,' erwiderte die Ente, ,ich habe auf dieser Insel mein lebelang in Sicherheit gewohnt, ohne daß mir etwas Widriges begegnet wäre. Aber neulich eines Nachts, als ich schlief, da sah ich im Traume die Gestalt eines Menschen; der redete mich an, und ich gab ihm Antwort. Doch dann hörte ich eine Stimme mir zurufen: .O du Ente, hüte dich vor dem Menschen, und laß dich nicht betören durch seine Worte und Einflüsterungen! Denn siehe, er ist voller Lug und Trug; drum hüte dich, ja, hüte dich, so sehr du kannst, vor seiner Arglist, denn er ist und bleibt voller Falsch und Verrat, so wie der Dichter von ihm gesungen hat:

Ergibt dir auf die Zunge Süßigkeiten;
Doch er beschleicht dich wie ein schlauer Fuchs.

Wisse auch, daß der Mensch den Fischen listig nachstellt und sie aus dem Meere herausholt, daß er die Vögel mit Lehmkugeln



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schießt und selbst die Elefanten durch seine List zu Falle bringt. Vor dem Unheil. das vom Menschen kommt, ist niemand sicher, und keiner entgeht ihm, weder Vogel noch Tier des Feldes. Nun habe ich dir zu wissen getan, was ich überden Menschen gehört habe!' Da erwachte ich aus meinem Traume mit Furcht und Zittern, und bis zu dieser Stunde kennt mein Herz keine Freude mehr, da ich immer in Todesangst bin, der Mensch könnte mich durch seine List zu Falle bringen und mich fangen mit seinen Schlingen. Als es dann Abend ward, erlahmte meine Kraft, und mein Mut ward erschlafft. Da es mich aber nach Speise und Trank verlangte, so ging ich betrübten Sinnes und bedrückten Herzens weiter. Als ich zu jenem Berge dort kam, traf ich beim Eingang einer Höhle einen jungen Löwen von gelber Farbe. Der freute sich sehr, als er mich sah; ihm gefiel mein buntes Farbenkleid und meiner Gestalt Anmutigkeit, und so rief er mich an und sprach: ,Komm herzu mir!' Als ich zu ihm gekommen war, fragte er mich: ,Wie heißt du, und zu welchem Stamme gehörst du?' ,Ich heiße Ente,' erwiderte ich, ,und ich gehöre zum Stamme der Vögel.' Dann fuhr ich fort: ,Warum sitzest du zu dieser Zeit an diesem Orte?' Der Löwe antwortete mir: ,Das tu ich, weil mein Vater, der Löwe, mich vor einigen Tagen vor dem Menschen gewarnt hat. Und gerade in der letzten Nacht habe ich im Traume die Gestalt eines Menschen gesehen.' Nun erzählte mir der junge Löwe das gleiche, was ich dir erzählt habe. Als ich seine Worte vernommen hatte, sprach ich zu ihm: ,O Löwe, siehe, ich nehme meine Zuflucht zu dir, auf daß du den Menschen tötest und fest bleibst in deinem Entschlusse, ihm den Garaus zu machen. Ich bin ja in furchtbarer Angst vor ihm um mein Leben, und meine Furcht ist noch fürchterlicher geworden, da du dich sogar vor ihm fürchtest, obgleich du der König der wilden Tiere bist.'



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Ohne Unterlaß, liebe Schwester, warnte ich den Jungleu vor dem Menschen und legte ihm ans Herz, ilm zu töten, bis er schließlich jählings von seiner Lagerstätte aufsprang, dahinlief, während ich ihm folgte, und den Rücken mit dem Schwanze peitschte. So liefen wir immer weiter, er voran und ich hinterdrein, bis zu einer Wegkreuzung. Da sahen wir, wie eine Staubwolke aufstieg, und als dann der Staub sich weiter emporhob, erschien darunter ein Esel. der ohne Sattel und Zaum entlaufen war; bald sprang er und lief, bald wälzte er sich auf der Erde. Wie der Löwe ihn sah, rief er ihn an. Da kam der Esel demütig herbei, und der Löwe sprach zu ihm: ,O du dummes Vieh, zu welchem Stamme gehörst du, und warum bist du hierher gelaufen?' Jener antwortete: ,Königssohn, ich bin vom Stamme der Esel, und ich bin hierher gelaufen, um mich vor dem Menschen zu flüchten.' Da fuhr der junge Löwe fort: ,Fürchtest du denn, daß der Mensch dich tötete' ,Das nicht, o Königssohn,' erwiderte der Esel, ,aber ich fürchte, daß er mich überlistet und mich reitet. Denn er hat etwas, das nennt er Sattel. und das will er mir auf den Rücken legen; und etwas, das nennt er Gurt, und das schnürt er mir um den Bauch: und etwas, das nennt er Schwanzriemen, und das legt er mir unter den Schwanz; und etwas, das nennt er Zaum, und das legt er mir ins Maul. Auch macht er für mich einen Stachel, mit dem sticht er mich und zwingt er mich, daß ich über meine Kraft laufe. Wenn ich strauchle, verflucht er mich; und wenn ich brülle, schimpft er mich. Und wenn ich dann alt werde und nicht mehr laufen kann, legt er auf mich einen Packsattel aus Holz und überliefert mich den Wasserholern; die laden dann Wasser aus dem Flusse auf meinen Rücken in Schläuchen und ähnlichen Dingen, wie Krügen. So lebe ich immer dahin in Niedrigkeit, Verachtung und Mühsal, bis ich sterbe; dann wirft man mich auf die Schutthaufen



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zum Fräße für die Hunde. Was kann schlimmer sein als solches Leid? Welches Unglück größer als dies?'

Als ich, o Pfauin, die Worte des Esels gehört hatte, überlief es mich wie eine Gänsehaut beim Gedanken an den Menschen. und ich sprach zu dem jungen Löwen: ,Hoher Herr, der Esel ist wahrlich zu entschuldigen, und seine Worte haben meine Angst noch furchtbarer gemacht.' Der junge Löwe aber fragte den Esel: ,'Wohin läufst du denn jetzt?' ,Wisse,' erwiderte der Esel, ,ich erblickte den Menschen vor Sonnenaufgang aus der Ferne, da floh ich eilends vor ihm. Jetzt suche ich die Freiheit; ich will in meiner großen Furcht vor ihm immer weiter davonlaufen, vielleicht finde ich dann eine Stätte, die mir gegen den treulosen Menschen Schutz gewährt.'

Während jener Esel noch mit solchen Worten zu dem Jungleuen sprach, um von uns Abschied zu nehmen und dann weiterzulaufen, da stieg wieder eine Staubwolke vor uns auf. Nun brüllte der Esel und schrie, schaute nach der Richtung der Staubwolke hin und ließ einen lauten Wind streichen. Nach einer Weile aber zerteilte sich die Staubwolke und enthüllte einen Rappen, ein edles Roß, mit einer Blesse wie ein Dirhem groß; lieblich und zart waren die weißen Flecken jenes Rappen auf Stirn und an den Hufen, schön waren seine Beine und sein wieherndes Rufen. Er hörte nicht eher auf zu rennen, als bis er vor dem Welfen. dem Sohne des Löwen, stand. Als der ihn anschaute, bewunderte er seine Größe und sprach zu ihm: ,Von welchem Stamme bist du, du herrliches wildes Tier, und weshalb rennst du so ziellos in der weiten, breiten Steppe hier?' ,O Herr der wilden Tiere,' erwiderte jener, ,ich bin ein Roß, vom Stamme der Pferde; und ich renne so ziellos, weil ich vor dem Menschen fliehe.' Verwundert über diese Worte des Rappen rief der Jungleu: ,Sprich doch nicht solche Worte, denn die



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sind eine Schmach für dich, da du so groß und stark bist! Wie kannst du dich denn nur vordem Menschen fürchten, obgleich du einen so starken Leib hast und so schnell läufst? Ich, der ich so klein bin, ich war entschlossen, dem Menschen entgegenzutreten, mich auf ihn zu stürzen und sein Fleisch zu fressen, auf daß ich der Angst dieser armen Ente ein Ende mache und sie in Frieden in ihrer Heimat wohnen lasse! Doch nun, da du hierher gekommen bist, hast du mir durch deine Worte das Herz zerrissen und hast mich von meinem Vorhaben abgebracht; denn dich hat der Mensch trotz deiner Stärke überwältigt, ja, er hat sich vor deiner Größe und Breite nicht gefürchtet, obwohl du ihn mit einem Schlage deines Hufes töten und ihm den Todesbecher zu trinken geben könntest, ohne daß er etwas wider dich vermöchte.' Wie der Rappe diese Worte des jungen Löwen vernahm, lachte er und sprach: ,Bei weitem, bei weitem kann ich ihn nicht überwinden, o Sohn des Königs! Meine Größe, meine Breite, meine Stärke mögen dich nicht über den Menschen täuschen! In seiner großen Arglist und Tücke macht er mit mir etwas, das nennt er Fußfesseln; und dann legt er an meine vier Beine ein Paar Fesseln aus Palmfaserstricken, die mit Filz umwunden sind, und ferner bindet er mich mit meinem Kopfe an einen hohen Pflock, so daß ich gebunden stehen bleiben muß, ohne daß ich mich hinlegen und schlafen kann. Wenn er auf mir reiten will, so legt er sich eiserne Dinge an seine Füße, die heißen Steigbügel, und auf meinen Rücken legt er etwas, das er Sattel nennt und das er durch zwei Gurte unter meinem Bauche festbindet, und in meinen Mund legt er ein eisernes Ding, das er Gebiß nennt und an dem er ein ledernes Ding befestigt, das Zügel heißt. Reitet er dann auf meinem Rücken im Sattel, so packt er den Zügel mit der Hand und lenkt mich damit und drückt mir die Spitzen der Steigbügel in



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die Flanken, bis sie bluten. Frage nicht, o Sohn des Sultans, nach alledem, was ich von dem Menschen erdulden muß !Wenn ich alt werde und mein Rücken abmagert und ich nicht mehr rasch laufen kann, so verkauft er mich dem Müller. auf daß er mich die Mühle drehen lasse; dann muß ich immerfort, Tag und Nacht, um die Mühle laufen, bis ich ganz altersschwach bin. Schließlich verkauft er mich an den Schinder. der mich dann schlachtet, mir das Fell abzieht und mir den Schwanz auszieht und beides den Verfertigern der groben und feinen Siebe verkauft, während er selbst mein Fett ausschmilzt.' Als der junge Löwe die Worte des Pferdes gehört hatte, ward er noch zorniger und erregter, und er fragte: ,Wann hast du den Menschen verlassen?' Das Pferd antwortete: ,Ich habe ihn um Mittag verlassen, und er folgt meiner Spur.'

Während der Jungleu sich noch in dieser Weise mit dem Rappen unterhielt, da wirbelte plötzlich eine neue Staubwolke auf. Alsbald aber zerteilte sie sich, und aus ihr trat ein wildgewordenes Kamel hervor; das brüllte und schlug mit seinen Hufen auf die Erde und hörte damit erst auf, als es bei uns anlangte. Wie der junge Löwe sah, daß es so groß und stark war, vermeinte er, es sei der Mensch, und er wollte schon gerade darauflos springen, aber da rief ich ihm zu: ,O Sohn des Sultans, dies ist nicht der Mensch! Dies ist ein Kamel, und es scheint, daß es vor dem Menschen flieht.' Während ich, liebe Schwester, so zu dem jungen Löwen sprach, trat das Kamel vor ihn hin und begrüßte ihn. Jener gab ihm den Gruß zurück und fragte dann: ,Weshalb kommst du hierher?' Das Kamel erwiderte: ,Ich komme hierher auf der Flucht vor dem Menschen.' Da hub der Löwe an: ,Du, bei deiner mächtigen Gestalt und bei deiner Größe und Breite, wie kannst du dich vor dem Menschen fürchten? Du könntest ihm doch mit einem einzigen



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Tritt deines Hufes den Garaus machen!' ,Sohn des Sultans.' antwortete das Kamel, ,wisse, der Mensch hat Listen, die niemand kennt, und nichts überwindet ihn als der Tod. Er zieht mir einen Strick durch die Nase, den nennt er Nasenring, wirft mir ein Halfter über den Kopf und übergibt mich dem kleinsten seiner Kinder; dann zieht mich das kleine Kind an dem Stricke dahin, trotzdem ich so groß und kräftig bin. Auch legt man mir die schwersten Lasten auf und macht weite Reisen mit mir, und man verwendet mich Tag und Nacht hindurch als schwergeplagtes Arbeitstier. Bin ich aber alt und schwach geworden, oder ist meine Kraft gebrochen, so behält er mich nicht mehr bei sich, sondern verkauft mich an den Schlachter, der mir dann den Hals abschneidet und mein Fell an die Gerber und mein Fleisch an die Garköche verschachert. Drum frage nicht mehr nach dem, was ich von dem Menschen erdulden muß!' Nun fragte der Löwe: ,Zu welcher Zeit hast du den Menschen verlassene' Das Kamel erwiderte: ,Zur Zeit des Sonnenunterganges. Und ich glaube, wenn er nach meiner Flucht kommt und mich nicht findet, io wird er mich eilends suchen. Also laß mich, o Sohn des Sultans, in die Steppen und Wüsten flüchten!' ,Warte ein wenig, o Kamel,' sagte der Löwe darauf, ,auf daß du siehst, wie ich ihn zerreiße und dir von seinem Fleisch zu essen gebe, seine Knochen zerbreche und sein Blut trinke!' Doch das Kamel sprach: ,Sohn des Sultans, ich bin um dich besorgt wegen des Menschen, denn er ist voll Tücke und Verschlagenheit.' Dann fügte es noch das Dichterwort hinzu:

Kehrt der Bedrücker ein in eines Volkes Land,
So bleibet den Bewohnern nichts als fortzuziehn.

Während das Kamel diese Worte zu dem jungen Löwen sprach, stieg wiederum Staub auf. Nach einer Weile verzog er sich, und da erschien ein alter Mann, klein und von hagerer Gestalt,



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der auf seiner Schulter einen Korb mit Zimmermannsgerät und auf dem Kopfe einen Ast und acht Bretter trug, und der kleine Kinder an der Hand führte. Er trottete seines Weges dahin und blieb erst stehen, als er nahe bei dem Löwen war. Doch wie ich ihn erblickte, liebe Schwester, da fiel ich vor Schrecken um; aber der junge Löwe machte sich auf und ging ihm entgegen, und als er bei ihm war, lächelte der Zimmermann ihn an und sprach zu ihm mit beredter Zunge: ,O königliche Majestät, deren Herrschaft in weite Fernen geht, möge Allah dir Glück am heutigen Abend geben und in all deinem Streben, er mehre deine Tapferkeit und stärke dein Leben! Schütze mich vor dem, was mich ereilt hat und mir ein schweres Los zugeteilt hat! Denn ich habe keinen Helfer außer dir.' So stand der Zimmermann vor dem Löwen und weinte, seufzte und klagte. Als aber der Jungleu sein Weinen und Klagen hörte, sprach er zu ihm: ,Ich will dich schützen gegen das, was du fürchtest. Wer hat dir denn unrecht getane Und was bist du, o Tier, dessengleichen ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, du, der du die schönste Gestalt und die beredteste Zunge hast, die mir je begegnet sind? Was ist's mit dir?' Da antwortete der Zimmermann: ,O Herr der wilden Tiere, ich selbst bin ein Zimmermann; der aber, der mir unrecht getan hat, das ist der Mensch. Der wird am Morgen, der auf diese Nacht folgt, auch bei dir sein, hier an dieser Stätte!' Als der junge Löwe diese Worte von dem Zimmermann vernahm, ward das helle Tageslicht finster vor seinem Angesicht, und er pfauchte und schnaubte, seine Augen sprühten Funken, und er brüllte laut: ,Bei Allah, ich will diese Nacht hindurch bis zum Morgen wachen, und ich will nicht eher wieder zu meinem Vater gehn, als bis ich die Erfüllung meines Zieles gesehn!' Zu dem Zimmermann gewandt aber sprach er: ,Fürwahr, ich sehe, daß



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deine Schritte kurz sind. Es ist mir aber nicht möglich, dich zu betrüben, da ich großmütig bin; und weil ich nun meine, daß du mit den wilden Tieren nicht Schritt halten kannst, so sage mir, wohin du gehst.' ,Wisse,' erwiderte der Zimmermann, ,ich bin auf dem Wege zum Wesir deines Vaters, dem Panther; denn als ihm berichtet wurde, daß der Mensch diese Gegend betreten habe, geriet er in große Furcht um sein Leben, und er schickte eins der wilden Tiere als Boten zu mir, damit ich ihm ein Haus mache, in dem er wohnen und eine Zuflucht finden könne, und das ihn vor seinem Feinde schütze, so daß keines der Menschenkinder ihm zu nahen vermöge. Und als der Bote zu mir kam, nahm ich diese Bretter und machte mich auf den Weg zu ihm.' Bei diesen Worten des Zimmermanns packte den Löwen der Neid gegen den Panther, und er rief: ,Bei meinem Leben, es geht nicht anders, du mußt mir aus diesen Brettern ein Haus machen, ehe du dem Panther sein Haus machst. Wenn du dann mit der Arbeit für mich fertig bist, so geh zum Panther und mache für ihn, was er haben will!' Wie der Zimmermann den Löwen also sprechen hörte, fuhr er fort: ,O Herr der wilden Tiere, ich darf jetzt nichts für dich machen; erst wenn ich für den Panther gemacht habe, was er verlangt, dann werde ich kommen, um dir zu Diensten zu sein, und werde dir ein Haus zimmern, das dich vor deinem Feinde beschützt.' Aber der Jungleu rief: ,Bei Allah, ich lasse dich nicht von dieser Stätte gehen, bis du mir aus diesen Brettern ein Haus machst!' Darauf duckte er sich vor dem Zimmermann, sprang auf ihn zu und wollte mit ihm scherzen; dabei schlug er mit seiner Tatze nach ihm und warf den Korb von seiner Schulter herunter. Ohnmächtig fiel der Zimmermann nieder; da lachte der Löwe über ihn und sprach: ,Du Zimmermann da, du bist wirklich schwach und hast keine Kraft; darum ist es auch entschuldbar,



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wenn du dich vor dem Menschen fürchtest.' Wie aber der Zimmermann auf den Rücken gefallen war, ergrimmte er heftig; doch er ließ es den Löwen nicht merken aus Furcht vor ihm, und so erhob er sich wieder, lächelte den Löwen an und sprach zu ihm: ,Siehe da, ich will dir das Haus machen.' Darauf nahm er die Bretter, die er bei sich hatte, und nagelte das Haus zusammen, und zwar machte er es so groß, daß es gerade für das Maß des Löwen paßte. Die Tür ließ er auf; denn er hatte das Ganze nach Art einer Kiste gemacht, in der er eine weite Öffnung gelassen hatte, und für diese Öffnung machte er einen großen Deckel, durch den er viele Löcher bohrte. Nachdem er dann noch neue Nägel durch die Löcher getrieben hatte, sprach er zu dem Löwen: ,Geh durch diese Öffnung in das Haus da hinein, damit ich es deiner Größe anpasse!' Erfreut trat der Löwe an jene Öffnung heran, doch er fand, daß sie eng war. Da sagte der Zimmermann zu ihm: ,Geh nur hinein, aber kauere dich nieder auf deine vier Füße!' Das tat der Löwe; doch als er in der Kiste war, blieb sein Schwanz zuletzt draußen. Nun wollte er wieder rückwärts hinauskriechen; aber der Zimmermann rief: ,Warte und gedulde dich, bis ich sehe, ob nicht auch dein Schwanz noch bei dir Platz hat!' Der junge Löwe gehorchte der Weisung; darauf rollte der Zimmermann den Löwenschwanz auf, stopfte ihn in die Kiste, und eilends legte er den Deckel über die Öffnung und nagelte ihn fest. Da schrie der jungleu: ,Zimmermann, was ist das für ein enges Haus, das du für mich gemacht hast? Laß mich wieder hinaus!' Aber der Zimmermann rief: ,Das sei ferne, ferne gar sehr! Wenn etwas geschehen ist, nützt Reue nichts mehr. Du wirst aus dieser Kiste nicht wieder herauskommen.' Dann lachte er auf und fuhr fort: ,Fürwahr, du bist in den Käfig gegangen! Du kommst nie wieder heraus aus dem engen Haus, du gemeinstes aller



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wilden Tiere!' ,Lieber Bruder,' erwiderte jener, ,was sind das für Worte, die du an mich richtest?' Doch der Zimmermann fuhr fort: ,Wisse, du Hund der Wüste, du bist dem Schicksal verfallen, das du fürchtetest. Das Unheil ist über dich gekommen. und Vorsicht wird dir nicht mehr frommen.' Als der junge Löwe seine Worte vernahm, da wußte er, o meine Schwester, daß jener der Mensch war, vor dem ihn sein Vater im Wachen und die geheimnisvolle Stimme im Traume gewarnt hatte; und auch ich war gewiß, daß er es war -das stand fest, und daran war kein Zweifel. Nun war ich um seinetwillen sehr um mein Leben besorgt; ich entfernte mich ein wenig von ihm und begann zu beobachten, was er mit dem jungen Löwen tun würde. Da sah ich, liebe Schwester, wie der Mensch eine Grube grub, dort an jener Stätte, dicht bei der Kiste, darin der Jungleu war; die warf er dann in die Grube, legte Brennholz darüber und verbrannte alles im Feuer. Ach, meine Schwester, da wurde meine Furcht gewaltig groß, und jetzt fliehe ich in meiner Angst schon seit zwei Tagen vor dem Menschen.'

Als aber die Pfauenhenne diese Worte von der Ente vernommen hatte. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 147. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Pfauenhenne, als sie diese Worte von der Ente vernahm, sich über die Maßen verwunderte und sprach: ,Schwester, hier bist du sicher vor dem Menschen; denn wir leben auf einer Insel des Meeres, zu der es für den Menschen keinen Weg gibt. So wähle denn deinen Wohnsitz bei uns, bis Allah dein und unser Schicksal erleichtert!' Doch die Ente erwiderte: ,Wahrlich, ich fürchte. daß mich ein Unglück ereilt zu nächtlicher Zeit -ach, vom



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Schicksal wird niemand, wenn er auch flüchtet, befreit!' ,Bleib nur bei uns,' bat die Pfauenhenne, ,und sei wie wir!' Und sie ließ nicht eher von ihr ab, als bis sie wirklich blieb. Da sagte die Ente: ,Liebe Schwester, du weißt ja, wie wenig Ausdauer ich habe; hätte ich dich nicht hier getroffen, ich wäre nicht geblieben.' Die Pfauenhenne aber sagte: ,Wenn uns etwas auf der Stirn geschrieben steht, so muß es sich an uns erfüllen. Und wenn unser letztes Stündlein naht, wer will uns dann retten? Doch keine Seele stirbt, bevor sich ihr Maß an Glück und Lebenszeit erfüllet!'

Während die beiden in dies Gespräch vertieft waren, da stieg wiederum vor ihnen eine Staubwolke auf. Bei diesem Anblick schrie die Ente laut auf, lief zum Meere hinab und rief: ,Seid auf der Hut, seid auf der Hut -, auch wenn es kein Entrinnen gibt vor dem, was dem Geschicke beliebt!' Nach einer Weile aber tat die Staubwolke sich auf, und es trat eine Antilope aus ihr hervor. Da beruhigten die Ente und die Pfauenhenne sich, und die Pfauin sprach zu der Ente: ,Liebe Schwester, das, was du sahst und vor dem du warntest, ist ja eine Antilope; sieh, dort kommt sie auf uns zu, und von ihr droht uns nichts Böses. Denn sie frißt nur von den Gräsern, die auf der Erde wachsen, und wie du zum Stamme der Vögel gehörst, so gehört sie zum Stamme der Tiere des Feldes. Drum beruhige dich und sei unbesorgt; denn die Sorge verzehrt den Leib.' Noch hatte die Pfauin ihre Worte nicht beendet, da kam die Antilope schon bei ihnen an, um sich im Schatten des Baumes auszuruhen. Als sie aber die Pfauenhenne und die Ente sah, begrüßte sie die beiden und sprach zu ihnen: ,Seht, ich bin erst heute zu dieser Insel gekommen, und noch nie habe ich eine Gegend gesehen, die reicher an Graswuchs oder schöner zu bewohnen wäre.' Darauf bat sie die beiden, mit ihr gut Freund zu werden. Als die Ente und die Pfauin ihre Freundlichkeit gegen sie sahen,



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traten sie beide an sie heran und begannen zu wünschen, mit ihr befreundet zu werden. Nun schworen sie alle einander treue Freundschaft; und hinfort brachten sie die Nächte an derselben Stätte zu, und sie aßen und tranken gemeinsam. Und immerdar aßen und tranken sie in Sicherheit, bis eines Tages ein Schiff dort vorbeikam, das auf dem Meere seinen Kurs verloren hatte. Es ging nahe bei ihnen vor Anker, die Mannschaft ging an Land und zerstreute sich auf der Insel. Bald erblickten jene Leute die Antilope, die Pfauenhenne und die Ente beieinander und gingen auf sie zu. Als die Pfauenhenne sie sah, flog sie auf den Baum hinauf und dann durch die Luft davon; die Antilope flüchtete in die Steppe, nur die Ente blieb wie gelähmt stehen. Da jagten die Leute sie, bis sie sie gefangen hatten; sie aber rief: ,Die Vorsicht hat mir nichts gefrommt gegen das Verhängnis, das vom Schicksal kommt.' Dann gingen sie mit ihr zu ihrem Schiffe zurück. Als die Pfauenhenne sah, was der Ente widerfahren war, wollte sie die Insel verlassen; denn sie sagte sich: ,Ich sehe, das Unheil lauert doch auf jeden einzelnen. Wäre dies Schiff nicht gewesen, so wäre die Trennung nicht zwischen mich und diese Ente getreten; ach, sie war ja die treueste Freundin!' Dann flog sie davon und traf wieder mit der Antilope zusammen; jene begrüßte sie, wünschte ihr Glück zur Errettung und fragte sie nach der Ente. Da gab sie zur Antwort: ,Der Feind hat sie ergriffen; jetzt mag ich nicht mehr auf dieser Insel bleiben, seit sie dahin ist.' Dann weinte sie über ihre Trennung von der Ente und sprach den Vers:

Fürwahr, der Trennungstag hat mir das Herz zerrissen.
Zerreiße Allah nun das Herz dem Trennungstage!

Darauf sprach sie noch diesen Vers:

Ich wünsch, das Wiedersehn mög eines Tages kommen;
Dann will ich ihm erzählen, was die Trennung tat.
'a



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Die Antilope ward nun tiefbetrübt; doch sie erreichte es durch ihre Bitten, daß die Pfauenhenne ihren Entschluß, fortzuziehen. aufgab und bei ihr blieb. Beide aßen und tranken darauf wieder in Sicherheit; doch trauerten sie immerdar um die Trennung von der Ente. Einst sprach die Antilope zur Pfauin: ,Liebe Schwester, du weißt ja, die Leute, die zu uns aus dem Schiffe kamen, die haben unsere Trennung von der Ente und ihren Tod verursacht. Sei also stets auf der Hut vor ihnen, und nimm dich in acht vor der Arglist und der Tücke der Menschenkinder!' Doch die Pfauenhenne sprach: ,Ich weiß bestimmt, daß sie nur deshalb umkam, weil sie es unterließ, Gott zu preisen. Ich habe ihr doch gesagt: Sieh, ich bin um dich besorgt, weil du Gott nicht preisest; denn jedes Geschöpf Allahs preist Ihn, und das Unterlassen des Lobpreises wird mit dem Tode bestraft.' Als die Antilope die Worte der Pfauenhenne vernommen hatte, rief sie aus: ,Allah lasse deine Gestalt immerdar schön sein!' Dann begann sie Gott zu preisen und ließ keine Stunde mehr davon ab. Es wird aber gesagt, daß die Antilope bei ihrem Lobpreise ruft: ,Preis sei Ihm, der da straft und belohnt, der in Macht und in Herrlichkeit thront!'

Es wird auch überliefert


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