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Kapitel 

Schweizerisches

Sagenbuch.


Nach

müdlichen Ueberlieferungen, Chroniken und andern gedrukten and handschriftlichen Quellen herabgegeben


und mit

erläuternden Anmerkungen begleitet von


C. Kohlrusch.

Leipzig,

Rob. Hoffnann

1854.


14. Ein Geistlicher begegnet einer verdammten Marquisin.


I. R. Wyß, Reise in das berner Oberland.

Nicht weit vom Rhone-Gletscher begegnete einem frommen Geistlichen einstmals die Gestalt eines reizenden Weibes, welche



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ihm sagte, sie sei eine Marquisin, welche auf 3000 Jahre unter die Eiskuppe jenes Gletschers, noch mit vielen andern verbannt sei, welche wie sie, ihre Tage in zügelloser Ueppigkeit verlebt hätten.

Der Glaube an das gespenstische Umgehen Verstorbener, ihr Gebanntsein an gewisse Orte zur Strafe für lasterhaften Lebenswandel hängt in engem Zusammenhange mit dem Glauben an die Unsterblichkeit und der Vorstellung von dem Zustande der Seelen nach dem Tode. Schon das heidnische Alterthum hatte die Meinung, die Geister der unbestattet gebliebenen Todten erschienen den Ueberlebenden, um sie an das Begräbniß ihrer irdischen Hülle zu mahnen; als strafende Vergeltung böser Thaten aber dachte sich das gespenstische Erscheinen der Todten erst der Aberglaube des Mittelalters . der diese Vorstellung aus den Lehren der alten christlichen Kirche und ihrer symbolischen Darstellung der Hölle schöpfte, mit der man sich hauptsächlich im vierten und fünften Jahrhundert beschäftigte und die Anlaß zu verschiedenen Meinungsäußerungen gab. So lag sie nach der Lehre des heiligen Chrysostomus außer der Welt, während sie der heilige Augustin in das Innere der Erde verlegte und ihre Oeffnungen die Vulkane sein ließ. Hier wurden die Seelen der Verstorbenen von Feuer hauchenden Engeln, von glühender, aber weder flammender noch leuchtender Hitze, von giftigen und fressenden Thieren, pestilenzialischen Ausdünstungen, von Eis und Kälte und anderen Martern gequält, welche Bilder die Hauptbasis der in unsern Volkssagen so häufig vorkommenden mit den Seelen der Dahingeschiedenen bevölkerten Schreckensorte sind, von denen diese Sammlung verschiedenartige Beispiele anzuführen hat. (S. S. 35 Nr. 8, S, 80 Nr. 39 u. 40, S. 81 Nr. 41, S. 162 Nr. i, S. 185 Nr. 11, S. 202 Nr. 3 ec. ec.) War man aber über den Ort, wo die Hölle sei, nicht einer Meinung, so herrschten auch über die Dauer der Höllenstrafen zweierlei Ansichten. Nach den Einen waren sie ewig, nach den Andern nicht. Dies währte bis in das fünfte Jahrhundert, in welchem die erstere Meinung die Oberhand gewann, die Kirche aber neben der Hölle noch das Fegfeuer erfand, in welchem die weniger verdammlichen Sünder bis zum Einbruch des jüngsten Gerichts eine peinliche Läuterung bestehen, die jedoch auch durch Fürbitte der Lebenden, hauptsächlich aber durch Messelesen verkürzt und gemildert werden kann — eine Lehre, welche dem Gespensterglauben neue Nahrung gab, indem sie durch die tagtäglich dem Volk in Bild und Wort vor Augen gerückten Leiden und Martern der im Fegfeuer auf Erlösung harrenden Dahingeschiedenen die Phantasie desselben erhitzte, in der nun die Geister der Verstorbenen, die



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Lebenden um Hülfe und Erlösung flehend, uner allen möglichen Gestalten auftauchten und so Anlaß zu allen jenen Erzählungen gaben, welche, zumeist mit heidnisch -mythischen Anklängen vermischt, einen Haupttheil unserer Volkssage bilden. Daß sich das schweizerische Volk die Firnen und Eisfelder seiner Gletscher gewöhnlich als Aufenthaltsort seiner Geister und Gespenster denkt, liegt in der Natur des Landes, ebenso wie, daß der Südländer seinen Vesuv und Aetna und der Nordländer die Dünen des Meeres mit ihnen bevölkert. Als ein anderes Beispiel gespenstischen Umgehens nach dem Tode reihe sich hier noch folgende freiburgische Sage an:


Die vier gespenstischen Sennen und ber Gemsjäger.


Bridel, Conservateur suisse Nr. XLIII. 1825.

Ein Jäger, einst auf der Gemsjagd auf dem Moleson von der Nacht überrascht, suchte, da es zu spät zur Heimkehr war, eine auf der Seite des Berges liegende Sennhütte auf. Da es schon Ende Herbst war und sämmtliche Sennen mit ihren Heerden längst zu Thal gezogen, war er nicht wenig überrascht, als er, jener Hütte sich nähernd, Stimmen und das Geläute von Kuhglocken vernahm. Neugierig trat er in die Hütte ein, wie aber war er erstaunt, als er vier Sennen in derselben antraf, welche er noch niemals in seinem Leben gesehen und von denen einer einäugig und einer lahm, der dritte aber auf Rücken und Brust einen Höcker hatte, während der vierte den Aussatz zu haben schien; alle vier aber waren gelb von Gesicht und runzlicht wie altes Pergament, dabei fehlte jedem der zweite und dritte Finger an der rechten Hand. Ihre Sprache, dem Jäger gänzlich unverständlich, glich dem Gekrächze der Raben zur Winterszeit. Nachdem sie den neuen Ankömmling einige Zeit von der Seite betrachtet hatten, luden sie ihn ein, auf einem dicken Holzblock in der Nähe des Feuers Platz zu nehmen. Dieser, obschon es ihm etwas unheimlich um's Herz war, folgte der Einladung , b hielt aber zur Sicherheit die Büchse zwischen den Beinen. Dies schien die Sennen wenig zu kümmern, ungestört fuhren sie in ihrer Arbeit fort. Erst machte man Käse, dann Zieger, von welchem sich schon ein Vorrath auf einem Balken der Hütte aufgerichtet vorfand. Als die Arbeit beendet, bot der Bucklige dem Jäger Brod und ein Stück Kuhfleisch an. Dieser, da er sehr hungrig, nahm das Angebotene, zog sein Messer aus der Tasche und schnitt sich von dem Fleisch einen Bissen ab, der Bissen war nicht größer als eine Fingerspitze; da jedoch sein Geschmack sehr fade war, murmelte der Jäger, wie man das häufig zu thun pflegt, wenn einem die Mahlzeit nicht mundet, still vor sich hin : das Salz fehlt. Kaum waren aber diese Worte über seine Lippen, so fingen die vier Sennen an auf



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schreckliche Art mit ihren Zähnen zu fletschen und den Jäger mit Blicken zu betrachten, als ob sie ihn verschlingen wollten. Da kam diesem die Idee, daß er nicht mit Christen sei, sich allen Heiligen empfehlend, machte er schnell das Zeichen des Kreuzes und plötzlich war Alles verschwunden , Sennen und Kühe, der Jäger war allein in der stockfinstern Hütte. Als er sich von dem gehabten Schrecken etwas erholt, warf er sich auf einen Haufen Heu, den er umhertappend in einer der Ecken der Hütte vorfand. Schlaf aber kam nicht in seine Augen. Am Morgen erst sah er, daß was er für Heu gehalten, ein Haufen Asche war und an der Stelle der Käse und der Zieger auf dem Balken der Hütte, die er am Abend vorher bemerkt, trockener Mörtel und faules Holz. Eiligst verließ er die Hütte und wendete seine Schritte dem Heimweg zu. Auf halbem Wege kam ihm einer seiner Knaben mit dem Rufe entgegen: Vater, denk' was diese Nacht mit Meriau (Miroir, der Spiegel, hier Name einer Kuh) vorgegangen, an dem linken Schenkel fehlt ihr ein Stück Fleisch, groß wie eine Fingerspitze! Da wußte der Jäger woran er war, ohne Zweifel war dies das Stück Fleisch, was er am vergangenen Abend in der Hütte auf dem Moleson gegessen, die Gespenster aber, so erzählte ihm später ein alter Mann aus seinem Orte, waren die Geister eines Kühers, der durch ein falsches Testament die Alp, auf der jene Hütte stand, sich anzueignen gewußt, und die seiner drei Zeugen, welche, durch Geld bestochen, wie er fälschlich geschworen, das Testament sei wahr, daher den vier Meineidigen auch die Schwurfinger gefehlt hätten.
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