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Kapitel 

Schweizerisches

Sagenbuch.


Nach

müdlichen Ueberlieferungen, Chroniken und andern gedrukten and handschriftlichen Quellen herabgegeben


und mit

erläuternden Anmerkungen begleitet von


C. Kohlrusch.

Leipzig,

Rob. Hoffnann

1854.


10. Die Sage von der Königin Bertha.


Nach L. Vulliemin, der Kanton Waat, S. 17 und andern Quellen.

Im X. Jahrhundert herrschte über das Königreich Burgundien , zu dem damals auch das Waatland zählte, eine Königin, Namens Bertha. Das Volk nannte sie nur die Spinnerin oder die Demüthige, wie noch heute zu Peterlingen unter ihrem Bilde auf der Mauer der alten Kirche steht. Beide Namen gebührten ihr mit Recht, denn sie wohnte weder in einem prächtigen Palast, noch war sie von einem glänzenden Hofstaat umgehen, noch schmückte sie sich mit Edelstein und güldenen Gewändern, wie die Königinnen unserer Tage pflegen; einfach und demüthig wie die Hausfrau, von der die heilige Schrift sagt: "Sie steckt ihre Hand nach dem Rocken und ihre Finger fassen die Spindel; sie breitet ihre Arme aus ;u den Armen und reicht ihre Hände den Dürftigen" -so zog sie, den Rocken vor sich, auf ihrem Zelter



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spinnend durch ihr Reich und schlug bald dort, bald hier auf einem Bauernhöfe oder auf einer ihrer Meiereien, deren Ertrag sie auf das Genaueste bis auf die Eier im Hühnerstall kannte, ihr Nachtquartier auf. Eine wahre Mutter des Volkes frug sie aber auf solchen Zügen nicht nur dem Wohl und Wehe ihrer Landeskinder nach, sondern sie trieb auch da, wo sie Trägheit und nachlässiges Gebahren sah, mit mütterlicher Strenge zur Arbeit und rüstigerem Handeln an, so daß sich überall der Wohlstand des Landes mehrte und den zu seinem Flore nöthigen Lasten und Steuern, welche Königin Bertha nach seinem Ertrage vertheilte, ohne Mühe und Beschwerde nachgekommen werden konnte. Noch heute erzählen die Bewohner von Mont, oberhalb Lausanne, von der immer wandernden Bertha, und zwar nicht ohne Unwillen, sie habe, so oft sie vor einem Bauernhause Halt gemacht, sich jedesmal erkundigt. ob man ihrem Pferde Hafer oder Weizen gegeben, um so den Ertrag des Bodens zu erfahren und ihn nach seinen Erzeugnissen zu besteuern. Urbarmachung wüster Landesstrecken, Herstellung der Straßen, Gründung von Städten, Errichtung von Schulen und Klöstern und von Zufluchtsstätten für Arme und Kranke, das waren die Werke der guten und frommen Königin, welche, nachdem sie so, den Keim zu einer neuen gesitteten Gesellschaft legend, zur Vorsehung des Vaterlandes geworden, nun auch dessen Schild und Schirm ward, indem sie durch Erbauung fester Schutzwehren an seinen Grenzen dasselbe vor dem Einfall fremder Völkerhorden, der Ungarn und Sarazenen, zu schützen wußte. Auf manchem Hügel von den Alpen bis um Jura herab sieht man noch Vertheidigungswerke, an die sich der Name der Königin Bertha und die sie begleitende Sage knüpft. Eines derselben ist der Thurm von Gourze auf einem Vorsprünge des Jorat, nicht weit von Cully, den noch heute Bertha's Geist umschwebt, das Land



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schützend und segnend. Jeden Winter, wenn feuchte Nebel dem nassen Boden entsteigen und sich auf den Abhängen der Berge lagern, erscheint sie in weißem leuchtenden Gewande über seinem grauen Gemäuer und streut aus voller Futterschwinge die Saat zu einer reichen Ernte aus. Später zur Weihnachtzeit in der heiligen Christnacht durchzieht sie als Jägerin, ebenfalls im weißen Lichtgewande, einen Zauberstab in der Hand, begleitet von einer luftigen Schaar neckischer Geister, Ewen und Elbinnen, von dort aus ihr Reich, wie ehemals zu ihrer Lebzeit vor jedem Hause, vor jedem Hofe Halt machend, zu schauen wie es in oder auf demselben beschaffen sei. Wehe aber, wo sie nicht Alles in Ordnung findet, wo noch ungesponnener Flachs liegt, der Boden nicht gelüftet, der Keller nicht gegen eindringende Kälte geschützt, das Linnenzeug in den Kisten und Schränken nicht in Ordnung, , Speise - und Mundvorrath nicht an rechter Stelle aufbewahrt, Staub und Schmutz unter den Treppen und in den Ecken aufgehäuft, das Vieh in den Ställen nicht besorgt, nachlässige Knechte und faule Mägde, schmutzig und ungekämmt, in ungemachten Betten liegen, böse Kinder den Eltern ihre alten Tage verbittern oder von wo die alte Zucht und Sitte vielleicht gar gänzlich gewichen — dort läßt sie sicher als Zeugen ihres Besuchs ein strafendes oder mahnendes Zeichen zurück, die Zeit im neuen Jahre besser zu nützen, achtsam, fleißig und thätig zu sein und von dem Wege des Bösen um Guten wieder einzulenken, je nachdem, was sie vorfand, mehr oder minder strafbar war. Bald ist der ungesponnene Flachs unentwirrbar zu einem Knäuel geballt, bald sind die Bodenluken aus den Angeln gerissen, bald die Kartoffeln im Keller erfroren, bald ist das Linnenzeug in den Kisten und Schränken verstockt, bald der Mundvorrath verdorben, hald der Schmutz hinter den Thüren und aus den Ecken durch das ganze Haus verstreut, bald schreit und lärmt



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das Vieh in dem Stalle, daß Knechte und Mägde erwachen; die Bettdecken vom Leibe gerissen, schrecken sie auf und stürben schlotternd und zitternd vor Kälte nach den Ställen, im Glauben, der Marder sei unter die Hühner oder die Tauben gerathen oder der Stier oder ein Hengst habe sich losgerissen, nichts aber von alle dem ist geschehen: ruhig und still sitzt das Hühnervolk auf der Stange, nichts regt sich auf dem Taubenschlag, deutlich und vernehmbar schnarchend liegen Stier und Hengst auf ihrer Streu im tiefsten Schlaf, dem Zeichen eines guten Gewissens. Beim matten Scheine der Stalllaterne glotzen Mägde und Knechte sich da an, erschrocken fragend : was war das 2 Ein schallendes Gelächter gibt Antwort auf diese Frage: es war Königin Bertha's luftige Geisterschaar, die all' den Schabernack vollführt und nun desselben sich freuend mit ihrer Herrscherin weiter zieht. Also lebt Königin Bertha noch in dem Andenken-des Volkes segnend und mahnend, dem neuen Geschlechte noch heute was sie den dahingeschiedenen war : ein Vorbild des Guten.

Ist im ersten Theil obiger Sage die historische Basis auch unverkennbar, so versetzt doch der Schluß uns auf rein mythischen Boden; denn jene Bertha, welche im leuchtenden Gewande über dem Thurm zu Gourze erscheint und zur Weihnachtszeit mit ihrer Elfenschaar das Land durchzieht, ist nicht mehr die spinnende Königin Bertha, Rudolph, des Heiligen, Gemahlin, sondern Frigga, Odins Gattin, welche von den alten Germanen auch Perahta, die leuchtende, glänzende, genannt wurde, ein Name, der sich später in Perchta und endlich in Bertha erweichte, wie sich aus Holda, einer andern germanischen Benennung dieser Göttin, die in der deutschen Volkssage so häufig auftretende Frau Holla (als identisch mit Bertha schon S. 94 und 184 angeführt) gestaltete. Frigga oder Freia *) aber, denn beide Namen sind eins, ist nicht nur die oberste der Asinnen und die Göttin der Liebe, sondern auch, gleich Nerthus



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und Isis, eine zeugende und gebärende Erdgöttin, die man sich als Spinnerin vorstellte und der man als Attribut die Spindel, als Zeichen der Weiblichkeit beigab — eine Symbolik, welche auch die römische, griechische und indische Mythologie auf die Vertreterinnen des Princips der zeugenden Kraft anwandte, *) während seine männlichen Repräsentanten oftmals als Schmiede, mit dem Schwerte, dem Symbole der Männlichkeit, gedacht wurden. **) Freia ist aber auch Todtengöttin; ihr Reich heißt Folkvangr, Todtenwiese, wo sie die Seelen aller edeln und schönen Frauen empfängt, wie Odin die für die Geliebte oder für das Vaterland gefallenen Kämpfer in Walhalla aufnimmt, daher sie sich, wie dieser zum Anführer des wilden Heeres ward, in christlicher Zeit in die Anführerin (als Mondgöttin Jägerin gleich Diana) einer zur Weihnachtszeit spuckenden Geisterschaar verwandelte, die jedoch in der Volkssage oftmals auch ohne diese Begleitung erscheint, in welchem Falle sie dann jene Tod oder Leben verkündende gespenstische weiße Frau ist, welche wir, gleich Odin im Hans von Hackelberg (s. Seite 46), als Spuckgeist an fürstlichen Höfen in jener bekannten Bertha von Rosenberg historisirt wieder finden. Ebenso ist Freia aber auch die Stamm -Mutter aller jener weißen Jungfrauen, die der Volksglaube bald zur Mittag ., bald zur Abends oder Nachtzeit an Quellen, Brunnen und Flüssen bald spinnend, bald sich kämmend erscheinen läßt, da der Kamm, dem Attribute der Spindel entsprechend, ebenfalls als Zeichen der Fruchtbarkeit gilt, ***) als sie nicht minder in ganz gleichem Verhältniß zu allen jenen gespenstischen weiblichen Wesen steht, welche harrend auf Erlösung, als deren Lohn sie die von ihnen gehüteten Schätze bieten, sich den Sterblichen zeigen, denn diese Schätze sind nichts Anderes, als der im Schoße der Erde ruhende Ernteschatz, der unter der Obhut der Erdgöttin Freia steht, die, vom Christenthum auf ewig verdammt, nun ein der Erlösung



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bedürfender Spuckgeist ward. Dies Alles bestätigt hinlänglich, was S. 370 gesagt ward, daß in der spinnenden Königin Bertha, deren Zeitalter das Sprüchwort "zur guten alten Zeit, wo Königin Bertha spann," noch heute charakterisirt, sich Götter- und Heldensage vermischt, ebenso wie in jener andern dem Karlssagenkreis angehörenden Bertha mit dem Gansfuß, der Mutter Karls des Großen, neben welcher noch eine dritte Bertha, welche als Schwester des genannten Kaisers und Mutter des Ritters Roland in der Heldensage von König Arthurs Tafelrunde eine Rolle spielt, Erwähnung verdient. Die Erzählung von dem bei ihrer Heerde spinnenden Hirtenmädchen, das die Bertha unserer Sage reichlich beschenkte, ist bekannt, weniger die Antwort: "Die Bäuerin ist zuerst gekommen, wie Jakob hat sie meinen ganzen Segen mit sich fortgetragen," die den Edelfrauen des Hofes zu Theil geworden sein soll, als sie auf gleiche Belohnung hoffend am andern Morgen ebenfalls spinnend sich der Königin zeigten.
Copyright: arpa, 2015.

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