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Kapitel 

Schweizerisches

Sagenbuch.


Nach

müdlichen Ueberlieferungen, Chroniken und andern gedrukten and handschriftlichen Quellen herabgegeben


und mit

erläuternden Anmerkungen begleitet von


C. Kohlrusch.

Leipzig,

Rob. Hoffnann

1854.


10. Der Venetianer und der Wyßtanner.


Die Schweiz in ihren Ritterburgen, S. 349.

Zur Zeit der mailändischen Kriege bewirthete einstmals ein Venetianer einen jungen Wyßtanner auf das Köstlichste. Als sie mit Essen und Trinken fertig waren, fragte er seinen Gast: ob er denn das alte Chrütermändli *) im grauen Rock gar nicht mehr kenne, das in seines Vaters Hause stets



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Nachtlager und Speise erhalten und einen braunen Krug getragen habe. Das sei er gewesen. Nur noch zweimal werde er den Krug füllen und es dann nicht mehr vonnöthen haben. Da nun der Venetianer merkte, daß durch diese Erinnerung an die Heimath dem armen Jungen das Heimweh rege ward, brachte er einen Bergspiegel herbei und zeigte ihm zu guter Letzt seine Eltern und Geschwister daheim zu, Wyßtanuen, wie sie gerade in der Stube zum Chliy -z-Obet *) versammelt waren.

Von Spiegeln, welche die Zukunft enthüllen und das Bild geliebter, weitentfernter Personen wiederstrahlen, weiß die Sage fast aller Völker zu erzählen. Daß der Glaube an diese wunderbare Kraft dem Material, aus welchem dergleichen Zaubergeräth gewöhnlich angefertigt ist, dem Erze oder dem Krystall und deren Eigenschaft, fremde Gegenstände abzuspiegeln, verdankt, welche Eigenschaft auch dem Wasser zu seiner weissagenden Kraft verhalf, liegt auf der Hand ; ja es scheint sogar, daß diese Eigenschaft, wie das ja auch bei dem so eben genannten Elemente der Fall war, verschiedenen Völkern des Alterthums Anlaß zu einem ganz besonderen Cultus gab, von welchem die Zauberspiegel unserer Volkssagen und Aehnliches ein Ueberbleibsel sein mögen, wie die S. 98 angeführten abergläubischen Gebräuche Reste hes heidnischen Wasserkults waren. Daß Römer und Griechen das Erz heiliger hielten, als alle anderen Metalle, und ihm große zauberische Kräfte beilegten, ist bekannt, ein Glaube, der sicher auch unter den Juden heimisch war, wofür die Verwandtschaft der zwei hebräischen Wörter Nechosches, Erz, und Nachasch, Wahrsagerei, Zauberei, zu der noch das dritte Wort Nochosch, Schlange, hinzutritt, der sprechendste Beweis sein dürfte; ferner möchte hier noch an die linsenförmigen Glaskugeln im druidischen Cultus zu erinnern sein, welchen, je nach ihrer Farbe als Abzeichen der verschiedenen Stufen der Priester dieser Lehre geltend, ohne Zweifel ähnliche Kräfte beigelegt waren und zu denen die Krystallseher des Mittelalters — die selbst in neuester Zeit, mit Extase und Somnambulismus in Verbindung gebracht, mit angeblich schlagenden Beweisen ausgerüstete, Vertheidiger finden — jedenfalls in verwandtschaftlicher Beziehung stehen. So erzählt unter andern Nork in seinen "Sitten und Gebräuchen der Deutschen und ihrer Nachbarvölker" S. 648 von einem Krystallseher, der auf ähnliche Art wie der Venetianer in obiger Sage einem englischen Gesandten die nach dem regierenden Monarchen zunächstfolgenden Könige England's gezeigt habe. Bei andern Beispielen



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führt er sogar die Namen der Gewährsmänner an, welche sich mit eigenen Augen von diesem zauberhaften Treiben überzeugt haben wollen. Unter diesen nennt er den Dichter Rist. Dieser sei nämlich, als er in seiner Jugend irgendwo Hauslehrer gewesen, von der Schwester seines Zöglings, welche ohne Wissen ihrer Eltern ein Liebesverhältniß angesponnen, angegangen worden, einem solchen Akte beizuwohnen. Dieser Akt habe darin bestanden, daß ein altes Weib, an welches das Mädchen, um die Zukunft zu erforschen, sich in der Verzweiflung seines Herzens gewendet, in einem einsamen Zimmer ein blauseiden Tüchlein, mit Drachen und Schlangen gestickt, auf einen Tisch ausgebreitet habe; darauf sei eine grüne, gläserne Schale gesetzt, auf welche, nachdem sie mit einem goldfarbig seidenen Tüchlein zugedeckt, eine ziemlich große Krystallkugel gelegt worden sei, welche das Weib mit einem weißen Tüchlein ebenfalls verhüllt habe. Nach einigen wunderlichen Geberden und dem Murmeln geheimnißvoller Worte habe das Weib die Kugel mit großem Respekt von der Schale genommen und sie den beiden Anwesenden am Fenster vorgehalten. Anfangs hätten sie nichts gesehen, bald aber sei das Mädchen im prächtigen Brautschmuck, aber bleich und betrübt, im Krystall zum Vorschein gekommen, da sei auch plötzlich der Geliebte erschienen, das Gesicht entstellt und entsetzlich anzuschauen und mit zwei Pistolen in der Hand, von denen er die eine auf sein eigenes Herz gerichtet und die andere seiner Geliebten vor die Stirne gesetzt habe, die Pistolen seien losgegangen und ein dumpfer Knall, den man ganz deutlich vernommen, sei das Ende dieses schrecklichen Gesichtes gewesen, das, wenn auch nicht ganz, so doch bis auf gewisse Punkte eingetroffen sei. Das unglückliche Mädchen habe nämlich, von ihren Eltern genöthigt, später einem fürstlichen Diener die Sand geben müssen. Am Tage der Hochzeit von einer Hofkutsche abgeholt, habe der erste Liebhaber an einem passenden Orte vor dem Thore die Braut verzweiflungsvoll erwartet und während dem Vorbeifahren des Wagens auf dieselbe gefeuert, der Schuß sei jedoch fehl gegangen und habe einer Dame neben ihr nur den Brautschmuck weggerissen. Der Thäter sei entkommen, die Braut aber sei von dem ihr aufgedrungenen Manne auf das Aergste gemißhandelt bald an gebrochenem Herzen gestorben. Nachdem Nork noch einen anderen Fall erwähnt, welchen derselbe jedoch als nicht durch hinreichende Zeugenbeweise unterstützt als mangelhaft bezeichnet, berichtet er von einem zauberhaften Verfahren ähnlicher Art, welches, von englischen und französischen Reisenden erzählt, aus Aegypten als ein Beispiel der neuesten Zeit hier noch mitgetheilt werden soll. "Die erwähnten Reisenden hatten nämlich in Erfahrung gebracht, daß sich zu Cairo ein Magier, Namens Abda Scheik Abda el Kader el-Moghrebt:, d. h. aus dem Westland Marocco, aufhalte, der sich mit Zauberkünsten dieser Art abgebe und durch dieselben im Hause des Consuls Sali schon einen Dieb



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entdeckt habe. Sie machten daher Alle gemeinsam und auch Jeder für sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Versuche mit ihm, die sie später eben so gesondert bekannt gemacht. Die Weise seines Verfahrens war folgende:"Ein noch nicht mannbarer Knabe, eine Jungfrau, eine schwangere Frau oder eine schwarze Sklavin, wie sie sich eben bieten, werden gewählt, um die Gesichte zu schauen, und die geschauten auszusprechen. Dem Gewählten zeichnet der Magier mit der Rohrfeder in die rechte flache Hand mit schwarzer Dinte ein Viereck in dieser Form : und nachdem er in die neun kleinen Quadrate die neun Zahlenziffern in der vorgestellten Ordnung eingeschrieben, gießt er in die Mitte des größten



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etwa einen halben Theelöffel voll derselben dicken Dinte, so daß sie einen Ball von der Dicke einer Pistolenkugel und in ihr einen Spiegel bildet, in dem er das Individuum sich zuerst beschauen läßt. Zuvor hat er auf einen Schmalen Streifen Papier einen arabischen Zauber aufgeschrieben, einen Theil des 21. Verses des 50. Kapitels vom Koran, lautend: "Und dies ist die Entfernung, und wir haben entfernt von dir deinen Schleier, und dein Gesicht ist heute scharf. Wahrheit! Wahrheit!" Ein anderes Papier nimmt dann die gleichfalls arabische Anrufungsformel auf: "Tarschun ! Tarzuschun ! kommt herab! kommt herab ! seid zugegen! wohin sind gegangen der Fürst und sein Heer? wo ist El-Ahhmar ? Der Fürst und



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sein Heer, erscheint ihr Diener dieser Namen!" Tarschun und Tarzuschun sind nach der Deutung des Magiers dir ihm dienstbaren Geister, El-Ahhmar ist also der Geisterfürst, die Formel wird in sechs Streifen zerschnitten. Der Knabe wird nun vor dem Magier auf einen Stuhl gesetzt, in Mitte der Gesellschaft, die beide ein Kreis umgibt; ein Becken mit glühenden Kohlen wird zwischen den Knaben und den Meister gestellt, der von einem zwiefachen Weihrauch, Takeh mabachi und Konsonbra Diaon genannt, zu gleichen Theilen in das Kohlenbecken wirft, von Zeit zu Zeit indischen Ambar beifügend, so daß ein dicker Rauch das Zimmer erfüllt und unangenehm auf die Augen wirkt. Er steckt das Papier mit den Worten aus dem Koran dann in den Vordertheil der Mütze des Knaben, wirft einen der mit der Anrufungsformel beschriebenen Papierstreifen in die Kohlen, und indem er nun die arabischen Worte:
Anzilu aiuba el Dschenni ona el Dschenuan
Anzilu betakki matalahontonhon abikum
1 3 3
Target, Anzilu, Taricki



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Das Alles kehrte unveränderlich bei jeder einzelnen solchen Handlung und bei jedem Knaben wieder und endete damit, daß der Magier ihnen gebot, den Sultan zu fordern, der sofort mit schwarzem Barte, grünem Banisch und einer hohen rothen Kappe bedeckt, auf einem Braunen zu seinem Zelte ritt, abstieg, in ihm niedersaß, Kaffee trank und die Aufwartung Seines Hofes annahm. Nun sagte er zu der Gesellschaft: welche Frage irgend Jemand thun möchte; jetzt sei es an der Zeit. Lane forderte nun Lord Nelson; der Magier gebot dem Knaben zu sagen: mein Meister grüsst dich, und begehrt, daß du den ord Nelson bringest; bring ihn mir vor Augen, daß ich ihn sehe, eilig! Der Knabe that so, und sagte alsofort: ein Bote ist abgegangen und bringt jetzt einen Mann in schwär er (dunkelblau ist den Orientalen schwarz) europäischer Kleidung, der Mann hat den linken Arm verloren. Er hielt dann einige Augenblicke inne; darauf tiefer und angestrengter in die Dinte sehend, sage er: nein er hat den linken Arm nicht verloren, er hat ihn vor der Brust. Nelson pflegte den Aermel des verlorenen Armes vor der Brust zu befestigen ; aber er hatte nicht den linken, sondern den rechten Arm verloren. Ohne von dem Mißgriff etwas zu sagen, fragte Lane nun den Magier, ob die Gegenstände in der Dinte erschienen, als wenn sie vor Augen stünden, oder wie in einem Spiegel. Wie in einem Spiegel,; war die Antwort, und das erklärte den Irrthum des Knaben vollkommen, der übrigens von Nelson nie etwas gehört zu haben schien, da er nur nach mehreren Versuchen den Namen aussprechen lernte. Der Andere, den er forderte, war ein Aegyptier, der lange als Resident in England sich aufgehalten und als Lane sich eingeschifft, an langwieriger Krankheit bettlägerig war. Der Knabe sagte: hier wird ein Mann auf einer Bahre herbeigebracht, in ein Betttuch eingehüllt; er beschrieb dabei sein Gesicht als bedeckt, und ihm wurde gesagt: er solle verlangen, daß es enthüllt werde. Er that es und sagte dann: sein Gesicht ist blaß, und er hat einen Schnurrbart, aber keinen Bart; was richtig war. Bei einer dieser Gelegenheiten war ein Engländer zugegen, der die Sache lächerlich machte und sagte: nichts werde ihm Genüge leisten, als eine völlig ähnliche Erscheinung seines Vaters, von dem er sicher wußte, daß keiner der Anwesenden ihn kenne. Nachdem der Knabe nach ihm bei seinem Namen gerufen, beschrieb er einen Mann in fränkischer Kleidung, eine Brille tragend, die Hand an's Haupt gelegt,



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mit dem einen Fuße auf dem Boden aufstehend, den anderen aber hinten aufgehoben, als ob er von einem Stuhle aufstehe. Die Beschreibung war genau in jeder Beziehung, die Lage der Hand wurde durch ein anhaltendes Kopfweh herbeigeführt, die des Fußes aber war durch einen Sturz vom Pferde bei der Jagd veranlaßt worden. Ein Franzose, ein Herr Delaborde, der ebenfalls bei der Gesellschaft war, verlangte den Herzog De la Riviere. Der Bote wurde abgesendet, und ein Officier wurde vor den Sultan gebracht, in Uniform mit Silberborden um Kragen, Aufschläge um seinen Hut. Delaborde war verwundert, denn der Herzog war der Einzige in Frankreich, der als Oberjägermeister solche Borden trug. fragte bei dieser Gelegenheit den Knaben, woran er den Sultan erkenne? ? Dieser erwiderte: seine Kleidung ist prächtig, seine Hofleute stehen vor ihm, die Arme gekreuzt vor der Brust, und bedienen ihn; er hat den Ehrenplatz auf dem Divan, und seine Pfeife und Kaffeekanne glänzen von Diamanten. Auf die weitere Frage, woran er erkannt, daß der Sultan nach dem Herzog gesendet ? erwiderte er: ich hörte seine Worte in meinen Ohren und sah seine Lippen sich dazu bewegen. Ein andermal verlangte Einer der Gesellschaft den Shakspeare. Als der Knabe, ein Nubier, die Gestalt vor sich sah, brach er in Lachen aus und sagte: hier ist ein Mann, der hat den Bart unter seiner Lippe und nicht am Kinn, und hat auf dem Kopf wie einen umgestürzten Becher - Wo- lebte er ? sagte ein Anderer; auf einer Insel, war die Antwort.Das war der Verlauf der Handlung, die indessen nicht zu jeder Zeit mit dem gleichen Erfolge gelang, wo das Fehlschlagen dann in der Regel dem Wetter, der Dummheit des Knaben oder seinem nicht gehörigen Alter zugeschrieben wurde. Zeigte er Furcht oder Unruhe bei den Gesichtern , dann wurde er entlassen, und ein anderer für ihn eingestellt. War er ermüdet oder sollte die Sache zu Ende gehen, dann legte der Magier ihm die Daumen auf seine Augen, einige Beschwörungen hersagend, und nahm ihn dann von seinem Stuhle weg." Des Weitern berichtet Lane, daß der Franzose Delaborde und ein Engländer dem Magier das Geheimniß des Verfahrens abgekauft und vollständig gelungene Versuche damit angestellt hätten. Dieselben seien einzig und allein durch die genaue Wiederholung der Formeln, welche ihnen der Magier gelehrt, bewirkt worden, von einer Art von Gewalt oder Einfluß auf das Kind, so wie von einem geheimen Einverständniß mit demselben sei nicht die Rede. So oft man auch den Versuch wiederholt habe, so wisse man doch nicht, wie das Alles also sich begehe. Wie weit oder ob überhaupt physische Kräfte, als Magnetismus und ein mit Näuchereien geschwungner Dunstkreis, ihren Einfluß bei demselben ausübten, dies zu untersuchen, würde zu weit führen; jedenfalls kann die Sache nicht unter allen Umständen und bei allen Fällen als grober Betrug bezeichnet werden, ebensowenig aber ist



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es auch rathsam, sich jenen mysteriösen Definitionen vollständig hinzugeben, die hier eine offenbare Verbindung mit der Geisterwelt sehen wollen (S. Görres christl. Myst. III. S. 610.)
Copyright: arpa, 2015.

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