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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


6. De, überschlaue Schakal

Man erzählt war. von Unterwegs einem Schakal, trat er der sich einmal einen Dorn auf der in den Wanderschaft Fuß. Er hinkte. Der Schakal traf eine alte Frau. Die alte Frau sagte: "Mein Schakal, ich sehe, du hinkst. Komm, ich will dir den Dorn aus dem Fuß ziehen." Der Schakal legte sich hin. Die alte Frau untersuchte den Fuß, zog den Dorn aus und warf ihn fort.

Der Schakal stand auf. Er sagte zu der alten Frau: "Wo hast du meinen Dorn ?" Die Frau sagte: "Ich habe ihn weggeworfen." Der Schakal sagte: "Es war mein Dorn. Wie kannst du meinen Dorn wegwerfen. Suche und gib mir meinen Dorn wieder." Die alte Frau suchte den Dorn. Sie konnte ihn aber nicht finden. Sie sagte: "Ich finde diesen Dorn nicht; ich will dir aber hundert gleiche von derselben Art suchen." Der Schakal sagte: "Daran liegt mir nichts. Ich will meinen Dorn wiederhaben, und wenn du ihn nicht findest, will ich wenigstens ein Hühnerei dafür haben." Die alte Frau konnte den Dorn des Schakals nicht finden. Sie gab dem Schakal ein Hühnerei. Der Schakal lief mit dem Hühnerei von dannen.

Der Schakal ging mit seinem Hühnerei weiter. Als es Abend war, kam er zu einem Bauern (affila; Plural: iffilahen). Der Schakal fragte den Bauern: " Kann ich bei dir übernachten?" Der Bauer sagte: "Es ist mir recht." Der Schakal sagte: "Hier habe ich ein Hühnerei bei mir. Das muß unter einem Huhn schlafen. Darf ich das Ei unter ein Huhn legen?" Der Bauer sagte: "Es ist mir recht." Der Schakal legte das Ei selbst unter ein Huhn. Dann legte er sich nieder zum Schlafen.

Nachts erhob sich der Schakal, ging zu dem Huhn, nahm das Ei



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unter ihm fort, zerschlug es, fraß den Inhalt auf und strich etwas von dem Eigelb an den Schnabel des Huhnes. Dann legte er sich wieder hin.

Am andern Morgen weinte der Schakal. Der Bauer kam und fragte: "Warum weinst du?" Der Schakal sagte: "Dein Huhn hat mein Ei gegessen." Der Bauer sagte: "Wie ist das möglich, daß das Huhn das Ei gegessen haben soll!" Der Schakal sagte: "Hier ist der Beweis. Sieh, am Schnabel deines Huhnes ist noch das Gelbe." Der Bauer sah es und sagte: "Ich will dir ein anderes Ei geben." Der Schakal sagte: "Nein, ich will kein anderes Ei. Ich will mein Ei wieder haben." Der Bauer sagte: "Das kann ich dir doch nicht wiedergeben; ich will dir zwei, auch fünf, auch zehn Eier geben." Der Schakal sagte: "Nein, ich will mein Ei haben, oder das Huhn, das es gefressen hat." Da gab der Bauer dem Schakal das Huhn. Der Schakal lief mit dem Huhn von dannen.

Der Schakal ging mit seinem Huhn weiter. Als es Abend war, kam er in ein Dorf. Er ging in ein Gehöft und fragte: "Kann ich hier übernachten ?" Der Herr des Gehöftes sagte: "Es ist mir recht." Der Schakal sagte: "Hier habe ich ein Huhn bei mir, das muß unter einer Ziege schlafen. Darf ich das Huhn unter eine Ziege setzen?" Der Herr des Gehöftes sagte: "Es ist mir recht." Der Schakal setzte das Huhn selbst unter die Ziege. Dann legte er sich nieder zum Schlafen.

Nachts erhob sich der Schakal, ging zu der Ziege, nahm unter ihr das Huhn weg, tötete es und verschlang es. Von dem Blute strich er aber einiges an den Mund der Ziege. Dann legte er sich wieder hin.

Am andern Morgen weinte der Schakal. Der Herr des Gehöftes kam und fragte: "Warum weinst du?" Der Schakal sagte: "Deine Ziege hat mein Huhn gefressen." Der Herr des Gehöftes sagte: "Wie ist das möglich, daß eine Ziege ein Huhn gegessen haben soll!" Der Schakal sagte: "Hier ist der Beweis! Sieh, am Maul deiner Ziege ist noch das Blut meines Huhnes." Der Herr des Gehöftes sah es und sagte: "Ich will dir ein anderes Huhn dafür geben." Der Schakal sagte: "Nein, ich will kein anderes Huhn haben; ich will mein Huhn wiederhaben." Der Herr des Gehöftes sagte: "Das kann ich dir doch nicht wiedergeben. Ich will dir zwei oder drei andere Hühner dafür geben." Der Schakal sagte: "Ich will mein Huhn oder die Ziege, die es gefressen hat." Da gab der Herr des Gehöftes dem Schakal die Ziege. Der Schakal lief mit der Ziege von dannen.

Der Schakal lief mit seiner Ziege weiter. Als es Abend. war, kam



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er zu einem Bauern, der Rindvieh züchtete. Der Schakal fragte: "Kann ich bei dir übernachten?" Der Viehzüchter sagte: "Es ist mir recht." Der Schakal sagte: "Hier habe ich eine Ziege bei mir, die muß neben einer Kuh schlafen. Darf ich die Ziege neben eine Kuh im Stalle einstellen ?" Der Viehzüchter sagte: "Es ist mir recht." Der Schakal stellte seine Ziege selbst neben eine Kuh in den Stall. Dann legte er sich nieder zum Schlafen.

Nachts erhob sich der Schakal, ging zu der Ziege, schlachtete sie, verzehrte sie und bestrich mit dem Blute das Maul der Kuh, bei der die Ziege gestanden hatte, dann legte der Schakal sich wieder hin.

Am andern Morgen weinte der Schakal. Der Viehzüchter kam und fragte: "Warum weinst du?" Der Schakal sagte: "Deine Kuh hat meine Ziege gefressen." Der Viehzüchter sagte: "Wie ist das möglich, daß eine Kuh eine Ziege gefressen haben soll!" Der Schakal sagte: "Hier ist der Beweis. Sieh, am Maul deiner Kuh ist noch das Blut meiner Ziege!" Der Viehzüchter sah es und sagte: "Ich will dir eine andere Ziege dafür geben!" Der Schakal sagte: "Nein, ich will keine andere Ziege haben; ich will meine Ziege wiederhaben." Der Viehzüchter sagte: "Die kann ich dir doch nicht wiedergeben; ich will dir zwei oder drei andere Ziegen dafür wiedergeben." Der Schakal sagte: "Ich will meine Ziege haben, oder die Kuh, die meine Ziege gefressen hat." Da gab der Viehzüchter dem Schakal die Kuh. Der Schakal lief mit der Kuh von dannen.

Der Schakal lief mit seiner Kuh weiter. Als es Abend war, kam er zu einem Agelith. Der Schakal fragte den Agelith: "Kann ich hier übernachten?" Der Agelith sagte: "Es ist mir recht." Der Schakal sagte: "Ich habe eine Kuh bei mir. Diese Kuh muß neben einer Stute im Stalle stehen. Darf ich die Kuh neben eine Stute im Staue stellen?" Der Agelith sagte: "Es ist mir recht." Der Schakal stellte seine Kuh selbst neben eine Stute in den Stall. Dann legte er sich nieder.

Nachts erhob sich der Schakal, ging zu der Kuh, schlachtete sie, fraß sie und bestrich mit dem Blute das Maul der Stute, bei der die Kuh gestanden hatte. Dann legte der Schakal sich wieder hin.

Am andern Morgen weinte der Schakal. Der Agelith kam und fragte: "Warum weinst du?" Der Schakal sagte: "Deine Stute hat meine Kuh gefressen." Der Agelith sagte: "Wie ist das möglich, daß eine Stute eine Kuh gefressen haben soll!" Der Schakal sagte: "Hier ist der Beweis! Sieh, am Maul deiner Stute ist noch das Blut meiner Kuh." Der Agelith sah es und sagte: "Ich will dir eine andere



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Kuh dafür geben!" Der Schakal sagte: "Nein, ich will keine andere Kuh, ich will meine Kuh wiederhaben." Der Agelith sagte: "Die kann ich dir doch nicht, wiedergeben, ich will dir zwei andere Kühe dafür geben." Der Schakal sagte: "Ich will meine Kuh oder die Stute, die meine Kuh gefressen hat." Da gab der Agelith dem Schakal die Stute. Der Schakal lief mit der Stute von dannen.

Der Schakal war mit der Stute ein Stück weit gelaufen, als er einem Zug von Leuten begegnete, die trugen eine Leiche zu Grabe. Der Schakal blieb stehen und fragte die Leute: "Was tragt ihr da?" Die Leute blieben auch stehen und sagten: "Wir bringen die Leiche einer alten Frau zu Grabe." Der Schakal sagte: "Wenn ihr mir die Leiche der alten Frau gebt, gebe ich euch die Stute dafür." Die Leute sagten: "Es ist uns recht." Die Leute gaben dem Schakal die Leiche der alten Frau. Der Schakal gab ihnen die Stute. Die Leute gingen mit der Stute nach der einen Seite; der Schakal lud die Leiche der alten Frau auf den Rücken und ging damit nach der andern Seite.

Der Schakal ging mit der Leiche der alten Frau auf dem Rücken weiter, bis er an ein Dorf kam, in dem die Leute fröhlich waren und ein Fest begingen. Es war das Fest einer Eheschließung. Der Schakal kam mit der Leiche auf dem Rücken an dem Hause vorbei, in dem die Hochzeit gefeiert wurde. Die Leute sahen ihn daherkommen und sagten zu ihm: "Nimm teil an unserem Fest, schlafe bei uns." Der Schakal sagte: "Ich danke euch! Sehr gerne will ich das. Aber ich habe meine kranke Mutter bei mir. Wenn die im Bett der jungverheirateten Frau schlafen darf, bin ich einverstanden." Der Vater des Bräutigams sagte: "Ich bin einverstanden. Laß du deine, alte kranke Mutter im Bett der Braut meines Sohnes mit schlafen. Die Braut mag für die Alte in der Nacht sorgen." Darauf brachte der Schakal selbst die Leiche der alten Frau in die Kammer der Braut und legte sie dort in das Bett neben die Braut. Ehe er aber ging, umarmte er die Leiche, streichelte ihr die Backen und schnitt ihr insgeheim den Hals durch. Dann ging er zu den andern, war mit ihnen fröhlich und legte sich nachher zum Schlafen nieder.

Als es wieder Tag wurde, ging der Schakal in die Kammer hinauf, in der die Leiche der alten Frau nachts über neben der jungen Braut gelegen hatte. Dann kam er weinend und sich das Gesicht zerkratzend herunter. Der Vater des Bräutigams sah ihn; er ging auf ihn zu und fragte: "Was weinst du? Was klagst du?" Der Schakal weinte und sagte: "Die Braut hat meiner alten kranken Mutter in



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der Nacht den Hals durchschnitten." Der Vater des Bräutigams er schrak und sagte: "Was sagst du? Wie wäre es möglich, daß eine junge Braut einer alten Frau den Hals abschnitt! Deine Mutter wird über Nacht gestorben sein." Der Schakal sagte: "Nein, meine alte Mutter ist nicht so gestorben. Geh selbst hinauf und sieh den Beweis! Meiner Mutter ist der Hals durchschnitten."

Der Vater des Bräutigams ging hinauf. Er sah, daß die alte Frau tot und ihr Hals durchschnitten war. Der Vater des Bräutigams fürchtete sich vor der Braut seines Sohnes. Er kam herab und sagte zum Schakal: "Was können wir da tun? Wie können wir das gut machen ?" Der Schakal sagte: "Gebt mir für die Leiche meiner alten Mutter die junge Braut, oder ich gehe zum Richter." Der Vater des Bräutigams war froh, die Braut auf diese Weise los zu werden. Er sagte zum Schakal: "So nimm die Braut." Darauf führte man dem Schakal die Braut zu. Der Schakal nahm sie, steckte sie in einen Sack und ging mit dem Sack auf dem Rücken von dannen.

Der Schakal ging mit der Braut im Sack auf dem Rücken ein gutes Stück weit. Dann war er ermüdet. Er kam an einem Gehöft vorbei und fragte den Bauern: "Kann ich hier in der Hitze ein wenig ablegen ?" Der Bauer sagte: "Es ist recht. Lege ab!" Der Schakal legte den Sack hin und sagte: "Kann ich einen Schluck Wasser trinken?" Der Bauer sagte: "Geh dort auf den Hof, da steht der Wasserkrug, trink dich nur satt." Der Schakal ging auf den Hof.

Der Bauer war aber gerade der Vater der Braut. Die Braut erkannte den Vater an der Stimme. Als der Schakal auf den Hof gegangen war, rief sie leise aus dem Sack: "Vater, öffne schnell den Sack!" Der Vater erkannte die Stimme seiner Tochter. Er öffnete. Seine Tochter kam heraus. Die Tochter sagte: "Wir wollen den Sack des Schakals schnell füllen, ehe er zurückkommt." Sie steckten zwei Hunde in den Sack und verschlossen ihn wieder. Die Tochter floh in den Viehstall.

Der Schakal kam wieder. Er bedankte sich, nahm seinen Sack wieder auf die Schulter und ging von dannen. Er ging bis auf einen Hügel. Da legte er dann den Sack nieder. Er trat vor den Sack und begann zu singen. Der Schakal sang: "Durch einen Dorn gewann ich ein Ei, durch das Ei gewann ich ein Huhn, durch das Huhn gewann ich eine Ziege, durch die Ziege gewann ich eine Kuh, durch die Kuh gewann ich eine Stute, durch die Stute gewann ich eine alte Frau, durch die alte Frau gewann ich eine junge Braut! Keiner ist wie ich." Danach öffnete der Schakal den Sack, um die Braut



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zu besichtigen. Aus dem Sack kamen die zwei Hunde, sie bissen den Schakal tot und liefen dann wieder nach Hause.


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