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Kapitel 

Schweizerisches

Sagenbuch.


Nach

müdlichen Ueberlieferungen, Chroniken und andern gedrukten and handschriftlichen Quellen herabgegeben


und mit

erläuternden Anmerkungen begleitet von


C. Kohlrusch.

Leipzig,

Rob. Hoffnann

1854.


5. Das Mädchen ab der Schratten.


Wanderer in der Schweiz, 8. Jahrgang, 10. Heft.

Als noch das Thal am Fuße der Schratten von Heiden bewohnt war, lebte in dieser Gegend ein schönes Mädchen,



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das man bald für das zurückgelassene Kind einer fremden Völkerhorde, bald für das Kind eines Zauberers, bald für das Kind eines bösen Geistes hielt. Es ging in Felle gekleidet, führte Bogen und Speer und ließ sich nur dann unter dem Volke erblicken, wenn den Göttern Opfer dargebracht wurden. Da endlich kam der heilige Justus als Verkünder des christlichen Glaubens in dieses Thal und der größte Theil seiner Bewohner ließ sich bekehren. Von da an war die schöne Jungfrau verschwunden. Nur noch ein einziges Mal begegnete ihr auf der Rückkehr von einer unglücklichen Jagd ein Jäger, Namens Jngur, der noch fest am alten Götzendienst hielt, obschon sein Weib der Lehre Christ Ohr und Her; geöffnet hatte. Schweigend winkte sie diesem, ihr in eine Höhle zu folgen, wo sie ihm wei Rehe über die Schulter hing und einen schwaren Ring darreichte, indem sie zu ihm die Worte sagte: "So lange du diesen Ring am Finger trägst, wird dich keine Noth treffen; doch nicht eher sollst du ihn anstecken, als bis dein Pfeil das Herz des fremden christlichen Lehrers getroffen hat — Schnell eilte Ingur nach dem Thal hinab und fragte nach dem Christen; dieser aber war fort, wieder über die Alpen zurück nach den Gestaden des Brienzer-sees. Die böse Absicht Ingurs, den heiligen Justus zu tödten, war vereitelt. Hierüber ergrimmt stürzte er von seinem zum Christengott betenden Weibe wieder in den Wald hinaus und schweifte dort verzweiflungsvoll umher. Da plötzlich kam ein wilder Muth über ihn, er ergriff den Ring und steckte ihn an den Finger. Kaum aber hatte er dies gethan, durchbebte ein Donnerschlag die Luft und Ingur sank todt zu Boden. Seit diesem Augenblick wurde die schöne Jungfrau, welche man das Mädchen ab der Schratten nannte, Jahrhunderte hindurch nicht mehr gesehen; erst in späterer Zeit soll sie wieder unten im Thale im stummen Schmerz, mit aufgelöstem



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Haar aus einer Höhle kommend, erblickt worden sein. Dann aber, so sagt man, brachte sie den Frauen, deren Männer in den Krieg gezogen waren, die Kunde von ihrem Tode.

Das Mädchen ab der Schratten ist mit Speer und Bogen bewaffnet; sie verkündet den Tod der in den Krieg gezogenen Männer; auch schön nennt sie die Sage. Dies Alles sind eddische Anklänge, die auf eine Verwandtschaft mit der nordischen Walküre deuten. — Die Walküren waren liebliche Jungfrauen von unvergänglicher Schönheit und Jugend, die in Walhalla den um Odin versammelten Helden die Freuden der Erde ersetzten. Im Sinne nordischen Ritterthums war jedoch das Weib auch die Kampfgenossin des Mannes; daher die Halbgöttinnen, die Walküren, auch Schlacht- und Schildjungfrauen waren. Sie bestimmten, wer im Kampfe fallen sollte, davon ihr Name: Wal, Schlacht oder Todtenfeld, türen, wählen. So Sieg oder Niederlage der kämpfenden Helden bestimmend, waren sie aber auch Schicksalsjungfrauen. Als solche dachte man sie sich, gleich den Nornen, spinnend und webend. Dann aber war ihr Bild schrecklich. Wir finden es in der Nialsage: "Dörrudhr belauscht durch eine Felsenspalte singende Frauen, die an einem Gewebe sitzen, wobei Menschenhäupter zum Gewicht, Därme zum Garn und zum Wift, Schwerter zur Spule, Pfeile zum Kamm dienen. In ihrem schauerlichen Gesang bezeichnen sie sich selbst als Walkürien, ihr Gewebe als das des zuschauenden Dörrudhr. Zuletzt zerreißen sie ihre Arbeit, besteigen ihre Pferde und sechs reiten gen Norden, sechs gen Süden." (I. Grimm, Mythologie der Deutschen. S. 239.) Endlich bezeichnet die Edda die Walküren auch als Schutz und Beistand ertheilende Wesen und hiermit könnte vielleicht der allerdings nur bedingungsweise glückbringende Ring in Beziehung gebracht werden, den Ingur in unsrer Sage erhält.
Copyright: arpa, 2015.

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