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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


1. Der Schakal und die Lerche*

Der Schakal lief einmal umher und erblickte auf einem Baume das Nest (la'asch) einer Lerche (aküba). In dem Neste saß die Lerche und unter ihr ihre sieben Jungen, die den Kopf herausstreckten. Der Schakal rief die Lerche an und sagte: "Wirf mir eins von deinen Jungen herab, oder ich komme herauf, und fresse euch alle." Die Lerche ward von großer Furcht befallen und warf ein Junges herab. Der Schakal fing das Junge auf, fraß es auf und lief von dannen.

Am andern Tage kam der Schakal wieder zu dem Nest der Lerche. Er forderte wieder ein Junges und erhielt es. So kam er jeden Tag zurück, sechs Tage lang, so daß am siebenten Tage früh die Lerche von ihren sieben Jungen nur noch eines hatte.

Am siebenten Tage früh saß die Lerche traurig über ihrem letzten Jungen und weinte. Der Fuchs (aküabe -in der Kabylie sehr häufig) kam vorüber und sah die Lerche weinen. Der Fuchs blieb stehen und fragte: "Weshalb weinst du denn?" Die Lerche sagte: "Alle Tage kommt der Schakal vorbei und droht mir, auf meinen Baum zu kommen und uns alle zu verschlingen, wenn ich ihm nicht ein Junges herunterwerfe. So habe ich ihm schon sechs von meinen Jungen herunterwerfen müssen, und heute kommt er sicher zurück und fordert mein siebentes und letztes Junges." Der Fuchs sagte: "Habe doch keine Furcht, der Schakal kann ebensowenig auf Bäume steigen wie ich. Also schlage ihm seine Forderung ab und er wird nicht imstande sein, dir etwas anzuhaben." Damit lief der Fuchs weiter.

Nach einiger Zeit kam der Schakal, blieb an dem Baume stehen und rief zur Lerche hinauf: "Wirf mir dein letztes Junges herab, oder ich komme herauf und hole nicht nur dein Junges, sondern auch dich herunter!" Die Lerche sagte: "So komm nur herauf und hole dir selbst mein Junges und mich!" Der Schakal sagte: "Das werde ich nun allerdings tun." Der Schakal versuchte erst, am Baume emporzuspringen. Das gelang ihm aber nicht. Darauf ging er hin und riß sich Strohhalme ab. Er machte sich einen Kletterring (tier-kabin), das sind die Ringe aus Schnur, die die Kabylen um Baum und Lenden schlingen, so daß sie, mit den Füßen am Baume stehend, sich rückwärts lehnend mit dem Rücken gegen den Ring



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stützen können, aus Strohhalmen. Er wollte nun emporsteigen, aber die Strohhalme rissen und er fiel wieder hin.

Die Lerche fürchtete sich aber und weinte. Es kam aber gerade ein Adler geflogen. Der Adler (l'wess) sah die Lerche weinen und fragte: "Was weinst du?" Die Lerche sagte: "Der Schakal hat mir schon sechs von meinen sieben Jungen abgefordert und sie gefressen. Nun will er mir auch mein siebentes und letztes rauben. Er will den Baum heraufklettern." Der Adler sagte: "Weine nicht, Lerche, ich will dich von dem Schakal befreien."

Der Adler stieß aus der Luft herab und auf den Schakal. Er packte den Schakal mit seinen Krallen und trug ihn hinauf in die Luft. Der Adler stieg mit dem Schakal hoch hinauf zu den Wolken und fragte ihn: "Schakal, wie siehst du jetzt die Natur (dünith) ?" Der Schakal blickte ängstlich hinab und sagte: "Ich sehe die Natur ganz rot." Der Adler sagte: "Das sind die roten Kälber, die du sonst tötest und verspeist."

Der Adler stieg mit dem Schakal in den Krallen noch viel höher hinauf und fragte ihn dann: "Schakal, wie siehst du jetzt die Natur?' Der Schakal blickte noch ängstlicher herunter und sagte: "Ich sehe die Natur ganz weiß." Der Adler sagte: "Das sind die weißen Lämmer ([i]thimr), die du sonst tötest und verspeist!"

Der Adler stieg mit dem Schakal in den Krallen noch viel höher hinauf und fragte ihn dann: "Schakal, wie siehst du jetzt die Natur?' Dem Schakal war vor Angst ganz schwarz vor den Augen. Er konnte, als er die Augen öffnete, nicht mehr sehen. Er sagte: "Ich sehe die Natur ganz schwarz." Der Adler sagte: "Das sind die schwarzen Ziegen (ichesen), die du sonst tötest und verschlingst!"

Der Adler stieg mit dem Schakal in den Krallen noch viel höher hinauf und fragte ihn dann: "Schakal, wie siehst du jetzt die Natur ?" Der Schakal wagte aber vor Angst nicht mehr die Augen zu öffnen. Er sagte: "Ich sehe nichts mehr." Der Adler sagte: "Dann ist alles in Ordnung." Damit ließ der Adler ihn aus seinen Krallen. Der Schakal stürzte zur Erde hinab.

Der Schakal stürzte herab. Der Schakal starb fast vor Angst. In seiner Angst schrie der Schakal: "Sidi Abdel Kader Djilali (ein großer Heiliger), in einen See oder auf einen Strohhaufen! In einen See oder auf einen Strohhaufen! In einen See oder auf einen Strohhaufen!" Der Schakal fiel in einen See.

Der Schakal lag im See. Er versuchte zu springen. Er fand aber keinen Boden unter seinen Füßen. Der Schakal war daran, zu ertrinken.



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Der Schakal rief in seiner Angst: "Sidi Abdel Kader Djilali, ich will dir ein Maß Korn schenken, wenn ich nicht ertrinke, sondern Boden unter meinen Füßen bekomme." Der Schakal sank noch ein wenig; dann kamen seine Füße auf den Grund. Er konnte ein wenig weiter kriechen. Der Schakal kam mit dem Kopf wieder hoch. Der Schakal lief an das Ufer, schüttelte sich und sagte: "Jetzt gebe ich nichts mehr, mein Sidi Abdel Kader Djilali." Der Schakal lief von dannen.


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