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Kapitel 

Schweizerisches

Sagenbuch.


Nach

müdlichen Ueberlieferungen, Chroniken und andern gedrukten and handschriftlichen Quellen herabgegeben


und mit

erläuternden Anmerkungen begleitet von


C. Kohlrusch.

Leipzig,

Rob. Hoffnann

1854.


45. Ahasver.


C. Vogt, im Gebirg und auf den Gletschern. S. 42. Alpenrosen. L

Als Ahasver auf seiner ewigen Wanderung zum Erstenmale die Alpen überschritt, und zwar kurze Zeit nach seiner Verfluchung, wählte er die Grimsel zum Uebergangspunkte. Entfesselt bis zu ihren Duellen, welche aus dem Schooße der Berge hervorbrachen, rauschten Rhone und Aar, und wie jetzt an dem fröhlichen Rheinstrome, lebte ein munteres Geschlecht an ihren Ufern. Die sonnigen Berge waren umkränzt von Reben, Eichen und Buchen wiegten ihre grünen Häupter in den lauen Winden einer warmen Luft, und Schaaren von Singvögeln belebten die dichten Waldungen. Hinter Obstbäumen versteckt, ragten stattliche Dörfer in Mitten des fuchtbaren Geländes. Wo der Wanderer anpochte, trat man ihm entgegen und lud ihn gastfreundlich ein, sich zu erquicken an dem edlen Weine, den die Halden in überschwenglicher Menge lieferten. Aus den hellen Wohnungen, den frischen Gesichtern der Kinder, wie der Alten, glänzte das Wohlbehagen. Aber nicht weilen durfte der Unglückliche in dem Lande des Glückes; sein irrer Fuß trug ihn weiter nach dem Norden.

Mancher Jahreswechsel war über des nimmer Ruhenden Haupte dahin gerauscht, und er fand sich wieder in der Nähe der Alpen. Er gedachte des glücklichen Volkes, das er damals getroffen, der gewinnenden Herzlichkeit, womit er empfangen und erquickt worden war, des schönen Landes, das er damals durchstreifte. Er beschloß, sein Herz noch einmal an dem Anblicke zu laben. Aber düstere Ahnungen beklemmten seine Brust, als er die Maienwand hinanschritt. Dicker



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Nebel verbarg ihm das umliegende Land. Droben angelangt sah er ihn zerstieben von einem gewaltigen Windstoße, der aus dem Haslithale hervorbrach. Er glaubte verirrt zu sein. Dunkle Fichtenwälder bedeckten die steilen Flanken des Gebirges, die hohen Stämme knarrten unter der Wucht des Sturmes, der ihre Wipfel schüttelte, und heisere Raben und lichtscheue Eulen begleiteten mit mißtönendem Krächzen und wimmerndem Klageton das Geheul des Windes in den finstern Klüften. Ersuchte, lange vergebens, menschliche Wohnungen; endlich fand er ein paar Hütten, dann wieder etliche. Die Köhler, welche sie bewohnten, ein gutmüthiger, aber ernster und schweigsamer Stamm, theilten mit ihm was sie hatten, schwarzes Brod und Bier, aus den jungen Sprossen der Tannen gebraut.

Abermals, nach vielen Jahren, betrat der ewige Jude das bekannte Gebirg. Der Pfad, den er Küher gewandelt. war verschüttet, Kein Vogelgesang, kein Rabengekächz schallte ihm entgegen. Ueber kahle, nackte Felsen strauchelte sein Fuß, hier und da nur grünte ein spärlicher Grashalm. Todesschweigen herrschte, nur manchmal pfiff in durchdringendem Tone das scheue Murmelthier, Und an den Bergeshalden , wo früher Reben gegrünt und Eichen das lockige Haupt gewiegt hatten, an denselben Halden, die später Fichten getragen, da hingen jetzt mächtige Eismassen herab, und die wilden Schluchten waren erfüllt von gigantischen Gletschern, Aus dem Schnee aber ragten zerriss ene Felsnadeln in finsterer Majestät, welche sich gen Himmel zu schwingen schienen, und den eisigen Winden trotzten, welche um ihre Gipfel schnoben. Vom Menschen sah Ahasver keine Spur, und er, der Verfluchte, war das einzige Wesen dieses Geschlechtes in der Gegend, die mit ihm unter ähnlichem Fluche zu seufzen schien. Und Ahasver setzte sich auf einen Stein in der Tiefe des Thales, wo ringsumher die Felswände ihn einschlossen,



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und weinte, und seine Thränen schwollen an, und als er erleichterten Herzens den Rücken wandte, um in das Haslethal hinabzusteigen zu bewohnten Gefilden, hatten die Thränen einen kleinen See gebildet, Dessen Wasser sind, kotz der vielen Zuflüsse aus den Gletschern umher, warm, wie die ersten Thränen Ahasver's.


II

Eine andere Sage erzählt: Dort, wo sich wild und schauerlich im Aargmscher in tiefer Eiskluft zwischen dem Lauteraarhorn und den Wetterhörnern jene düstere Felsenhöhle öffnet, die, eine Zufluchtsstätte der Gemsenjäger, unter dem Namen die Jägerhütte bekannt ist, war der Ruheplatz Ahasver's, kam er auf seiner ewigen Wanderung nach der Schweiz, dem einzigen Lande auf Erden, wo der im Zorn noch gnädige Gott seinem irrenden Fuß eine kurze Rast gegönnt hatte. Dort, so berichtet die Sage, habe er, nachdem er bei seinem ersten Kommen an jener Stelle unter schattiger Rebenlaube, das zweite Mal aber in dichtem Waldgebüsch geruhet und endlich beim dritten Mal seinen Ruheplatz von starrem Eis umgeben und nichts als Schnee- und Eisfelder angetroffen habe, kündend prophezeit: er werde zum vierten Male wieder kommen; dann aber werde ein einziger Gletscher sein was vom brienzer See weg bis nach Wallis hinauf jetzt noch fuchtbares Thalgelände, grüne Matte und grasreiche Alp ist und auf ewigem Eis werde er von da aus wallfahrten und die Stätte aufsuchen müssen, wo allein er findet, was ihm sonst überall auf Erden versagt ist —Ruhe für seinen müdgehetzten Leib.

Erhaben und sinnig ist der Mythus vorstehender Sage. Er hat eine doppelte Basis, eine naturhistorische und eine christlich religiöse. Daß die schweizerischen Berge der Schauplatz gewaltiger Naturveränderungen



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waren, berichtet schon Strabo L. IV. p. 136. Sah er auch nicht den Weinstock durch Tannen und Fichtengebüsch und dieses durch das Eis der Gletscher verdrängt, so weiß er doch von Gewässern zu erzählen, welche auf den auf mitternächtlicher Seite der Alpen sich niedersenkenden Bergen getobet haben, wovon sich heute noch deutliche Spuren vorfinden. So auf der Spitze des Rühli im Lande Saanen (Joh. v. Müller, Geschichten der schweizerischen Eidgenossenschaft L. L c. 1. Anmerkung 10" S. 3), ja, Wagner in seiner Historia naturalis Helvetiœ und Justi in seiner Geschichte des Erdkörpers gedenken eines Schiffes, welches, mit vierzig versteinerten Menschenkörpern, Ankern, versteinertem Holzgeräth, siebenundzwanzig eisernen Sturmhauben und ebensoviel Helleparten angefüllt, in einem Bergwerkstollen des berner Oberlandes hundert Ellen tief unter der Erde gefunden worden sein soll. Gibt aber die Geschichte selbst zu, daß sich im Laufe der Zeit Seen in Thäler verwandeln konnten, so ist es nicht zu verwundern, wenn die Sage der allmächtig schaffenden Natur, und dies wohl nicht mit Unrecht, Kräfte zuschrieb, die Verwandlungen noch anderer Art hervorbrachten; daß sie aber als deren Zeugen den ewigen Juden auftreten läßt, ist eine höchst glückliche Wendung, die dem Ganzen nicht nur eine poetische sondern auch zugleich eine christlich-religiöse Deutung verleiht, indem das Elend des von Christus zum Nichtsterbenkönnen Verfluchten, der ärgsten Pein, die je menschliche Vorstellung ersann, sich gegenüber diesen großartigen Verwandlungen um so gräßlicher und furchtbarer abzeichnet. Was nun den Mythus vom ewigen Juden selbst betrifft, so geht man wohl am sichersten, wenn man der Ansicht Norks (S. sein Kloster B. XII. S. 428), folgt, die in ihm das ganze jüdische Volk repräsentirt findet, "das sich mit einem Gottesmorde besteckte, daher ein Scheinleben fortzuschleppen verurtheilt ist, gestrichen aus der Liste der Völker, dennoch nicht unterging, sondern als Zeugniß seines maßlosen Frevels bis zum jüngsten Tage in der Welt herumziehen muß." Dies erkennt Nork darum als richtig an, "weil gerade die Zeit, in welcher die Judenverfolgungen die Lieblingsleidenschaft des christlichen Welttheils geworden waren, nämlich das vielgepriesene Mittelalter, zugleich auch die Entstehungsperiode der Sage vom wandernden Schuster aus Jerusalem ist," wofür er den Beweis in dem Umstand erblickt, daß dieselbe erst im dreizehnten Jahrhundert auftauchte, aus welchem er folgenden Brief des im Jahr 1259 verstorbenen englischen Chronisten Mathias Paris als ältestes Zeugniß anführt:"Einst kam ein armenischer Bischof nach England, den man nach jenem Joseph fragte, über den viele Reden gehen unter dem Volke, wie er, als unser Herr litt, zugegen war und mit ihm sprach, und bis auf den heutigen Tag noch lebe, zum Beweise der Wahrheit der christlichen Lehre, ob er ihn jemals gesehen oder von ihm gehört, und er erzählte von



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ihm, was er wußte, Eines nach dem Andern. Ein Ritter aus Antiochien oder aus des Erzbischofs Familie, der seinen Dollmetscher machte, und sonst auch einem Diener des Herrn Abtes Heinrich Spigurnol bekannt war, sprach, als er die Reden Jenes übersetzte, in französischer Sprache: Mein Herr kennt den Mann recht wohl, und kurz vorher, ehe er seine Reise in das Abendland antrat, speiste derselbe Joseph von Arimathia an dem Tisch meines Herrn, des Erzbischofs, und der hatte ihn sehr oft schon gesehen und reden hören. Als man ihn aber weiter fragte, was denn zwischen unserm Herrn Jesus Christus und genanntem Joseph sich begeben , erwiderte er: zur Zeit des Leidens des Herrn, als er gefangen von den Juden vor den Landpfleger Pilatus in seinen Palast geführt wurde, auf daß er von ihm gerichtet würde, und als ihn die Juden beharrlich verklagten, sprach Pilatus, obwohl er keinen Grund, ihn zu tödten, an ihm gefunden, also zu ihnen: "Nehmt ihn hin und richtet ihn nach euern Gesetzen!" Als aber das Geschrei der Juden immer stärker wurde, da schenkte ihnen Pilatus auf ihr Bitten den Barrabas, Jesum aber überlieferte er ihnen, daß sie ihn kreuzigten. Wie nun die Juden Christum aus dem Pallaste schleppten und er an die Pforte gekommen war, da schlug ihm Cartaphilus, der Pförtner des Pallastes und des Pontius Pilatus, wie der Heiland durch das Thor ging, verächtlich mit der Faust in den Nacken und sprach spottend: "Geh hin, Jesus, immer gehe schneller, was zögerst Du?" Jesus aber sah sich mit strengem Blicke um und sprach zu ihm: "Ich gehe, Du aber sollst warten, bis ich wieder komme." Wenn man aber nach den Evangelisten reden wollte: "Der Sohn des Menschen geht, wie geschrieben steht, Du aber wirst meine Ankunft (zum Gericht) erwarten." Und so wartet, nach des Herrn Wort, noch bis heute jener Cartaphilus, der zur Zeit des Leidens unseres Herrn ungefähr 30 Jahre alt war, und allemal, wenn er wieder hundert Jahre verlebt hat, wird er von unheilbarer Schwäche ergriffen und fällt in eine Ohnmacht, dann aber wird er wieder gesund, lebt wieder auf, und kommt wieder in das Alter, in dem er stand, als der Herr litt, so daß er mit dem Psalmisten (103, 5.) sagen kann: "Meine Jugend verjüngt sich wie der Adler."" Von diesem Cartaphilus erzählt der englische Chronist dann weiter: er habe sich später als der heilige katholische Glauben sich immer mehr ausbreitete, von dem Ananias taufen lassen und den Namen Joseph angenommen, unter welchem er in den beiden Armenien und anderen Gegenden des Morgenlandes unter den Bischöfen und andern Prälaten als ein Mann von heiligen Sitten und heiliger Rede gelebt habe. Von dem Berichte des Mathias Paris geht Nork zu einer andern Erzählung über, welche Chrysostomus Dudulaeus überliefert und nach der der ewige Jude sich im Jahr 1547 in Hamburg und in Danzig, im Jahr 1575 in Madrid, im I, 1599 in Wien und 1601 in Lübeck, Reval, Krakau



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und Moskau gezeigt haben soll, also geraume Zeit nachdem die erste Kunde von ihm nach Europa drang. Nach Chrysostomus Dudulaeus theilte der ewige Jude einem gewissen Paulus von Eitzen ("der heiligen Schrift Doktor und Bischof zu Schlesewik"),mit eigenem Munde über sich und sein Schicksal Folgendes mit:"Er fey ein geborner Jude und von Jerusalem bürtig, mit Nahmen heiße er Ahasverus, seines Handwerks wer er ein Schuchmacher, daselbst auch bei der Creuzigung Christi und seinem Tode damals persönlich vorhanden gewesen, ond also von der Zeit hero lebendig blieben, viel Länder und Städte durchgereiset, wie er dann zur Bestetigung dessen viel und mancherlei Kundschaften umstende." Auf Doktor Paulus von Eitzens ferneres Befragen aber habe er folgende nähere Auskunft gegeben: "er sey zur Zeit der Creuzigung Christi zu Jerusalem wohnhaftig gewesen, den Herren Christum, welchen er damals mit den Jüden vor einen Ketzer gehalten, auch anders nicht gegleubet noch gewußt, er sey ein Verführer deß Volkes gewesen, mit Leiblichen Augen in der Person gesehen, daher habe er sein bestes, sampt andern verwenden helffen, damit dieser Aufrührer, vor den sie ihn zu der Zeit gehalten, möchte vertilget, und stracks hinweg gereumet werden. Wie aber die Sentenz endlich vom Pilato gesprochen, haben sie ihn-alsbaldt für seinem Hause fürüber führen müssen . Da sey er eilends heimgegangen, und habe er seinem Haußgesinde die sachen vermeldet, damit sie Christum Augenscheinlich sehen, und was er für einer were, auch verstehen möchten.""Wie solches geschehen habe er selbst sein kleines Kind auf die Armen genommen, mit ihm für seine Thür gestanden, den Herrn Christum zu sehen. In deme nun Christus unter dem schweren Kreuze daher gefüret, hat er an seinem deß Schusters Hause zu ruhen sich angelehnet, und sey daselbst ein wenig stille gestanden, wie aber der Schuster aus Eiffer und Zorn, und umb Ruhms willen, bey andern Jüden, den Herren Christum fortzueilen abgetrieben, und gesprochen: Er soll sich weg verfügen, dahin er gehörte, so habe ihn Christus drauf stracks angesehen, und zu ihm mit diesen Worten angesprochen: Ich will allhie stehen und ruhen, aber du solt gehen bis an den Jüngsten Tag.""Hierauff habe er alßbald sein Kind niedergesetzt, und gar nicht länger daselbst bleiben können, sondern Christo immer nachgefolget, und also gesehen, wie er elendiglich gecreutziget, gemartert und getödtet worden. Nach Vollendung desselben hat es ihme stracks unmöglich zu sein gedäucht, wiederumb in die Stadt Jerusalem zu gehen, were hernacher nicht mehr darin gekommen, auch sein Weib und Kind niemals wieder gesehen, besondern also bald frembde Lender eins nach dem andern, wie ein betrübter Pilgram durchgezogen. Und da er einmal nach etlichen viel Jahren, wieder gegen Jerusalem wollen ziehen, habe er alles zerstöret ond jemmerlich



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zerschleiffet gefunden, also das er nichts daselbst gesehen, das kein Stein auf dem andern gewesen sey, und er nichts habe wissen zu erkennen, was zuvor allda war köstliches vorhanden gewesen. Was nun Gott mit ihm vorhabe, daß er in diesem elenden Leben so herumb gewandert, ond so elendiglichen ihn anschawen lasset, könne er nicht anders gedenken, Gott wolle an ihm vielleicht biß an den Jüngsten Tag wider die Jüden einen Lebendigen Zeugen haben, dadurch die Ungläubigen und Gottlosen des Sterbens Christi erinnert, und zur Buße bekeret werden sollen, Seines theils möchte er zwar wohl leiden, das ihn Gott in den Himmel aus diesem schnöden Jammerthal abforderte." Im weiteren Verlaufe der Erzählung des Chrysostomus Duduhaeus heißt es dann noch von diesem wandernden Schuster, daß er von allen Begebenheiten und Ereignissen zur Zeit Christi sattsam Bericht gegeben habe, so daß er als eine völlig glaubwürdige Person erschienen sei. Auch habe er sehr still und eingezogen gelebt, wenn er zu Gaste geladen, mäßig gegessen und getrunken, von Geschenken aber "nicht viel ober zween schilling genommen, damon er doch alßbald wiederumb den Armen außgetheilet habe, mit Anzeigung, er bedürfe keines Geldes, Gott werde ihn wohl versorgen, denn er habe seine Sünde berevet, ond was er unwissend gethan, Gott abgeben."Nach andern von Nork aufgefundenen Notizen soll sich der ewige Jude noch in Paris im Jahr 1604 gezeigt haben; dann wieder zu Stade bei Hamburg in der Kirche im Jahr 1633; in Brüssel im I, 1640 in Leipzig, wo er als alter Bettler erschienen und reichlich Almosen angenommen , im Jahr 1642; in München vor dem Isarthore im Jahr 1721, von wo aus, da man ihn nicht eingelassen, er sich nach Heidthausen begeben und nach ächter Wanderjudenmanier Geschäftchen mit "Geschmust und Perlen" gemacht; in Naumburg (hier fehlt die Zeitangabe) habe er in der Kirche während der Predigt weder stehen noch sitzen können, dort habe er auch erzählt, keine Speise, kein Trank komme über seine Lippen und doch sei er ohne Ruhe und ohne Schlaf so viele Jahre hindurch erhalten worden; auch auf Jütland in Dänemark und in Schweden sei er erblickt worden, ebenso soll er in Böhmen und zu Anfang des 18, Jahrhunderts in England gewesen sein, wo sein Auftreten an den später so berüchtigten Grafen von St. Germain erinnert und er sich allen frühern Angaben entgegen für einen Offizier des hohen Rathes von Jerusalem ausgab, der, als Christus den Pallast des Pilatus verlassen, demselben einen Stoß versetzt und gesagt habe: Packe dich, warum weilst du noch hier? Jesus aber habe ihm geantwortet: ich gehe, du aber sollst bis zu meiner Wiederkehr wandern. Auf vorstehende Erzählungen läßt Nork eine seiner Personifikationstheorie widersprechende Ansicht folgen, die Graße's, der dem Mythus vom ewigen Juden einen geschichtlichen Ursprung zu unterbreiten sucht, wobei er freilich selbst sagt, daß er diese Behauptung



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nicht für diejenigen aufstellt, welche die heiligsten Wunder Christi und die Zuverläßigkeit der Apostel in Zweifel ziehen. Daß keiner der Evangelisten jenes Ereignisses erwähnt, ist für Graße von keiner besondern Erheblichkeit, da dieselben bei den vielen wunderbaren Begebenheiten, die sich bei Christi Kreuzigung und Auferstehung und vorher bei seiner Verurtheilung zutrugen, leicht eines im Vergleich mit diesem nur unbedeutenden Umstandes Erwähnung zu thun vergessen konnten, indem ja der Evangelist Johannes XXI. V. 25 selbst sage: "es sind auch viele andere Dinge, die Jesus gethan hat, welche, so sie sollten eins nach dem andern geschrieben werden, achte ich, die Welt würde die Bücher nicht begreifen, die zu beschreiben wären", und es wieder an einer andern Stelle desselben Apostels XX., V. 30 heiße: "auch viele andre Zeichen that Jesus vor feinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buche". Auffallend, fährt Graße dann fort, sei es allerdings, daß keiner der älteren Geschichtschreiber der christlichen Legende etwas von jenem Ereigniß berichtet, diesem könnte man jedoch das rastlose Umherstreifen des ewigen Juden, die Kämpfe, welche kurz nach Christi Kreuzigung zwischen den Partheien in Palästina und dann mit den Römern begannen, entgegenstellen, welche Umstände leicht eine Mittheilung dieser Begebenheit an solche Personen, welche sie niederschreiben und so der Nachwelt überliefern konnten, verhindern mochten, und dann könnte man ja auch annehmen, daß diese Legende noch irgendwo in einer verloren gegangenen oder auch nur in dem Staube einer alten Bibliothtk vergrabenen kirchengeschichtlichen Handschrift aufbewahrt und nur noch nicht aufgefunden worden sei; jene aber, welche in den zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten aufgetretenen ewigen Juden verschmitzte Betrüger, wie dies bei den vielen Pseudomessten der Fall gewesen sei, sehen wollen, welche die ganze Begebenheit ersonnen oder doch wenigstens die Sage zu ihrem Nutzen ausgebeutet hätten, glaubt Graße hauptsächlich durch den Umstand abfertigen zu können , daß der im 16. Jahrhundert durch Europa wandernde Jude durchaus kein Geld genommen und alle Unterstützung zurückgewiesen habe und nur an drei Orten scheine das Gegentheil der Fall gewesen zu sein, nämlich zu Naumburg, zu Leipzig und in England, allein hier gerade könnte ein Betrüger den Namen des ewigen Juden gemißbraucht und mit der Erzählung seiner Schicksale die Herzen frommer Gläubiger gerührt und so seinen Beutel gefüllt haben. In der Verschiedenheit, welche in der Aufführung des Namens und des eigentlichen Verbrechens des ewigen Juden bei den Berichterstattern jenes Ereignisses auffällig ist, steht Graße ebenfalls keinen Beweis für die völlige Erdichtung der Sache selbst, da ja die ganze Sage auf Tradition beruhe und im Laufe der Zeit und durch das öftere Wiedererzählen solche Veränderungen leicht hätten entstehen können. meisten verdächtig erscheint Gräße der Umstand, daß



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Christus bei diesem Menschen eine Ausnahme von seiner unendlichen Langmuth gemacht haben soll, da er ja, als er an's Kreuz geschlagen, für seine Peiniger gebetet habe: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!" Hierüber hilft er sich jedoch mit dem allerdings etwas zweifelhaft gefaßten Schluß hinweg: "es wäre denn, daß Christus durch die schreckliche diesem Sünder auferlegte Buße, gleich wie nachher durch die Zerstörung von Jerusalem und die merkwürdige Zerstreuung der jüdischen Nation durch alle Länder und Völker, der Nachwelt ein Zeugniß von seinem göttlichen Berufe und seiner Wunderkraft habe geben wollen." Aus all' dem ergibt sich aber, daß Graße die Sage vom ewigen Juden mehr im Interesse des Glaubens an die Wunderkraft Christi, als im Interesse historischer Wahrheit vertheidigt. Alles, was er anführt, sind Möglichkeitsgründe , die zur Feststellung der letztern nicht das Geringste beitragen können, und durch welche Nork's oben angeführte Meinung auch nicht einen Augenblick wankend gemacht werden kann.Als zu obiger Sage gehörend, muß schließlich hier noch eines alten, aus ledernen Riemen geflochtenen Schuh's erwähnt werden, der in einer Plunderkammer unter der Bibliothek in Bern liegt und von dem es heißt: eben bei jener Wanderung über die Grimsel habe ihn Ahasver von seinem Fuß verloren.
Copyright: arpa, 2015.

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