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ARNOLD BUCHLI

Schweizer Legenden

GUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967


DIE KLINGENDE TANNE

Im obern Gorns, da, wo die Bäche aus den Gletschern zu beiden Seiten des Tals in die Rhone rauschen, ragt eine hohe, weiße Kirche über sonnengeschwärzten Häusern. Das ist das stattliche Bauerndorf Reckingen. Der Ruf der Glocken unter dem geschweiften Turmhelm dringt weit über die Schindeldächer hinauf zu den steilen Roggenäckern und Alpweiden am Hohbach.

Aber noch eifriger als ihrem Läuten horchten einstens die Menschen auf ein wunderbares Klingen, das vom Walde herunter tönte, so oft das Ave vom Kirchturm erscholl. Niemand wußte, woher es rührte. Auch die sonst so findigen Hirtenbuben kamen nie hinter das Geheimnis. Viele Jahre vernahm man die lieblichen rätselhaften Weisen, und jeden Abend pflegten die Bewohner auf die Dorfgassen hinaus zu treten oder zur Winterzeit wenigstens die Butzlischeiben aufzustoßen, wenn sie vom Walde herunter hallten.

Nur einer im Dorfe achtete nicht darauf, weil er halb taub war und das herrliche Tönen nicht zu seinem Ohre drang. Dafür waren seine Hände begnadet, denn er wußte das Schnitzmesser zu führen wie kein zweiter die Rhone auf- und abwärts.

Einmal trug es sich zu, daß er beim Suchen nach geeignetem Werkholz im Hohbachwalde auf eine mächtige Tanne von gar ebenmäßigem Wuchse stieß. Die beschloß er zu fällen, denn er hatte vor, ein Muttergottesbild für die Dorfkirche zu schnitzen, und dazu brauchte er einen besonders schönen Stamm. Der Baum wurde umgeschlagen und zu Tal geschafft, und dann machte sich der geschickte Mann ans Werk. Noch nie war ihm eine Arbeit so leicht vonstatten gegangen. Ein glühender Eifer beseelte ihn, und der wegen seiner Schwerhörigkeit einsame Schnitzer legte die ganze Inbrunst eines gläubigen Herzens in



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das Bildnis, daß es in Haltung und Antlitz himmlische Hoheit und natürliche Anmut gar wundersam vereinte. Und als es nach Wochen vollendet in der Werkstatt stand, rühmten es alle. Das ganze Dorf kam, es anzuschauen, denn ein so schönes Schnitzbild hatte noch keiner gesehen.

An einem Muttergottestage wurde es in der Kirche aufgestellt. Gespannt schauten aller Augen hin, als es auf seinen Platz am Hochaltar gehoben ward; man hätte das Rieseln in der Sanduhr an der Kanzel hören können. In diesem Augenblick bewegte dasMarienbild leise die Lippen, öffnete sie, und jetzt schwebte ein wundersamer Gesang durch das Gotteshaus, der nämliche, den man früher immer vom Hohbachwalde herunter vernommen hatte, der aber unerklärlicherweise seit Wochen verstummt war. Nun wußte man es, das war die Bergtanne gewesen, die jedesmal das Aveläuten mit ihrem holden Echo begrüßt hatte.

Andächtig lauschte die ergriffene Gemeinde. In seinem Stuhl am Wandgetäfer aber weinte und schluchzte einer laut. Es war der Schnitzer, dem plötzlich die Ohren geöffnet wurden für die himmlische Weise, die ihm heute durch die Gnade der Muttergottes zum erstenmal zu Herzen dringen durfte, nachdem er sein Meisterwerk so eifervoll geschaffen.

Es war auch sein letztes Werk. Meißel und Hammer, die ihm bei der Vollendung gedient, rührte er hinfort nimmermehr an.


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