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ARNOLD BUCHLI

Schweizer Legenden

GUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967


DIE GLUTBLUMEN

Seitab von der Landstraße, an die sich das neue Lostailo gestellt hat, steigen die letzten, noch übrig gebliebenen Häuser des ursprünglichen Dorfes am Hang empor. Über ihnen erhebt sich die Kirche zu St.Georg auf dem Platze eines einst berühmten heidnischen Tempels. Grauschwarz vor Alter und Rauch sind die Mauern der niedrigen Häuschen und dennoch von ehrwürdigem Aussehen mit den römischen Rundbogen ihrer Eingänge, mit ihren steil gewundenen Steintreppen und lauschigen Winkeln.

Von jenen fernen Zeiten, da die alte Ortschaft in ihrer Blüte war, erzählen die Legenden des Tales nichts Gutes. Die Bewohner, obschon wohlhabend, waren gewissenlos und von schlechten Sitten, fast alle auch den Göttern zugetan, denen droben im Tempel geopfert wurde. Die wenigen, die ihr Herz dem



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Glauben an Jesus den Gekreuzigten geöffnet hatten, vermochten gegen die Überzahl der andern nicht aufzukommen.

Der Schlimmste von ihnen war zugleich der Reichste und Angesehenste im Ort, in dessen Hand der Statthalter der römischen Provinz die höchste Gewalt gelegt hatte. Diese übte er nach Lust und Laune aus, und seiner Willkür waren keine Schranken gesetzt.

Als die Schönheit einer sittsamen, aber armen Jungfrau seine Liebe erweckte, wähnte er, sie sollte sich glücklich schätzen, als seine Gattin in sein Haus einziehen zu dürfen, das gleich einer Burg alle Dächer des Dorfes überragte. Allein das Mädchen wies ihn ab. Sie fühlte aus seinem hochfahrenden Gebaren die Falschheit und den bösen Sinn heraus und verachtete sein prahlerisches Reden. Zudem war sie Christin und verabscheute die blutigen Opfer, die er den römischen Gottheiten darbringen ließ.

Seine Schmeicheleien wurden zu Drohungen. Doch sie blieb fest, trotzdem die Ihrigen ihr zuredeten, dem Mächtigen sich zu beugen. Zuletzt aber, als er ihre Standhaftigkeit unerschütterlich erfand, schlug seine Liebe in Haß um, und der Heimtückische sann nur noch darauf, wie er seine Rachsucht an der Jungfrau stillen könnte. Er stellte sie vor Gericht, und weil er selber auch der Richter war, fiel das Verfahren kurz aus. Er verurteilte sie als Dienerin eines staatsfeindlichen Gottes zum Feuertode und befahl unverzüglich, auf einer Wiese außerhalb des Dorfes einen Scheiterhaufen zu errichten.

Und die Unglückliche ward darauf festgebunden und erlitt einen qualvollen Tod, indes die herzlose Bevölkerung, aufgestachelt von dem verruchten Statthalter und den Heidenpriestern, hohnlachend zuschaute. Doch der Himmel tat durch ein Wunderzeichen allen kommenden Geschlechtern die Unschuld der Jungfrau kund. Kaum hatten nämlich die Flammen ihren reinen Leib verzehrt, sieh, da sproßte zwischen der noch rauchenden Asche im Runde der Feuerstätte ein dichtes Gebüsch blutroter Blumen empor, die weit umher einen wundersüßen Duft verbreiteten! Und wo ein Funke über die Aschenstelle



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hinausgesprüht war und einen Tropfen des schuldlosen Blutes hinausgetragen hatte auf die Wiese, da leuchtete im selben hellen Rot ein Blütenbüschel.

Und bis auf den heutigen Tag blüht dieses Blumenwunder in jener Wiese der Centena, der Landsgemeinde, auf, so oft die sommerlichen Tage wiederkehren, da der Scheiterhaufen errichtet ward und jene fromme, makellose Seele sich aus den Flammen gen Himmel erhob.

Und wehe, wenn die Sense des Schnitters, den Bannkreis ihres blutfarbenen, duftenden Rots mißachtend, die Blumen trifft! Unweigerlich zürnt dann der Himmel, verhüllt sich mit Gewölk, und der Regen verdirbt dem Bauer die Heuernte.

Doch jenen ruchlosen Wüterich und die ganze Rotte seiner Anhänger ereilte die Strafe eines höheren Richters. In der Nacht, die auf den Rachetaumel der Hinrichtung folgte, brachen vom Berg Groven die Gipfelfelsen nieder auf das Dorf und begruben es samt seinen gottlosen Bewohnern unter einem Sturze von ungeheuren Granitblöcken. Auf die Wiese aber, wo die Jungfrau ihr Leben gelassen, fiel nicht ein einziger Stein.

Nur wenige Häuser blieben von der Verschüttung verschont. Eines, das älteste und graueste, steht heute noch, seltsamerweise ganz zu oberst im Dorfe unweit von Rugn, wie man den felsübersäten Irrgarten des Bergsturzes nennt, den Moos, Büsche und Bäume im Laufe der Jahrhunderte freundlich übergrünt haben. Und nahe dem Häuslein ragt in der Wiese ein gewaltiger Stein über die schmale First des Daches empor.

Dort wohnte zu den Zeiten des ersten Dorfes eine Witwe mit ihrer erwachsenen Tochter, arme, aber rechtschaffene Leute, die insgeheim auch dem Evangelium anhingen. Nun geschah es an jenem Abend des göttlichen Strafgerichtes, als die beiden am Kaminfeuer saßen, daß plötzlich ein Blitz die rußige Küche erhellte. Und in golden funkelndem Scheine stand eine hehre Gestalt gleich der eines Erzengels vor ihnen. Er ermahnte sie, diese Nacht nicht über die Schwelle des Hauses zu treten und weder Fenster noch Türe zu öffnen, was auch geschehen möge. Und sowie er dies gesprochen, war er verschwunden.



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Nicht lange, so erhob sich ein furchtbarer Sturm, der die Mauern des Hüttleins umbrauste und das Dach wegzureißen drohte, und gleichzeitig war droben vom Berge ein entsetzliches Tosen und Donnern zu vernehmen. In großer Angst faltete die zitternde Mutter die Hände und flehte den Himmel um Beistand an. Die Tochter aber vermochte ihrer Neugier nicht zu gebieten und schaute aus dem Fenster, um zu erkunden, was draußen geschehe. Da sah sie, wie der Erzengel blitzumflammt eben mit starkem Arm einen ungeschlachten Stein aufhielt, der vom Bergkamm heruntergestürzt war und mit dumpfem Gepolter auf ihr Haus zurollte, während links und rechts sich andere Felsstücke donnernd gegen das Dorf hinunter wälzten.

Doch nur ein Wimperzucken lang war der Vorwitzigen das zu sehen verstattet. Im nächsten Augenblick taumelte sie mit einem Schmerzensschrei auf die Mutter zu. Sie war plötzlich erblindet.

Als am andern Morgen die Sonne aufging, wurde offenbar, welche furchtbare Zerstörung der Bergsturz in der Nacht angerichtet hatte. Weit umher lagen die mächtigen Steine zwischen den zertrümmerten Häusern und Ställen wirr durcheinander.

Dasjenige der frommen Witwe oben im Dorfe war stehen geblieben und dicht vor ihm auch der Felsblock, welcher es zermalmt haben würde, wenn der Erzengel ihn nicht zurückgehalten hätte. Noch ist der Eindruck seiner Hand in dem Gneis zu erblicken, so gewaltig war ihr Stoß gewesen.

Die beiden Bewohnerinnen waren gerettet. Die Tochter aber hatte der Engel bestraft für den leichten Sinn, mit dem sie, unerschüttert von dem Schrecken des Ungewitters, die empfangene Warnung mißachtet und mitangesehen hatte, was sterbliche Augen nicht sehen sollten. Und auf dem verschonten Häuslein lastete, so erzählt das Volk, der Fluch auch fürderhin, indem einer seiner Bewohner stets mit Blindheit geschlagen ist.

Die frühesten, verachteten und verfolgten Zeugen des Evangeliums waren doch die Verkünder einer neuen Zeit und Gesittung gewesen. Denn droben am Berghang, wo der heidnische



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Tempel gethront, erstand die erste christliche Kirche im Tal, die lange die einzige der Mesolcina blieb.


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