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ARNOLD BUCHLI

Schweizer Legenden

GUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967


DIE WEISE DES HIRTEN

Ein junger Hirt war gekommen mit all den andern, die das wunderbare Kind schauen wollten, dessen Geburt die Engel des Himmels Bergen und Tälern verkündet hatten.

Da drängten sie sich am frühen Morgen vor der Grotte und suchten einen Blick hinein zu tun nach dem Kindlein in der Krippe. Und alle trugen sie eine Gabe in den Händen nach ihrem Vermögen, ihrer Hantierung und dem glücklichen Gedanken des Gebers. Und einer nach dem andern trat hinein, um sein Angebinde den heiligen Eltern zu überreichen.

Der schmächtige Bursche aus Galiläas Bergen aber blieb in einem Winkel neben dem Eingang stehen und hielt seinen Kopf mit den dunkeln, krausen Locken gesenkt. Er scheute sich, näher zu der Krippe heran zu gehen. Doch die Muttergottes hatte ihn bemerkt, kam mit einer gütig einladenden Gebärde auf ihn zu und munterte ihn auf, zur Krippe zu treten. «Ich kann dem Kinde keine Gabe reichen, aber ich möchte ihm ein Lied auf meiner Hirtenpfeife blasen», sagte er verschämt. «Tu das, mein Sohn! Du wirst es damit erfreuen», ermutigte ihn die junge Mutter.

Doch da erschien eben eine gar vornehme Schar von Besuchern im Eingang. Die drei Könige aus dem Lande gen Morgen waren angekommen mit ihrem stolzen Gefolge von Leibwächtern und Dienern in prächtigen Gewändern. Herrlich schimmerten die elfenbeingeschnitzten Kästchen und Büchsen, in denen die Kämmerer ihrer Herren Gaben trugen: Gold, Weihrauch und Myrrhen.

Eingeschüchtert wich der Hirt zurück in den Winkel und drückte seine einfache Rohrpfeife an die Brust. Doch Maria suchte ihn mit den Augen, indessen die drei Könige und ihr Geleite die Knie beugten vor der Krippe, anzubeten den Neugeborenen, über dessen Haupt die Magier den Wunderstern hatten aufglänzen sehen. Und sie kam abermals auf den Felsenwinkel zugeschritten, wo der Bursche stand, faßte ihn bei der Hand und nickte ihm liebreich lächelnd zu. «Komm zur Krippe



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und schenke dem Kinde ein Lied deiner Hirtenpfeife, guter Knabe!» forderte sie ihn noch einmal auf. Und sie führte ihn, den scheuen, barfüßigen Sohn der galiläischen Berge in seinem Schaffell, durch das prunkvolle Geleite der drei Könige bis zur Krippe. Dort blieb er stehen und setzte zaghaft die Pfeife an den Mund. Aber wie er den Blick in ehrfürchtigem Staunen auf das heilige Kind richtete und dieses ihm aufmerkend zulächelte, da faßte er Mut und spielte mit Kraft und Andacht sein allerschönstes Lied, das er sich ausgeprobt auf einsamer Berghöhe unter seinen Schafen. Und siehe, in der weiten Grotte herrschte Stille, daß der Ton der Pfeife hell erklang am felsigen Gewölbe! Und alle lauschten, Könige und Bauern, Wanderer und Jäger und auch die Frauen und Kinder, die eben noch so eifrig gewundert und geplaudert von dem göttlichen Kinde und von den fremden Fürsten und ihren köstlichen Gaben. Es horchten Esel und Öchslein im Hintergrunde der Grotte und die Schafe, die hinter ihren Hirten hergelaufen waren. Die Tauben und die Schwalben, die in den Felsennischen ihre Nester hatten, hörten auf zu gurren und zu zwitschern. Ja, selbst der Bach, der sonst so eilig und geschwätzig draußen am Eingang vorüberschoß, stand eine Weile still, um das träumerische Lied des Schäfers nicht mit seinem Rauschen zu stören. Und alle die Menschen drinnen und draußen vor der Grotte lauschten mit feuchten Augen und stimmten in ihren Herzen mit ein in den Ton der frommen Ehrfurcht und in den Dank aller Sterblichen an Gott den Vater, der ihnen den Erlöser gesandt. Und als das Lied ausklang in süßes Hauchen, ging es wie ein tausendstimmiges Schluchzen durch den Raum, als schauten in diesem Augenblick alle Mütter der Welt kniend auf das himmlische Kind, seinen jungen Schlummer und seinen Erdenweg zu segnen.

Auch der Schäfer war auf die Knie gesunken. Der Blick des Knäbleins in der Krippe ließ ihn die Menge ringsum vergessen. Ihm war, als sei er allein auf der Welt vor der heiligen Mutter und ihrem Kinde. Sein Herz wollte ihm in der Brust zergehen vor einem unnennbaren Glück, als der neugeborene Gottessohn seine Händchen ihm entgegenhob, wie um ihm zu danken.



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Und da er sein Lied geendet und seine Schalmei an die Brust drückte, während ihm die Tränen der Freude über die sonngebräunten Wangen rollten, trat die heilige Mutter auf ihn zu, legte ihre weiche Hand ihm auf das Haupt und sagte leise, zu ihm niedergebeugt: «Sei gelobt für dein Lied, Knabe! Du hast an diesem Morgen die allerschönste Gabe dargebracht dem Sohne Gottes, da du deines guten Herzens Stimme tönen ließest.» Und laut vor allem Volk fügte sie hinzu: «Gesegnet sei dein Stand und Amt in der ganzen Welt für immer, Schäfer! Mein Sohn, er wird Besseres nicht zu wirken vermögen als dir es gleichzutun und ein guter Hirte zu werden allen Menschenherzen.»

Und als der junge Schäfer schüchtern wieder und linkisch wie zuvor dem Ausgang zuschritt, da neigten sich die purpurbekleideten Könige vor ihm, und bewundernd schauten alle, die stolzen Kämmerer und die Bauern, die Frauen und Kinder auf ihn und gaben ihm Raum, wie er durch die Menge davonging, wieder zu hüten und zu hirten seine Herden auf den Bergen Galiläas.


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