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ARNOLD BUCHLI

Schweizer Legenden

GUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967


DIE RÄCHENDEN RABEN

Es lebte zu der Zeit Karis, des großen Kaisers, ein wohlgeborener Graf mit Namen Berthold von Sulgen an der Donau, reicher an Tugenden und Gottesfurcht als an vergänglichen Glücksgütern. Dieser hatte unter andern Kindern einen Sohn, Meginrad geheißen, der war geboren im 805. Jahr nach der heilbringenden Geburt Christi. Als der Knabe fünf Jahre alt geworden, führte ihn sein Vater auf die Insel Reichenau in das Kloster, dessen Abt Hatto ein naher Blutsverwandter des Grafen war. Und Meginrad befliß sich, in der heiligen Schrift zu lesen, und die übrige Zeit legte er in der Abschreibung des alten und neuen Testamentes und anderer guter und nützlicher Bücher an, wie die Merkbücher der Reichenau klärlich bezeugen.

Zu denselben Zeiten war am Züricher See oberhalb Jona ein Klösterlein, Oberbollingen genannt. Dessen Mönche begehrten von dem Abt zu Reichenau. daß er ihnen einen Lehrmeister schicken sollte. Da ward im Kloster keiner gefunden, der zu diesem Amt tauglicher gewesen wäre als Meginrad. Er verwaltete es mit allem Fleiß; allein obwohl er mit vielen großen Geschäften beauftragt wurde, dachte er doch, wie er Gott in einer Einöde dienen und alldort sein Leben beschließen könnte.

Nun ward er von dem Landvolk berichtet, daß jenseits des Sees ein hoher Berg wäre, der Etzel, und dahinter eine große Wildnis, der Finstere Wald genannt. Meginrad begehrte diese Gegend selbsten zu erkunden, nahm einen jungen Mönch mit, und sie fuhren in einem Schifflein über den See. Darnach führte ein Knabe sie auf den Etzel. Als er aber gemerkt, daß in dem Finstern Wald viele wilde Tiere waren, ging er jenes Mal nicht weiter, sondern nachdem er den Platz seiner künftigen Wohnung beschaut, stieg er den Berg wiederum hinab.

Nun hatte er keine Ruhe. Sein Sinn stand täglich nach der Einöde, und zuletzt verließ er mit seines Abts Erlaubnis die Schule und das Kloster, fuhr über den See und ging allein auf den Etzel, im Jahr nach Christi Geburt 852. Dort machte er sich selber ein Hüttlein, darin er sich aufhielt und Gott mit Fasten



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und Beten diente. Eine fromme, reiche Witfrau zu Altendorf aber versah ihn wöchentlich einmal mit Speise und sonstiger Notdurft und ließ ihm auch eine Kapelle errichten. Da er nun sieben Jahr auf dem Etzel gewohnt und von seinem heiligen Leben allenthalben herumgesagt ward, kam täglich viel Volk zu ihm, seine geistliche Ermahnung anzuhören.

Den großen Zulauf aber mochte er auf die Länge nicht erdulden. Deswegen gedachte er seine Wohnung tiefer in der Einöde aufzurichten. Nun begab es sich auf eine Zeit, daß etliche Mönche von Oberbollingen ihn als ihren geliebten geistlichen Vater und Lehrer besuchten. Mit denen ging er in den Wald zu einem dort vorbeifließenden fischreichen Wasser, die Sihl genannt. Und indes die Gefährten sich mit dem Fischen belustigten, ging der heilige Mann in Betrachtung der Wildnis allein spazieren. Da fand er einen ebenen Waldboden und einen schönen Brunnen, jetzt Unserer lieben Frau Brunnen genannt. Diese Stätte gefiel Meinrad zu einer Wohnung gar wohl.

Nun lebte damals zu Zürich in dem Kloster, zum Fraumünster geheißen, eine andächtige Äbtissin, Hildegard, König Ludwigs des Frommen Tochter, die den heiligen Meginrad auf dem Etzel oft besuchte. Derselben offenbarte er, wie er willens wäre, sich weiter fort in den Wald zu begeben. Als die Äbtissin solches hörte, erbot sie sich zu aller ihr möglichen Hilfe. Darauf verließ Meginrad die Wohnung auf dem Etzel und zog in den Finstern Wald, der an das Land Schwyz stößt und ringsum von Bergen umgeben ist. Da die Äbtissin Hildegard vernommen, daß der heilige Mann seine Wohnung verändert hätte, schickte sie unverzüglich Werkleute in den Finstern Wald, ihm eine Zelle und daneben ein kleines Gotteshaus nach seinem Begehren zu bauen. Auch seine Nahrung bekam er von ihr und frommen Pilgern. Doch er gebrauchte wenig davon, das übrige teilte er den Armen aus.

Es hatte sich Meginrad aber von Jugend auf die Muttergottes als seine fürnehmste Patronin auserkoren. Deswegen weihte er der hochgelobten Jungfrau den Ort und die Kapelle. Und dies ist der kleine Anfang des fürstlichen Gotteshauses Einsiedeln.



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Als sich nun Meginrad, späterhin Meinrad geheißen, im Finstern Wald seßhaft gemacht und auf eine Zeit seinem Gebet oblag, umgab ihn plötzlich eine Menge höllischer Geister, sodaß er die Helle des Tages nicht mehr sehen konnte. Diese setzten ihm stark zu und machten ihn mit großem Schrecken müde und matt. Er fiel nieder zur Erde und befahl sich Gott. Da sah er vom Aufgang der Sonne her das Licht wieder leuchten, darin ihm ein Engel erschien. Derselbe drang mitten durch die höllischen Scharen mit großer Kraft und gebot ihnen, von dannen zu weichen und den heiligen Mann nicht mehr zu schrecken, worauf die Teufel mit lautem Geschrei und Getöse sich auf die Flucht begaben.

Einstmals kam ein Konventherr aus dem Gotteshaus Reichenau, ihn heimzusuchen. Wie es nun Abend geworden, führte St. Meinrad den Gast in ein besonderes, aus Holz aufgerichtetes Häuslein, daselbst zu schlafen. Und da er eine kleine Zeit gerastet, stand er wiederum auf und ging nach seiner Gewohnheit zum Gebet in die Kapelle. Der Konventherr aber verbrachte die Nacht auch mit Wachen und Beten, hörte den heiligen Mann hineintreten in das Gotteshaus und ging ihm nach bis zu der Türe. Daselbst blieb er stehen und sah, wie ein schöner Knabe, bei sieben Jahren alt, in strahlender weißer Kleidung vom Altar herabstieg und mit St. Meinrad die Psalmen betete, einen Vers um den andern. Darnach sprach das Kind mit dem Heiligen, so daß der fremde Bruder es zwar wohl hören, aber nicht verstehen konnte. Darauf kam der Knabe auch zu ihm und ermahnte ihn liebreich, verbot ihm aber, andern zu offenbaren, was er geredet. Dieses Gesicht hat der Bruder seinem Abt angezeigt, aber niemand sagen wollen, was das Kind mit ihm gesprochen.

Als nun St. Meinrad 25 Jahr im Finstern Wald gewesen, kamen zwei lasterhafte Gesellen, der eine mit Namen Richard, von Nördlingen gebürtig, der andere ein geborener Churwaldner namens Peter, zu Rapperschwil an der Schifflände zusammen. Weil sie von des heiligen Mannes Leben und Wandel viel vernommen, beredeten sie sich, daß er verborgenes Gut in den



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Händen habe. Darum fragten die beiden verruchten Menschen fleißig nach dem Weg zu des Einsiedlers Zelle unter dem Schein. ihn heimsuchen und alldort ihre Andacht verrichten zu wollen. Sie fuhren vor Tag von Rapperschwil über den See gen Hurden. Von dannen eilten sie über den Etzel, zogen lange durch den Finstern Wald hin und her von der rechten Straße abirrend und kamen endlich spät noch zu der Zelle des heiligen Mannes.

St. Meinrad aber hatte bei sich zwei junge Raben aufgezogen, die er täglich speiste. Als diese der beiden Gesellen ansichtig wurden, flogen sie in die Höhe, als wären sie von einem Raubvogel aufgejagt worden, mit solchem Geschrei, daß der ganze Wald davon widerhallte. Darüber entsetzten sich die Räuber, da sie ihre böse Absicht durch die Raben erkannt sahen.

Als am andern Morgen St. Meinrad vor dem Altar stand, Messe zu halten, ward ihm offenbar, daß er desselben Tages den Tod erleiden und die Märtyrerkrone erlangen sollte. Nach vollendeter Andacht legte er sich in Kreuzes Weise auf den Stufen nieder und bat Gott um Stärke und ein seliges Ende.

Indessen kamen die Mörder und klopften an die Tür. Da St. Meinrad sein angefangen Gebet zu Ende geführt, ging er starkmütig hinaus zu den beiden und grüßte sie, freundlich sprechend: «Warum habt ihr nicht geeilt, die Messe zu hören, daß ich Gott den Allmächtigen für euch hätte anrufen können? Gehet aber noch hinein und betet!» Die zwei traten hinein unter dem Schein zu beten, kamen aber bald wieder heraus und folgten dem Mann Gottes in sein Kämmerlein. Er gab ihnen seine Röcke, auch Brot und Wein und sprach: «Das nehmt von meiner Hand! Sonsten aber könnt ihr selber nehmen, was euch tauglich ist! Eins aber begehre ich von euch: Wenn ihr mich getötet habt - und ich weiß, daß ihr deswegen hier seid - so zündet die zwei Kerzen an, die ihr da seht! Eine setzt zu meinen Häupten und die andere zu meinen Füßen! Denn dazu habe ich sie gemacht.»

Diese sanften Worte vermochten bei den beiden Mordbuben aber nichts anderes, als daß sie den heiligen Mann ergriffen und



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mit ihren Knütteln auf das Haupt schlugen, daß er zur Erde fiel. Und als er nach grausamen Martern den Todesstreich empfangen, legten sie den Leichnam auf die Lagerstätte, beraubten ihn seiner Kleider und bedeckten ihn mit einem Tuch. Sodann nahmen sie die zwei Kerzen und stellten die eine dem Toten zu Häupten. Die andere aber trugen sie in die Kapelle, sie bei der Ampel, die allzeit zu brennen pflegte, anzuzünden. Da sie jedoch in das Kämmerlein zurückkehrten, fanden sie die erste Kerze durch göttliche Kraft brennend. Darüber erschraken die Bösewichte so heftig, daß sie von dem Altar der Kapelle nichts rauben durften. Sie nahmen allein die Kleider und eine härene Decke und eilten hinaus.

Die beiden Raben aber, die St. Meinrad selbst zu speisen gepflegt, flogen den beiden laut kreischend nach und hackten mit den Schnäbeln nach ihren Köpfen. Weil die Mörder so die Strafe Gottes augenscheinlich vor sich sahen, liefen sie aus dem Wald eilends Wollerau zu, damit ihre Untat und das unheimliche Rabengekrächz weniger in acht genommen würden.

Es wohnte aber zu Wollerau ein Zimmermann, welcher dem heiligen Mann vor Jahren das Häuslein und die Kapelle im Finstern Wald errichtet. Ihm hatte St. Meinrad ein Kind aus der Taufe gehoben. Da dieser die Raben mit solchem Geschrei um der beiden Landstreicher Häupter flattern sah, sagte er zu seinem Bruder: «Das sind ohne Zweifel meines Gevatters, des heiligen Einsiedlers, Vögel. Dem werden die zwei Männer, wie ich argwöhne, etwas Widerwärtiges zugefügt haben. Darum gehe du ihnen nach, so will ich in aller Eile mich zur Zelle begeben!»

Als nun der Zimmermann in den Finstern Wald gekommen, fand er den heiligen Meinrad ermordet auf seinem Bette liegen und beide Kerzen brennend ihm zu Häupten und Füßen stehen. Erschrocken über die schändliche Tat, küßte er des Einsiedlers Leib, verrichtete bei ihm ein Gebet und lief gen Wollerau zurück, den Seinigen den Mord zu melden, schickte auch seine Hausfrau mit andern ehrbaren Leuten in den Wald, daß sie den Leichnam behüteten. Er aber eilte den Mördern nach und fragte alle, die ihm begegneten, ob sie nicht zwei Männer gesehen,



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denen zwei Raben mit unablässigem Geschrei nachsetzten. Da wurde er nach Zürich gewiesen.

Nachdem er Tag und Nacht gelaufen, fand er endlich seinen Bruder und die beiden Mörder in dem Wirtshaus an der Schifflände auf dem «Dorf», und die Raben waren auch da, schossen durch die Fenster herein mit grausigem Gekrächze, stießen den Zweien die Becher um und fuhren ihnen ins Gesicht, um ihnen die Augen auszuhacken. Denn der allwissende Gott wollte den schmachvollen Tod seines Dieners Meinrad offenbaren. Der Zimmermann zeigte seinem Bruder heimlich den Tod des heiligen Meinrad an, den die beiden Männer ermordet haben müßten, da die treuen Raben sie so gewaltiglich verfolgten.

Sie gingen sogleich und verklagten die Übeltäter bei der Obrigkeit. Diese wurden gefangen genommen, bekannten die Untat und erzählten, wie alles zugegangen.

Also ward von dem Reichsvogt und den Richtern geurteilt, daß man die beiden Mörder zur Richtstätte hinausschleifen, nach kaiserlichem Recht radbrechen und mit den Rädern zu Asche verbrennen, diese aber in das fließende Wasser werfen solle. Die Raben sind auch nicht von der Richtstatt gewichen, als bis die beiden getötet worden.

Zu Zürich wird jenes Wirtshaus an der Schifflände noch jetzt zum Raben genannt, und ebenso führt das Kloster Einsiedeln bis auf den heutigen Tag die Rächer des heiligen Meinrad in seinem Wappen.

Als St. Meinrads Tod dem Abt der Reichenau kundgetan worden, sendete er nach dem Leichnam, damit er im Kloster begraben werden könnte. Die Brüder kamen in den Finstern Wald, luden den heiligen Leib auf ihre Schultern und trugen ihn hinweg. Auf dem Etzel ruhten sie da, wo die Kapelle steht, eine Weile. Doch als sie den Toten wieder aufnehmen wollten, vermochten sie ihn mit aller Kraft nicht mehr zu heben und von der Stelle zu bringen. Da schnitten sie das Herz aus seinem Leibe und bestatteten es in der Kapelle.

Und da das geschehen und des heiligen Meinrad Herz an der Stätte begraben war, wo er seinen Einsiedlerstand angefangen



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und sieben Jahre gewohnt hatte im Angesicht des Finstern Waldes, ließ sich der Tote von dannen tragen, und die Brüder brachten ihn glücklich in das Gotteshaus Reichenau. Daselbst ward er neben dem Münster mit großem Kirchengepränge ehrenvoll beigesetzt.


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