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ARNOLD BUCHLI

Schweizer Legenden

GUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967


ST. GALLUS

In Hibernien, dem stillen, grünen Eiland im Ozean, lebte ferne von dem Kampfgetriebe der Völker des Festlandes ein friedlicher Keltenstamm. Bei ihm fanden römische Lehrer des christlichen Glaubens Zuflucht und stifteten zahlreiche Klöster. Deren Insassen aber trieb es, den Pilgerstab zu ergreifen, um drüben die Gaue der Franken und der rauhen Alemannen zu durchziehen und dort das Evangelium zu verkünden.

Zu Bangor in dem Kloster wurde Gallus, der in Schottland um das Jahr Christi Jesu 550 geboren, von seinen hochedeln Eltern in blühender Jugend dem berühmten geistlichen Vater Columban anbefohlen und wohl erzogen. Wegen seines hohen Verstandes von einer geistlichen Weihe zur andern erhöht, ward er wider seinen Willen zum Priester eingesegnet.

Nun begehrte aber Columban der Evangelisten Leben fortzusetzen. Er sprach mit seinen Brüdern im Kloster, daß ihrer 13 sich verbanden, ihr Vaterland zu verlassen und andern den christlichen Glauben zu verkünden und ihn auszubreiten. Und als sie von ihrem Abt die Erlaubnis erlangt, ist Columban als der Vater mit dem frommen Gallus und noch elf Mönchen im Jahr des Herrn 586 von Hibernien oder Irland nach England und von dannen nach Frankreich geschifft.

In der Wildnis des Wasgenwaldes fanden sie einen Ort, vor alters mit Mauern umringt, die nun aber verfallen waren. Er wurde Luxovium genannt und war reich an warmen Wassern. Allda bauten sie eine Kapelle und ein Hüttlein, in welchem sie wohnen konnten. Und es schlugen sich sowohl Burgunder als Franken zu ihnen, an ihrer Seite ein geistliches Leben zu führen und in den Orden aufgenommen zu werden.

Weil aber die christlichen Männer aus Irland gesinnt waren, den Samen des göttlichen Wortes in der Völker Herzen weiter zu pflanzen, zogen sie von dannen, besuchten viele Orte und Gegenden und kamen endlich nach Alemannien an den Limmatfluß. An dem zogen sie hinauf bis an den Züricher See, und als sie dem Gestade entlang gingen, gelangten sie zu einer Ort-



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schaft, Tuggon geheißen. Die schien ihnen gelegen, allda zu wohnen. Aber die Einwohner dieser Gegend waren grausam und gottlos und opferten den Göttern. Die heiligen Männer unterwiesen sie, an den wahren Gott zu glauben. Als jedoch Gallus, des Columban Jünger, aus inbrünstigem Eifer ihren Tempel anzündete, beschloß das ergrimmte Volk, Gallus zu töten, Columban aber zu geißeln und aus dem Lande zu treiben. Da verließen die Mönche die Gegend mit ihren widerspenstigen Bewohnern.

Von dannen kamen sie gen Arbon am Bodensee, das ehedem ein Sitz der Römer. und trafen dort einen christlichen Priester namens Willimar. Er beherbergte sie, und als Columban ihn fragte, ob er nicht einen Ort wüßte, der zu einer klösterlichen Wohnung dienlich wäre, nannte er ihm einen Platz in der Nähe, wo ein altes, zerfallenes Gebäude sich befinde. Und er gab ihnen auch ein Schifflein und Ruder, und sie fuhren dorthin, Bregenz zu. Nachdem sie ausgestiegen, fanden sie eine Kapelle. Die war entweiht, und dafür hatten die Bewohner der Umgegend drei vergoldete erzene Bilder an der Wand befestigt, welche sie als die alten Götter und Beschirmer dieses Ortes anzubeten pflegten.

Columban forderte Gallus auf, er solle dem Volke zusprechen und ihm seinen Irrtum zu verstehen geben. Denn dieser konnte als der einzige von ihnen auch Deutsch. Und als sich an einem Festtag bei der Kapelle Männer und Frauen in großer Zahl versammelten, auch um die Fremdlinge zu sehen, von deren Ankunft sie gehört hatten, begann Gallus zu ihnen zu reden. Er ermahnte sie, den wahren Gott zu verehren, und vor aller Augen ergriff er die Erzbilder, zerbrach sie in Stücke und warf sie in den See. Darauf bekehrten sich etliche von der Abgötterei zum christlichen Glauben, andere aber liefen Gallus wegen der Zertrümmerung der Götterbilder schmähend voll Wut hinweg. Columban weihte die Kapelle wiederum und hielt darin Gottesdienst.

An diesem Orte blieben die heiligen Männer drei Jahre. Denn der Boden daselbst bot viel Raum und war gar fruchtbar. Etliche von Columbans Gefährten bauten Zellen auf, andere rüsteten



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den Garten zu und pflanzten darin. Gallus aber strickte Netze und fing damit so viel, daß die Brüder an Fischen keinen Mangel hatten.

In einer Nacht warf er seine Garne aus. Da hörte er, wie ein Waldgeist vom nahen Berge herab einem andern, der sich im See aufhielt, zurief und, als dieser ihm vom Ufer aus Antwort gab, klagte: «Mache dich auf, mir beizustehen! Fremdlinge sind gekommen, welche mich aus meinem Tempel vertrieben und meine Bilder zerschlagen haben. Auf, hilf mir, meine Schmach zu rächen und die Widersacher aus dem Lande zu verjagen!» Ihm erwiderte der Seegeist: «Auch ich erdulde Arges. Sieh, einer von ihnen dringt in die Tiefe hinunter und verstört mir mein Getier, und ich vermag seine Netze nicht zu zerreißen und ihm weder mit List noch mit Gewalt Schaden zuzufügen. Denn er ruft seinen Beschützer ohne Unterlaß an.»

Da Gallus das vernommen, befahl er sich Gott noch eifriger und beschwor die bösen Geister, von dannen zu weichen. Darauf fuhr er an das Ufer und erzählte Columban, was er gehört. Dieser ging in die Kirche und rief durch das gewohnte Zeichen die Brüder zusammen. Aber ehe sie zu singen anhoben, vernahmen sie ein greuliches Heulen und Brüllen der Geister von der Bergeshöhe, wohin sie sich zurückgezogen. Die Mönche aber begannen noch emsiger zu beten und Gott um seinen Schutz anzurufen.

Nicht lange danach verklagten etliche der Einwohner, um für die Zerstörung der Bilder Rache zu nehmen, die Mönche bei dem Herzog Gunzo, Jagd und Fischfang werde von ihnen verderbt. Entrüstet gab dieser den Befehl, sie des Landes zu verweisen. Den Brüdern wurden ihre Kühe weggetrieben und zwei der Ihrigen, welche diese suchten, von den Viehräubern erschlagen. Zu allem Unglück erreichte sie das Gebot des Herzogs, die Gegend zu verlassen. Als Columban seine Brüder darüber sehr bekümmert sah, sprach er ihnen väterlich zu und tröstete sie, er sei voller Hoffnung, Gott werde ihnen Agilulph der Langobarden König, geneigt machen, ihnen eine friedsame Wohnstätte zu weisen.



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Als sie allbereits zur Reise gerüstet waren, wurde Gallus von einem gefährlichen Fieber befallen. Columban erlaubte ihm, zurückzubleiben und für sich allein zu leben. Gallus legte seine Netze und Hausgeräte in einen Kahn und fuhr mit zwei Brüdern, welche ihm sein Abt zum Trost gelassen, über den See nach Arbon zum Priester Willimar. Dieser empfing ihn gar freundlich, überließ ihm ein kleines Haus zunächst der Kirche und legte seinen Gefährten Magnoald und Theodor ans Herz, daß sie ihn sorgsam pflegten.

Unter ihrer Wartung genas Gallus. Aber sobald er wieder zu Kräften gekommen, fragte er Hildebald, Willimars Diakon, der auf dem Fisch- und Habichtsfang alle Winkel des Waldes ausgekundschaftet, nach einem abgeschiedenen Orte. Denn er hatte großes Verlangen, fürder in der Einsamkeit zu wohnen. Da versetzte der Diakon: «Diese Wildnis hier, mein Vater, hat viele ungestüme Wasser, enge Täler, die sich hin und her winden, und ist von rauhen Bergen umschlossen. Darin hausen neben Hirschen und anderem Wild auch Bären, Eber und reißende Wölfe. Ich fürchte, die möchten dich anfallen, wenn ich dich dahin geleite.» Doch Gallus entgegnete: «Ist Gott mit uns, wer kann wider uns sein?»

Und des folgenden Morgens machten sie sich in der Frühe auf, den wilden Forst zu durchstreifen. Schon war die neunte Stunde des Tages verflossen, da sprach der Diakon: «Vater, es ist Essenszeit. Laß uns rasten und mit Brot und Wasser uns etwas erquicken, damit wir wieder leichter fürbaß wandern mögen!» Gallus aber antwortete: «Tue nach deiner Notdurft! Mir soll nichts in den Mund kommen, bis Gott mir den Ort meiner künftigen Wohnung gewiesen hat. » Also setzten sie ihren Weg fort und gelangten an ein Wasser, die Steinach genannt. Diesem entlang aufwärts gehend erreichten sie einen Felsen, über den das Flüßlein mit großer Gewalt und lautem Tosen herunterstürzte. Dort war eine Höhle, die ihnen Unterkunft für die Nacht bot, und in dem Gießen, den der Bach bildete, wimmelte es von Fischen. Hildebald fing einige, schlug Feuer und briet sie, und daneben legte er Brot bereit. Indessen



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hatte Gallus sich etwas abseits begeben zu stillem Abendgebet. Als er niederknien wollte, blieb er mit dem Fuß im Dorngesträuch hängen und fiel zur Erde. Sein Gefährte bemerkte es und wollte ihn aufheben. Er aber wehrte ihm mit den Worten des Psalmisten: «Laß mich! Denn dies ist mir ein Zeichen. Hier ist meine Ruhestatt, hier gefällt mir's wohl.» Darauf machte er aus Haselruten ein Kreuz und steckte es in die Erde, und nachdem sie ein Gebet gesprochen und ihr Mahl eingenommen, legten sie sich für eine kleine Weile zur Ruhe.

Bald jedoch erhob sich Gallus wieder, um vor dem aufgerichteten Kreuz Gott abermals um seinen Beistand zu bitten zu dem Vorhaben, diese Waldgegend bewohnbar zu machen. Da kam ein Bär den Berg herunter getrottet und las fleißig die Überreste des Mahles zusammen, sonderlich die Brotstücklein, die den beiden beim Essen entfallen waren. Wie ihn Gallus erblickte, rief er ihm furchtlos zu: «Du ungeschlacht Getier, im Namen unseres Herrn Jesu Christi gebiete ich dir: Nimm Holz und wirf es ins Feuer!» Der Bär gehorchte, lief hinweg und kehrte mit einem mächtigen Baumstrunk im Maule zurück, den ließ er auf die Glut fallen. Zum Lohne reichte ihm der heilige Mann aus seiner Weidtasche ein ganzes Brot, das der Bär, auf seinen Hinterbeinen emporgerichtet, verzehrte. Dann aber sprach Gallus zu ihm: «Nun weiche aus diesem Tal und halte dich droben in den Bergen und Tobeln auf, wo du weder Menschen noch Vieh Schaden zufügen kannst! Das sei dir zum andern Male im Namen unseres Herrn Jesu Christi geboten.» Und der Bär lief von dannen und verschwand im Walde. Des Gallus Gefährte aber, der das alles nicht ohne Furcht und Bangen mitangesehen, warf sich ihm zu Füßen und sprach: «Jetzt bin ich gewiß, daß der Herr mit dir ist, da dir auch die wilden Tiere untertan sind.»



***
Zum Angedenken an diese wunderbare Begebenheit führen Bistum und Stadt St. Gallen noch heute einen aufrecht stehenden Bären im Wappen.

Des andern Morgens begab sich Hildebald auf des Gallus Geheiß mit seinem Netz nach dem Gießen. Denn sie gedachten,



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Willimar ein paar Fische nach Arbon zu bringen. Allein sowie der Diakon sein Garn auswarf, sieh, da tauchten zwei Waldgeister in Gestalt von Wasserfrauen aus der Flut, ganz bloß, als wollten sie baden! «Warum hast du jenen fremden Mann hieher geführt, welcher uns alle nun aus der Wildnis verbannen wird? Denn seine Macht ist groß.»

Zitternd eilte Hildebrand zu Gallus zurück und bat ihn, die Geister zu verscheuchen. Als der Heilige zum Strudel kam, hatten sich die Wasserfrauen den Fluß hinauf ins Bergtobel zurückgezogen, aus dem ihr Zetern und Geschrei herunterschallte. Er trat an den Gumpen und rief ihnen zu: «Ich gebiete euch durch die Gewalt der hochheiligen Dreifaltigkeit, verlaßt diesen Ort und flieht ins unwirtliche Gebirg!» Darauf warfen sie ihre Netze aus, und da sie die gefangenen Fische ans Ufer zogen, hörten sie droben von der Schlucht her ein lautes Gejammer, das tönte, als ob zwei Weiber ihre Toten beweinten. Sie verstanden nur die Worte: «Ach, was tun wir hier? Wohin sollen wir uns wenden? Dieser Fremdling vertreibt uns aus Fluß und Forst.» Und noch zweimal ließen sich die beiden klagenden Stimmen vernehmen. Ja, auch später, als Hildebald einst dem Habichtsfang nachging, riefen die Waldfrauen ihn unsichtbar aus dem Dickicht an und fragten, ob der mächtige fremde Mann noch in der Wildnis sei. «Wohl», gab er ihnen zur Antwort, so laut er vermochte, «er ist noch allhier und wird hier wellen immerdar! » Da hörte er tief im Walde ein Schelten und Winseln, das sich allgemach in der Ferne verlor.

Da nun die beiden Wanderer das Tal durchforschten, fanden sie in der Nähe einen schönen Wiesenpian, auf der einen Seite vom Walde, auf der andern durch das Gebirge geschützt. Dieser Ort gefiel Gallus überaus gut, und er entschloß sich, hier eine Klause zu bauen. Und nachdem er Hildebald nach Arbon hatte heimgehen lassen, verharrte er noch drei Tage bei dem Kreuz, das er aufgerichtet, im Gebet und Fasten, um die Wildnis als künftige Stätte der Andacht zu weihen.

Als die Gottesmänner nach des heiligen Gallus Rückkehr wiederum miteinander beim Mittagsmahle saßen, sagte der



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Diakon Hildebald scherzend zu Willimar: «Wenn jetzt ein Bär da wäre, so würde ihm Gallus ein Brot reichen.» Auf die Frage des Priesters, was diese Worte orte zu bedeuten hätten, erzählte ihm Hildebald, was sich im Walde an der Steinach zugetragen.

Gleich Columban hatte Gallus zwölf Brüder zu sich genommen und im Dienste Gottes unterrichtet. Mit ihnen begann er nunmehr in seiner Wildnis zwischen der Steinach und dem Irabach eine Kirche und Zellen für die Brüder zu errichten.

Einmal, da sie sich nach der Mette zur Ruhe begeben, geschah es, daß der heilige Gallus frühmorgens seinen Diakon Magnoald aufforderte, ihm den Altar zuzurüsten, denn er habe in der Nacht gewisse Kunde bekommen, daß Columban aus diesem Leben ins himmlische Paradies aufgefahren sei, und für seiner Seele Ruhe möchte er die Totenmesse lesen. Man gab mit dem Geläute das Zeichen, und die Brüder kamen zum Gottesdienst. Dann erteilte der heilige Gallus seinem Diakon den Auftrag, unverzüglich nach Italia zu reisen, um in der Bobienser Kloster zu erfahren, wie es bei Columbans Tode zugegangen. Er solle sich achtsam Tag und Stunde merken, da jener verschieden. Nachdem Magnoald erst gezagt, er sei des Weges nicht kundig, ermunterte ihn Gallus, sich getrost dahin aufzumachen, und gab ihm seinen Segen auf die Reise. Und der Diakon gelangte glücklich nach Columbans Kloster. Da vernahm er, daß alles sich so verhielt, wie es dem heiligen Gallus war geoffenbart worden, und die Brüder sandten ihm Columbans Stab als ihm wohlbekanntes Pfand. Da er ihn empfing und dazu den Brief, den die Bruderschaft Magnoald mitgegeben, weinte er bitterlich.

Zu jener Zeit begehrten ihn die Mönche von Luxovien zum Abte, aber er ließ sich nicht bewegen, das Tal der Steinach zu verlassen, gleichwie er vordem dem Herzog Gunzo es abgeschlagen, ein Hirt über das ganze Volk des Bistums Konstanz zu werden. Auf seinen Wunsch aber wurde darauf Johannes, sein Diakon, der in Churrätien geboren, zum Bischof erwählt. Da nun Gallus schon hochbetagt, kommt eines Tages Willimar



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der Priester zu ihm in die Zelle mit der Klage, warum er dem Volke zu Arbon den Trost seines Zuspruchs so lange entzogen. Und willig machte sich der heilige Mann noch einmal dahin auf, von wo er einst ausgezogen, um eine Stätte seines Wirkens zu finden. Zu Arbon der Stadt erbaute er die Gemeinde, die zu des Erzengels Michael Fest zusammengekommen, mit einer gar kräftigen und liebreichen Predigt über die Vergänglichkeit des Irdischen, daß ihm alle mit höchster Andacht zuhörten.

Noch steht zu Arbon neben der Pfarrkirche die alte Galluskapelle. Zur Seite ihres Portals ist in einer Nische der Mauer eine unbehauene Steinplatte zu sehen. Sie hat zwei Vertiefungen von der Größe eines Fußpaares, und das Volk erzählt, daß der heilige Gallus auf dieser Schwelle gestanden, als er zum letzten Male Gottes Wort verkündete. Dabei soll er also gewaltiglich geredet haben, daß die Fliese unter seinen Füßen sich erweichte und die Eindrücke seiner Sohlen darin zurückblieben. «Der Gallusstein» wird darum die Platte bis auf den heutigen Tag genannt.

Doch danach schied er selbst, der greise Gottesstreiter. Zwei Tage noch hielt er sich zu Arbon bei Willimar auf. Am dritten aber ergriff ihn ein Fieber, an dem er zwei Wochen darniederlag, worauf er den i6. Weinmonats Anno 645 im 95. Jahr seines Lebens zu den ewigen Freuden eingegangen.

Sowie Johannes, der Bischof von Konstanz, vernommen, daß der heilige Gallus zu Arbon von einer Krankheit befallen worden sei, fuhr er über den See dorthin, um den geliebten Lehrer zu besuchen, hörte aber an der Schifflände ein lautes Jammern von Trauernden. Da sprang er ins Wasser und ans Land, Willimars Behausung zu. Allein er fand des Gallus Leichnam schon im Sarge zugenagelt. Schmerzerfüllt ließ er sich diesen öffnen und warf sich weinend über den Toten. Nachdem er lange bitterlich geklagt, daß er seinen geistlichen Vater und Tröster verloren, zu dem er Zuflucht hatte nehmen dürfen in seines schweren Amtes Sorgen, begab sich der Bischof mit den Geistlichen in die Kirche zum Totenamt.



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Aber als man den Sarg auf die Tragen setzen wollte, um ihn in der Gruft zu bestatten, vermochte man ihn mit aller Kraft nicht zu heben. Bischof Johannes erkannte daran, daß der heilige Gallus seine Ruhestätte nicht zu Arbon haben wolle; und er gab Befehl, zwei ungezähmte Pferde einzuschirren und vor einen Wagen zu spannen. Gallus werde diesen dann selbsten leiten, wohin es ihm gefalle. Und jetzt ließ sich der Sarg auf den Wagen laden, und Johannes sprach: «Nehmt den Rossen die Zäume ab, damit sie frei gehen, wohin Gott und der heilige Gallus sie führen werden!» Sie schritten geraden Wegs nach seiner Zelle, und das Leichengeleite folgte ihnen Psalmen singend mit brennenden Leuchtern in den Händen.

Als die Brüder des Klosters hinabeilten gen Arbon, den Leichnam abzuholen, folgten sie dem vielgewundenen Pfad, der über Rotmonten und weiterhin durch eine hohle Gasse bis an den See führte. Von Arbon her aber kam ihnen ein anderer Leichenzug entgegen bis nach Howenbühl und Gommiswil. An der Stelle, wo er dann auf das Trauergeleite der Ordensbrüder des heiligen Gallus traf, ward ein Kreuz errichtet zum Angedenken, und es steht noch, wiewohl oftmals erneuert. Es ist das Kreuz zu Hofen.

Bei des heiligen Gallus Zelle angekommen, trugen seine Jünger die Bahre in die Kirche. Darauf bereiteten sie zwischen Altar und Wand die Gruft und legten den Sarg hinein. Zu Häupten seines Grabes hängten sie die lederne Tasche auf, die der Heilige zeit seines Lebens unter dem härenen Hemde am Halse getragen. Darin hatten sie einen schweren Kieselstein und eine blutige eiserne Kette gefunden. Sein Leib trug davon tiefe Wunden, so hatte er ihn kasteit. An der Gruft stellte man auch zwei Kerzen auf, die waren zu Arbon angezündet und hinter der Totenlade her getragen worden und brannten 30 Tage lang, ohne sich zu verzehren.

So geschahen an des heiligen Mannes Grabe allerlei Wunderzeichen. Neidisch auf diese wollte einst Victor, der Churrätier Graf, das Kloster, dem die Mönche ihres geistlichen Vaters Namen gegeben, mit Kriegsmacht überfallen. Allein sein Anschlag



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ward ruchbar, und man stellte heimlich Wachen von Klosterleuten und Bauern auf. In einer Nacht, da man des Grafen Herannahen befürchtete, sahen die Hüter eine große Helle vom Himmel herabkommen, welche den Kirchenbau wie mit hundert und hundert Lichtern umgab. Die Wächter zogen ab, da sie erkannten, daß Gott selbst der Beschützer seines geliebten Dieners Gallus war. Und als Graf Victor nun auf das Kloster zuritt, um den Leichnam zu rauben, da stürzte er vom Pferd und brach eine Hüfte, also daß er mit großen Schmerzen nach Hause getragen werden mußte.

Noch Jahrhunderte später erzählte das Volk von Wundertaten des Gottesmannes Gallus. Einmal sei er durch den Arboner Forst gewandert. Von weitem Gange ermüdet, beugte er sich nieder auf den Waldboden, um sich mit einem Trunk aus der kühlen Quelle zu erquicken, die dort aus der Erde hervorsprudelte. Gott für die Labe dankend segnete er den Born und wünschte, daß er stetsfort so reichlich fließen und Menschen wie Tiere in gleicher Weise letzen möge. Von der Zeit an hieß er der Gallusbrunnen. Noch heute lagert sich der dürstende Bauersmann auf dem Felde von Mörschwil gerne auf dem grünen Rasen, der ihn umgibt, um aus dem köstlichen Quell zu schöpfen und sich zu erfrischen. Aber auch die Fuhrleute halten dort gerne an, denn das Wasser ist den Pferden besonders zuträglich. Ja, man will wissen, daß von der Burg Grimmenstein ein unterirdischer Gang zum Gallusbrunnen führe, da die Ritter an ihm ihre Rosse zu tränken pflegten.

St. Gallus, dem auch Macht gegeben war über die reißenden Tiere der Wildnis, haben die Hirten in alten Zeiten, da auf unsern Bergen allenthalben Bären, Wölfe, Luchse und Lämmergeier hausten, um Beistand beim Hüten angerufen, und bis auf den heutigen Tag heben auf den Alpen des Sarganserlandes die Sennen ihren Abendsegen an mit den Worten:

«Ave Maria!
Bhüet's Gott unser lieba Herr Jesus Christ
Lyb, Hab und Guot und alles, was do ummen ist!
Bhüet's Gott und der lieb heilig Sant Gall
Mit sina lieba Gottsheiligen all!»


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