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ARNOLD BUCHLI

Schweizer Legenden

GUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967


VON DEM FROMMEN UND STARKEN RITTER ST. MARTIN

Der heilige Martin machte einst, ehe er Bischof von Tours geworden, eine Pilgerfahrt nach Rom, der heiligen Stadt. Dabei ritt er auch durch das Tal der Schüß auf Bielna zu. Unterwegs verkündigte er den heidnischen Talbewohnern das Evangelium.

Eines Tages hatte er am Eingang der Taubenlochschlucht gerade über dem einsamen Dörflein Friedliswart eine Menge Volks um sich versammelt und sprach zu ihm von dem neuen Glauben an den gekreuzigten Heiland aller Welt. Und in seinem Bekehrereifer griff er mit der Hand an den hohen Felsen und stieß den ausgestreckten Zeigefinger zweimal tief hinein, als ob er weiches Wachs wäre, um den Ungläubigen ein Wunder zu zeigen. Noch heute erblickt der Wanderer, der die Straße längs der Schüß durch das felsige Tal zieht, dort die zwei Öffnungen im Gestein.

Danach ritt der Heilige der Aare und der Lütschine entlang hinauf ins Grindelwaldtal. Dort klagte ihm das Volk eine große Not. Damals hingen nämlich der Mettenberg und der Eiger fast zusammen, und hinter ihnen lag, wo jetzt das Eismeer ist, ein großer See. Wenn die enge Scharte seines Ausflusses sich mit Eismassen schloß, wuchs er ungeheuer an. Dann brach er durch und überschwemmte den Bauern das Gelände.

Der heilige Martin, ein riesenhafter Mann, erbarmte sich der Leute und schaffte Hilfe. Um das Tal oben weiter zu machen, stemmte er sich mit dem Rücken gegen den Mettenberg und stieß mit seinem Stock aus aller Kraft den Eiger zurück, so gewaltig, daß die Spitze des Steckens die Felswand durchbohrte. Aber er setzte noch einmal an, und es gelang ihm, die Spalte zu erweitern, durch welche nun der See ablief.

Noch immer aber sieht man das Martinsloch, wo des Heiligen Stecken durch den Eigergrat gestoßen, und den «Martinsdruck», die Stelle, wo der Gottesmann sich mit dem Rücken



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anlehnte, als er jenes Riesenstück vollbrachte. Zweimal des Jahres, im Wintermonat und im Jänner, scheint durch das Martinsloch im Eiger die Sonne auf Grindelwald hinunter zur Erinnerung an die hilfreiche Tat des Heiligen.

Darauf setzte er seine Reise fort und gelangte ins Rhonetal, von wo aus er auch das Val de Bagnes besuchte, um daselbst zu predigen. Eines Abends spät ritt er gegen Lourthier. Es war im Winter und Stein und Bein gefroren. Der Schnee knirschte unter den Hufen des Pferdes, und St. Martin zog sich den Mantel dichter um den Panzerkragen. Schon sank die Nacht hernieder, als vor den ersten Häusern des Dorfes ein Bettler auf den Reiter zukam und ihm eine Gabe heischend die Hand entgegenstreckte. Er zitterte vor Kälte in seinem löcherigen Rocke.

Der heilige Martin hielt mitleidig sein Pferd an. Aber er wußte, daß seine Börse leer war, und da er dem frierenden Armen nichts anderes zu geben hatte, riß er seinen weiten Reitermantel herunter, schnitt ihn mit dem Schwert in zwei Teile und legte den größern davon dem Bettler um die Schultern. Und nachdem er ihm noch ein tröstendes Wort zugerufen, ritt er, die kleinere Mantelhälfte sich über die Achsel werfend, weiter.

Es wird zwar behauptet, der Bettler sei niemand anders als der Böse gewesen, der den Heiligen habe versuchen wollen, da er wohl wußte, daß dieser selber arm war. Doch auch des Herrgotts Widersacher mußte des frommen Ritters Martinus Barmherzigkeit an seinem eigenen Leibe erfahren und für ihn zeugen.

Auf seiner Rückreise von Rom kam St. Martin wieder durch unser Land. Aber im Sarganser Rheintal verfehlte er den Weg und gelangte auf die Spitze des Ringelberges. Von da blickte er in die schauerliche Tiefe der Taminaschlucht. Und furchtlos gab er seinem Rosse die Sporen und setzte in kühnem Sprunge hinunter, wohl fünftausend Klafter tief, ohne daß Roß oder Reiter Schaden genommen hätten.

Auf der «Höhe» am Wege nach Kalfeisen kam das Pferd zu Boden. Und an jener Stelle sieht man auf einer Steinpiatte heute noch die Eindrücke, welche seine Hufe bei dem harten Aufspringen hinterlassen.



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Um dieser Wundertat willen genießt St. Martin in jener Gegend bis zum heutigen Tage hohe Verehrung. Ihm ist darum auch die Kapelle zu Kalfeisen geweiht, in der man ihm ein Standbild aufgestellt hat. Das zeigt den Heiligen zu Roß in rotem Mantel. Von diesem schneiden sich die Bauern während der Alpzeit gerne ein Endchen ab, da er seine Heilkraft gegen allerlei Gebresten und Seuchen gar oft bewiesen hat.


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