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VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


32. Die Lebenslampen der Teriel

Ein Jäger jagte eine lange Zeit mit allen seinen Brüdern und Verwandten in einer Gegend. Eines Tages aber hatten er und seine Leute alle Tiere in diesem Gebiet abgejagt, und es gab nun nichts mehr. Da rief der Jäger alle seine Angehörigen zusammen und sagte: "Wir haben alles getötet, was hier im Lande zu erjagen war. Nun wollen wir ein anderes Gebiet aufsuchen. Bereitet euch zu der Wanderung vor." Der Jäger zog dann mit seinen sieben Frauen und seinen Brüdern und Angehörigen weiter.

Der Jäger siedelte sich in einem Gebiete an, in dem eine Teriel wohnte, was ihm und seinen Angehörigen zunächst unbekannt war.



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Diese Teriel hatte die Gewohnheit, sich in eine Kamelstute zu verwandeln und im Walde und in der Steppe in dieser Gestalt umherzuwandern. Traf die Kamelstute dann einen einzelnen Mann, so pflegte sie ihn unversehens mitsamt seinem Pferde zu verschlingen. Traf sie mehrere Leute auf einmal, so unternahm sie nichts, sondern graste gelassen vor sich hin. So kam es denn, daß der Jäger einen seiner Brüder und Angehörigen nach dem andern verlor und daß keiner der Jäger, die allein auszogen, je wieder heimkehrte. Zuletzt blieb er mit einem einzigen Bruder noch übrig.

Der Jäger sagte sich: "Jedesmal, wenn einer von meinen Leuten allein zur Jagd aufgebrochen ist, kam er nicht wieder. Ich will nun sehen, was die Ursache ist und wem ich den Verlust, der mich so betroffen hat, zu verdanken habe."

Er rief den letzten seiner Brüder herbei und sagte: "Führe mein Pferd an die Quelle dort jenseits des Dorfes und laß es saufen." Der Bruder bestieg das Pferd und ritt von dannen. Der Jäger aber folgte ihm heimlich und wohl verdeckt durch das Gebüsch.

Der Jäger sah nun, wie der Bruder auf dem Pferde bis zur Quelle ritt, wie dann die Kamelstute, die dort gerade graste, herankam und unversehens den Bruder mitsamt dem Pferde verschlang. Darüber erschrak der Jäger so, daß er aufsprang und von dannen lief, in dem Bestreben, in der größtdenkbaren Geschwindigkeit das nächste Dorf zu erreichen. Das aber sah die Kamelstute. Der Jäger lief sehr eilig auf das Dorf zu. Die als Kamelstute verwandelte Teriel rannte ebenso schnell hinter ihm her.

Der Jäger lief in das Dorf und sprang auf den Platz, wo die Männer versammelt waren und auf steinernen Bänken in der Runde saßen. Der Jäger setzte sich auf eine der Steinbänke mitten zwischen die andern Männer. Gleich darauf kam die in eine Kamelstute verwandelte Teriel am Dorfe an. Sie legte die Gestalt der Kamelstute ab und betrat als ein sehr schönes Mädchen in herrlicher Kleidung das Dorf. Sie ging durch das Dorf und begab sich sogleich auf den Platz, wo die Männer saßen. Alle Männer sahen sie erstaunt an, denn sie war sehr schön. Der Jäger erschrak, denn er sah, daß es die Teriel war, die als Kamelstute alle seine Angehörigen auf der Jagd verschlungen hatte.

Das schöne Mädchen setzte sich auf eine Steinbank, so daß es zwischen den Jäger und einen andern Mann zu sitzen kam. Die Männer waren über die Schönheit des Mädchens so erstaunt, daß keiner ein Wort zu sagen wagte. Das Mädchen aber sagte zu den



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Männern: "Ich bin ein Mädchen, das hierhergekommen ist, um zu heiraten. Ich will einen Mann heiraten, der stärker ist, als ich es bin. Wer von euch mit mir ringt und mich als erster zu Boden wirft, den werde ich heiraten. Ich werde aber keinen von denen, die ich zu Boden zu werfen imstande bin, heiraten." Alle Männer bis auf den Jäger standen auf und jeder bat, ihm den Vortritt im Ringen zu überlassen, denn jeder meinte, das schöne Mädchen überwinden zu können. Das schöne Mädchen warf aber einen nach dem andern zu Boden, so daß zuletzt nur noch der Jäger da war, der sich aber nicht zum Ringen gemeldet hatte.

Das schöne Mädchen trat auf den Jäger zu. Das schöne Mädchen sagte: "Willst du nicht auch mit mir ringen. Du bist der einzige, der nicht um mich wirbt, und gerade mit dir möchte ich kämpfen." Der Jäger sah, daß es ein sehr schönes Mädchen war. Er wußte aber auch, daß es dieselbe Teriel war, die als Kamelstute seine Brüder und Angehörigen verschlungen hatte. Der Jäger fürchtete sich. Er stand nur langsam auf, als das schöne Mädchen ihn zum Ringen aufforderte. Er trat aber doch dem schönen Mädchen entgegen, denn er schämte sich vor den andern Männern, Furcht zu zeigen.

Der Jäger faßte das schöne Mädchen zögernd an. Er hatte sie nur erst berührt, da fiel das Mädchen auch schon zu Boden und sagte: "Du hast mich besiegt! Du bist der einzige von allen, die mit mir gerungen haben und die ich nicht besiegte, deshalb werde ich deine Frau werden." Der Jäger sah, daß das Mädchen schön war. Aber er sah auch, daß er dem Mädchen nicht entgehen konnte und daß er sie zur Frau nehmen müßte. Der Jäger heiratete die Teriel.

Einige Tage, nachdem er mit der Teriel verheiratet war, sagte er zu ihr: "Ich will jetzt in mein Jagdgebiet gehen. Bleibe du hier. Ich werde von Zeit zu Zeit zu dir kommen und für dich sorgen." Die Teriel sagte: "Nimm mich mit in dein Jagdgebiet." Der Jäger sagte: "Das kann ich nicht, denn im Jagdgebiet ist meine Familie. Da sind alle meine Angehörigen, die Söhne meiner Brüder, meine Vettern und meine sieben Frauen. Du aber bist eine Teriel und würdest sie alle verschlingen." Die Teriel sagte: "Ich schwöre, daß ich keinem deiner Anverwandten etwas tun werde, denn ich bin jetzt mit dir verheiratet. Nur deine sieben Frauen, die schaffe fort, denn mit diesen kann ich nicht im Guten leben. Diese sieben Frauen und die Kinder, die du von andern Frauen hast, werde ich verschlingen." Der Jäger sah, daß er seine Frauen nicht vor der Teriel



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werde schützen können, wenn er sie nicht sehr gut versteckte. Er sah auch, daß die Teriel unbedingt mit ihm in sein Jagdgebiet würde kommen wollen. Er sagte deshalb zu seiner schönen Frau, der Teriel: "Warte hier, ich will meine sieben Frauen erst fortschaffen, denn ich will nicht, daß du sie und die Kinder, die sie erwarten, verschlingst. Habe ich sie fortgeschafft, so komme ich zurück und hole dich in mein Jagdgebiet."

Der Jäger ging sogleich nach Hause. Er grub nahe dem Dorfe, das er mit seinen Verwandten im neuen Jagdgebiet bewohnte, ein gewaltiges Loch in die Erde. Er machte Kammern hinein und stellte alles hin, was zum Leben notwendig war. Vor allem brachte er so viele Nahrungsmittel hinunter, daß die sieben Frauen auf lange Monate daran genug haben mußten. Dann hieß er die sieben Frauen, die alle seit kurzem guter Hoffnung waren, aber ihre Kinder in verschiedenen Zeitabständen erwarteten, eintreten, tröstete sie, zeigte ihnen alles und deckte das Ganze dann mit einem flachen Dache und Erde so zu, daß niemand die Behausung unter der Erde erkennen konnte.

Nachdem er dies getan hatte, kehrte er in das Dorf zurück, in dem er die Teriel geheiratet hatte und brachte die junge schöne Frau in sein Dorf zu seinen Verwandten. Und die Teriel hielt, was sie geschworen hatte, sie verschlang keinen der Verwandten des Jägers mehr.

Inzwischen gebar unter der Erde die älteste der sieben Frauen ihr Kind. Die Frauen jammerten, und die ältesten sechs Frauen sagten: "Was soll nun mit diesem und nachher mit unsern sechs Kindern werden. Wir können uns hier nicht einmal selbst ordentlich ernähren. Wie sollen wir unsere Kinder großziehen!" Die sechs ältesten Frauen klagten und jammerten. Nur die jüngste der sieben Frauen klagte und jammerte nicht, trotzdem sie auch guter Hoffnung war. Die sechs ältesten Frauen beschlossen, das erste der bisher in der unterirdischen Wohnung geborene Kind sogleich zu töten, es in sieben Teile zu zerlegen und zu verzehren. Sie taten so. Sie töteten das Kind und gaben jeder ein Stück. Sie alle verzehrten das, was sie erhalten hatten. Nur die Jüngste legte ihr Stück beiseite, hob es auf und genoß es nicht.

Nach einem Monat gebar die zweite Frau ihr Kind. Wieder jammerten und wehklagten die ältesten sechs Frauen. Wieder beschlossen sie, das Kind zu töten. Wieder teilten sie das getötete



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Kind und verzehrten eine jede ihren Anteil bis auf die Jüngste der sieben Frauen. Sie bewahrte das ihr zugewiesene Stück auf.

Jeden Monat gebar eine andere unter den Frauen. Nach sechs Monaten hatten die ältesten sechs Frauen ihre Kinder geboren, getötet, verteilt und ihre Anteile aufgegessen. Nur die siebente und jüngste unter den Frauen bewahrte ihre Anteile auf und genoß nichts davon. Im siebenten Monate kam aber auch sie nieder, und kaum hatte sie ihren Knaben geboren, so kamen die ältesten sechs Frauen und forderten sie unter Jammern und Wehklagen auf, nun auch gleich ihnen zu tun, ihren Knaben zu töten und mit den andern zu teilen.

Die jüngste der sieben Frauen, die soeben ihren Knaben geboren hatte, hörte alles mit an und sagte dann: "Ich werde dies nicht so tun wie ihr!" Da wurden die andern sechs böse und sagten: "Du hast von jeder von uns ein Stück ihres Kindes gegessen und nun fordern wir das gleiche zurück." Die Jüngste sagte: "Ihr irrt euch. Ich habe das nicht gegessen, vielmehr gebe ich euch hiermit das, was ihr mir gegeben habt, zurück." Und sie überreichte die Teile der sechs erstgeborenen Kinder den Müttern. Dann sagte sie: "Ich werde mein Kind nicht töten. Ich werde ihm alles geben, was wir ihm bieten können, und ich glaube, daß es groß und stark werden wird, ohne daß euch deshalb etwas abgehen soll." Die ältesten sechs Mütter sagten gar nichts. Sie verzehrten die Teile ihrer Kinder, die sie von der jüngsten Frau zurückerhalten hatten, und kümmerten sich nicht weiter um die jüngste Frau und ihr Kind.

Das Kind der jüngsten Frau war schon stark und kräftig, als es geboren wurde. Es wuchs schnell auf und lernte sehr schnell laufen. Das Kind begann bald mit Stöcken und Steinen zu spielen. Eines Tages durchbohrte das Kind einen Stein, steckte ihn an die Spitze eines Stockes und begann damit an der Decke der unterirdischen Kammer zu kratzen. Der Knabe kratzte und kratzte und hörte nicht eher auf, als bis die Decke, mit der die unterirdische Wohnung von dem Jäger versehen war, durchgescheuert war und nun das Tageslicht hereinfiel.

Der Knabe lief zu seiner Mutter und sagte: "Meine Mutter, sage mir, was ist das?" Die Mutter sagte: "Das ist das Licht der Sonne. Die Menschen leben sonst nicht wie wir unter der Erde, sondern unter dem hellen Himmel auf der Erde." Der Knabe fragte: "Meine Mutter, weshalb leben wir denn im Dunkeln unter der Erde, wenn die andern Menschen im Licht auf der Erde wohnen?" Die



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Mutter sagte: "Dein Vater ist ein großer Jäger. Deshalb hat eine Teriel deinen Vater gezwungen, sie zu heiraten, und damit die Teriel nun uns, die andern Frauen deines Vaters und dich, seinen Sohn, nicht frißt, hat er uns diese Wohnung unter der Erde gebaut, und deshalb wohnen wir im Dunkeln." Der Knabe hörte zu, was seine Mutter sagte. Als seine Mutter weggegangen war, öffnete er das Loch in der Decke noch mehr. Alle Tage erweiterte er die Öffnung.

Wenige Tage nachher war der Knabe schon so stark, daß er an den Stützbalken zur Decke hinaufklettern konnte. Der Knabe stieg durch die Öffnung in der Decke heraus. Er sah den Himmel vor sich. Er sah den Himmel; er sah die Bäume und Farmen. Er sah das Dorf seines Vaters. Doch wußte er nicht, daß dies das Dorf seines Vaters war. Am Eingang des Dorfes hatte ein Mann, der geschickt im Backen war, ein langes Brett neben sich gelegt, das war bedeckt mit Sphensch (= Backwerk). Der Mann verkaufte das Backwerk an Vorübergehende. Der Knabe setzte sich neben den Mann und sah ihm, ohne zu sprechen, bei seinem Geschäft zu. Von Zeit zu Zeit reichte er dem Manne dieses und jenes oder hob ihm etwas Heruntergefallenes auf. Den ganzen Tag über half er dein Bäcker, und abends erhob er sich und wollte gehen. Der Mann hatte an dem Tage alles verkauft. Es war nur ein einziges Stück Backwerk übriggeblieben. Als der Knabe gehen wollte, sagte er: "Hier! nimm dies mit!" Der Knabe bedankte sich und sagte: "Ich bitte dich, leihe mir für einen Augenblick dein Messer!" Der Mann gab es ihm, und der Knabe schnitt das Backwerk in acht Teile. Er gab dem Mann das Messer zurück, aß eines der acht Teile und lief fort zu dem Loche, durch das er die Behausung der sieben Frauen verlassen hatte.

Der Knabe stieg durch die Öffnung in der Decke herab, er ging zu seiner Mutter und gab ihr ein Stück von dem Backwerk. Er ging zu den älteren sechs Frauen und gab ihnen von dem Backwerk. Die Mutter war glücklich über ihren Sohn. Die Mutter bedankte sich und sagte: "Ich habe um dich Schmerzen gelitten. Du zahlst aber mit Freuden zurück." Die ältesten sechs Frauen begannen jedoch zu klagen und zu jammern, und sie schrien: "Oh, warum haben wir unsere sechs Kinder getötet! Hätten wir nicht unsere Kinder getötet und gegessen, so würden sie jetzt auch hingehen und Backwerk für uns erwerben und uns bringen." Die ältesten sechs Frauen waren sehr traurig.



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Am andern Morgen stieg der Knabe abermals durch die Deckenöffnung auf die Erde und lief wieder zu dem Manne, der vor dem Dorfe Sphensch verkaufte. Der Knabe half dem Manne tagsüber bei seinem Geschäft, erhielt abends sein Stück Backwerk, teilte es und brachte es heim. Gerade so wurde es auch am dritten Tage, und am vierten Tage saß der Knabe wieder bei dem Manne und verkaufte mit ihm Backwerk.

An diesem vierten Tage ging der große Jäger, der der Vater des Knaben und der Gatte der Teriel und der sieben eingeschlossenen Frauen war, vorüber. Der Vater sah den Knaben und fragte den Mann, der das Backwerk feilhielt: "Was hast du dir denn da für einen Gehilfen angeschafft?" Der Mann sagte: "Dieser Knabe kommt jeden Morgen von dort unten und steigt da aus dem Loche, er hilft mir tagsüber ein wenig, und ich gebe ihm abends dann ein Stück Backwerk. Das Stück teilt er in acht Teile und verzehrt eins davon. Die andern sieben trägt er in das Loch." Der Jäger betrachtete den Knaben und fragte: "Wem bringst du die sieben Stücke von dem Backwerk?" Der Knabe sagte: "Ich bringe ein Stück meiner Mutter und die andern den ältesten sechs Frauen meines Vaters, die mit meiner Mutter dort unten wohnen." Als der Jäger das gehört hatte, wußte er mit Gewißheit, daß der Knabe sein Sohn und dessen Mutter seine Gattin war. Der Jäger sagte das dem Knaben aber nicht. Er wandte sich jedoch an den Mann, der das Backwerk verkaufte und sagte: "Gib diesem Knaben jeden Tag statt des einen acht Stück Backwerk. Ich werde es dir bezahlen." Dann ging der Jäger weiter.

Der Knabe brachte nun an jedem Abend seiner Mutter und den älteren sechs Frauen sieben Stück Backwerk, und es herrschte große Freude darüber. Die Tage brachte er bei dem Manne zu, der das Backwerk feilhielt. Der Jäger kam nun oftmals vorüber und sah nach dem Knaben. Er kaufte ihm Kleider und was er sonst nötig hatte. Er sandte durch den Knaben alles in die unterirdische Behausung, was da vonnöten war, aber er sagte zu dem Knaben niemals, daß er sein Vater sei, und der Knabe wußte es nicht. Der Jäger wollte nicht, daß der Knabe von seiner schönen Frau, der Teriel, als sein Kind erkannt werde.

Als es Herbst wurde und die Feigen zu reifen begannen, suchte der Jäger den Knaben bei dem Verkaufen des Backwerkes auf und sagte zu ihm: "Komm mit mir." Der Jäger führte den Knaben zu seiner Farm und zeigte ihm die Feigenbäume. Er sagte zu ihm:



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"Sieh, diese Feigenbäume gehören mir, und ich gebe dir die Erlaubnis, jede Nacht zu kommen und von den Feigenbäumen*für deine Mutter zu nehmen, soviel du willst. Trage also reichlich da. von zu den sieben Frauen unter der Erde, merke dir aber eines recht genau: es ist sehr möglich, daß einmal eine Frau hierher kommt, die sehr schön anzusehen, aber eine Teriel ist. Wenn diese Frau dich hier trifft und dich fragt, wer deine Mutter oder dein Vater sei' so darfst du nicht das sagen, was du davon weißt und darfst nichts davon verlauten lassen, daß du eine Mutter unter der Erde hast. Die Teriel würde dich sogleich verschlingen. Sie würde zu deiner Mutter und den andern sechs Frauen hinuntersteigen und sie verschlingen. Wenn die Teriel kommt und dich fragt, wer dein Vater und deine Mutter sind, so antworte: ,Ich habe eine Mutter, das ist ein Feigenbaum'." Der Knabe versprach dem Vater, dies sich genau einprägen zu wollen.

Jede Nacht stieg der Knabe nun auf den Feigenbaum, pflückte die Feigen und brachte sie seiner Mutter und den andern sechs Frauen in die Behausung unter der Erde. Die Mutter war sehr glücklich. Die älteren sechs Frauen aßen die Feigen, dann weinten und jammerten sie aber und sagten: "Hätten wir unsere Kinder nicht getötet und gegessen, so würden sie jetzt auch auf die Erde steigen und uns Feigen bringen."

Eines Nachts stieg der Knabe wieder durch die Öffnung auf die Erde und ging zu den Feigenbäumen auf der Farm des Jägers. Er stieg auf seinen Feigenbaum und pflückte Früchte. In dieser Nacht ging die Teriel aber auch auf die Farm ihres Mannes, des Jägers, um einige Feigen zu pflücken. Als sie zu dem größten Feigenbaum kam, sah sie, daß ein Knabe darauf saß, den sie nicht kannte. Die Teriel schlich sich an den Baum und packte den Knaben unversehens an einem Fuß. Die Teriel fragte sogleich den Knaben: "Sage mir, wer dein Vater ist?" Der Knabe antwortete: "Ich habe einen Vater, das ist ein Feigenbaum." Die Teriel sagte: "Sage mir,



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wer deine Mutter ist!" Der Knabe sagte: "Ich habe eine Mutter, das ist ein Feigenbaum." Die Teriel sagte: "Wenn es so ist, so komme getrost herunter, ich tue dir nichts." Der Knabe kam mit seinen Feigen herunter und lief von dannen.

In der folgenden Nacht verließ der Knabe wieder durch die Öffnung in der Decke die Behausung unter der Erde, kam herauf und stieg auf seinen Feigenbaum, um Früchte zu pflücken. Nach einiger Zeit kam wieder die Teriel, packte ihn am Fuße und sagte: "Sage mir, wer dein Vater ist." Der Knabe sagte: "Ich habe einen Vater, das ist ein Feigenbaum." Die Teriel fragte: "Sage mir, wer deine Mutter ist?" Der Knabe sagte: "Ich habe eine Mutter, das ist ein Feigenbaum." Da war die Teriel wieder beruhigt und ließ ihn laufen, ohne ihm etwas zu tun. Und genau so fragte sie den Knaben, als sie ihn in der dritten Nacht auf dem Feigenbaum getroffen und am Fuße gepackt hatte. Der Knabe antwortete auch wieder: "Ich habe einen Vater, das ist ein Feigenbaum, und ich habe eine Mutter, das ist ein Feigenbaum," worauf die Teriel sich auch das drittemal nicht weiter um den Knaben kümmerte.

In der folgenden (vierten Nacht) kam der Knabe durch die Öffnung wieder auf die Erde herauf und ging auf die Farm des Jägers, um von den Feigenbäumen Früchte zu pflücken. Er bestieg den großen Feigenbaum und war noch nicht lange dort oben, so kam die Teriel, packte ihn am Fuße und sagte: "Sage mir, wer dein Vater ist." Der Knabe antwortete: "Ich habe einen Vater, das ist der Feigenbaum." Die Teriel sagte: "Sage mir, wer deine Mutter ist." Der Knabe sagte: "Ich habe eine Mutter, das ist der Feigenbaum." Die Teriel sagte: "So höre denn, was ich dir sagen werde! Ich bin eine verheiratete Frau und habe keine Kinder. Ich will nun dich an Kindesstatt annehmen und in Zukunft deine Mutter sein. Mein Mann, der ein großer Jäger ist, wird dein Vater sein. Du sollst es bei uns gut haben." Der Knabe sagte: "Ich fürchte mich, daß du mich essen willst, denn ich habe als Vater und Mutter nur den Feigenbaum, der mich nicht schützen kann." Da schwor die Teriel und sagte: "Nein, ich werde dir nichts tun. Ich werde dich halten wie mein eigenes Kind." Als die Teriel derart geschworen hatte, stieg der Knabe von dem Feigenbaum herab. Die Teriel nahm den Knaben auf den Rücken und trug ihn so in das Dorf. Sie trug den Knaben zu dem Hause des Jägers.

Die Teriel betrat das Haus und rief ihren Mann. Der Jäger kam. Die Teriel sagte zu dem Jäger: "Ich habe diesen Knaben in deiner



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Farm auf einem Feigenbaum gefunden. Sein Vater und seine Mutter sind ein Feigenbaum. Nun habe ich keine Kinder, und ich habe mich deshalb entschlossen, den Knaben als unser Kind anzunehmen. Du und ich, wir wollen dem Knaben Vater und Mutter sein. Ich habe ihm geschworen, daß ich ihn nicht verschlingen werde." Der Jäger sah, daß die Teriel seinen eigenen Sohn an Kindesstatt angenommen und mitgebracht hatte. Da wurde er sehr froh und lobte den Entschluß seiner schönen Frau, der Teriel.

Die Teriel sorgte für den Knaben. Sie gab ihm gut zu essen und pflegte ihn. Der Jäger sah es mit großer Freude. Er sagte aber zu dem Knaben noch nicht, daß er sein Vater sei.

Inzwischen wartete die Mutter unter der Erde darauf, daß ihr Sohn mit den Feigen wie sonst kommen würde. Der Knabe kam in dieser Nacht nicht wieder. Er kam nicht am andern Tage und nicht in der andern Nacht. Der Knabe blieb fort. Die Mutter weinte. Die älteren sechs Frauen weinten und sagten: "Nun bringt uns der Knabe kein Brot und keine Feigen mehr." Die Mutter weinte und weinte. Die andern sechs Frauen sagten: "So ist es nun, wenn man einen Sohn aufzieht. Wenn er größer ist, verliert man ihn doch. Dann ist der Schmerz um so größer. Wir haben doch sehr gut daran getan, daß wir unsere Kinder töteten und aufaßen, als sie eben erst geboren waren."

Die Mutter weinte und weinte. Sie sagte für sich: "Sicherlich ist mein Knabe von der schönen jungen Frau meines Gatten, von der Teriel, diesmal verschlungen worden."

Als der Knabe von der Teriel so gut gepflegt wurde, wurde er schnell groß und stark. Die Teriel sah ihn nun jeden Tag vorn Morgen bis zum Abend, und sie begann ihren Schwur zu bereuen, da der Knabe so ausgezeichnet gedieh. Die Teriel sagte bei sich: "Ich selbst kann den Knaben nicht verschlingen, ohne meinen Schwur zu verletzen. Ich werde ihn aber, da er jetzt so ausgezeichnet herausgefüttert ist, meiner Schwester schicken, die wird schon wissen, was sie mit ihm zu machen hat."

Die Teriel rief eines Tages den Knaben zu sich und sagte: "Ich fühle mich nicht gesund und benötige ein starkes Mittel. Geh des. wegen zu meiner Schwester und verlange von ihr die Leber der Kamelstute, die täglich für sie arbeitet. Wenn du ohne die Leber der Kamelstute zurückkehrst, verschlinge ich dich. Du weißt also, woran du bist." Damit schickte die Teriel den Knaben fort.



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Der Knabe ging und sagte sich: "Die Teriel will mich also entweder selbst verschlingen oder mich durch ihre Schwester verschlingen lassen. Ich will sehen, ob ich einen Rat bekommen kann." Der Knabe ging zu Amrar Asemeni (dem alten Ratgeber) und sagte: "Die Teriel, welche den Jäger geheiratet hat, hat mich an Sohnes Statt angenommen. Sie hat mir damals geschworen, daß sie mir nichts tun wolle. Heute aber sendet sie mich zu ihrer Schwester, der Teriel im Walde, und verlangt von mir, ich solle die Leber der Kamelstute jener von dort mitbringen. Wenn mir das nicht gelänge, würde sie mich verschlingen."

Amrar Asemeni sagte: "Du kannst der Teriel entgehen. Wenn du tagsüber dorthin kommst, verstecke dich. Die Teriel kommt erst abends nach Hause. Dann wird sie sich an den Mühlstein setzen und Mehl mahlen. Um es sich bequem zu machen, wird sie ihre langen Brüste rückwärts über die Schulter werfen und die Mahlarbeit beginnen. Schleiche dich dann von hinten heran und ergreife unversehens eine der nach hinten herabhängenden Brüste und sauge daran. Sobald du an den Brüsten der Teriel gesogen hast, wird sie dich wie ihr eigenes Kind aufnehmen und dir nichts tun. Die Leber der Kamelstute und den Rückweg wirst du mit eigener Klugheit zu gewinnen verstehen müssen." Der Knabe bedankte sich und ging.

Der Knabe machte sich auf den Weg und kam nach einer langen Wanderung zu dem Hause der Teriel. Die Teriel war noch nicht angekommen, und der Knabe versteckte sich. Als es Abend war, kam die Teriel. Die Teriel legte sofort ihr Oberkleid ab, warf Körner in den Trichter der Mühle, warf die Brüste über die Schulter und begann zu mahlen. Vorsichtig erhob der Knabe sich aus seinem Versteck, schlich sich von hinten an die mahlende Teriel, packte eine der herabhängenden Brüste und begann zu saugen.

Die Teriel wandte sich sogleich um und sagte: "Wer ist da? Was machst du da?" Der Knabe sagte: "Ich bin dein Verwandter, ich bin der Sohn deiner Schwester, der schönen Frau, die den großen Jäger geheiratet hat, und du bist meine Tante. Deine Schwester hat mich zu dir geschickt, damit du mich als deinen Neffen kennen lernst." Als die Teriel das hörte, war sie sehr zufrieden. Sie begrüßte den Knaben und fragte ihn: "Wie geht es deiner Mutter, meiner Schwester?" Der Knabe sagte: "Meiner Mutter, deiner Schwester, geht es ausgezeichnet, und sie hat mir ausdrücklich anbefohlen, dir dies zu versichern." Die Teriel sagte: "Das freut mich!



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Das freut mich! Warte, mein Neffe, nun werde ich dir ein gutes Abendessen bereiten. Komme hinüber in die andere Kammer."

Inzwischen kam die Kamelstute herein und legte sich in einen Winkel zum Schlafen nieder. Der Knabe sagte: "Ist dies die Kamelstute, die für dich arbeitet und von der meine Mutter mir erzählt hat?" Die Teriel sagte: "Ja, das ist die Kamelstute. Nun bleibe du hier, ich will das Mehl fertig mahlen und dann das Essen bereiten." Die Teriel ging hinaus. Die Teriel ging an die Mühle und fuhr in ihrem Mahlgeschäft fort.

Der Knabe erhob sich. Er vergewisserte sich, ob die Kamelstute schlief. Dann zog er sein Messer heraus, schnitt der Kamelstute den Hals durch, schlitzte ihr den Bauch auf und trennte die schwarze Leber heraus. Die Leber steckte er in das Kleid, stahl sich unbemerkt von der mehlmahlenden Teriel ins Freie und rannte so schnell er konnte dem Dorfe seines Vaters, des großen Jägers, zu.

Nachdem die Teriel ihr Mehl fertig gemahlen hatte, kehrte sie in die andere Kammer, in der sie den Knaben gelassen hatte, zurück. Sie sah ihn nicht und rief ihn. Der Knabe antwortete nicht. Sie suchte ihn und fand ihn nicht. Sie kam in den Winkel, in dem die getötete Kamelstute lag und sah, was geschehen war. Sie wurde zornig und lief hinaus. Sie wollte den Knaben einholen, fangen und verschlingen. Sie lief sehr weit, ohne ihn einholen zu können. Endlich gab sie es auf. Sie kehrte langsam nach Hause zurück.

Der Knabe setzte seinen Weg fort, bis er nach Hause kam. Er trat in die Kammer. In der Kammer saß die schöne Frau seines Vaters, die Teriel. Die Teriel fragte ihn: "Was, du bist wiedergekommen? Weshalb warst du nicht bei meiner Schwester, der Teriel?" Der Knabe sagte: "Ich war bei deiner Schwester, der Teriel. Es geht deiner Schwester, der Teriel, sehr gut und sie läßt dich sehr grüßen und dir alles Gute wünschen." Die Teriel sagte: "Weshalb hast du mir die schwarze Leber der Kamelstute meiner Schwester nicht mitgebracht?" Der Knabe sagte: "Ich habe dir die schwarze Leber der Kamelstute deiner Schwester mitgebracht. Hier ist sie." Der Knabe legte die schwarze Kamelleber vor die Teriel hin. Die Teriel sah, daß es die schwarze Leber der Kamelstute ihrer Schwester war.

Die Teriel sagte bei sich: "Meine Schwester kann unmöglich die Kamelstute, die für sie alle Arbeit verrichtet, getötet haben. Dieser Knabe muß das allein getan haben." Die Teriel fragte den Knaben: "Wie konntest du es wagen, die Kamelstute, die für meine Schwester die Arbeit verrichtet, zu töten!" Die Knabe sagte: "Du hast



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mir gesagt, daß du mich verschlingen würdest, wenn ich dir die Kamelleber nicht brächte. Hätte ich deine Schwester erst um die Kamelleber gebeten, so wäre sie so zornig geworden, daß sie mich verschlungen hätte. Ich wollte aber nicht verschlungen werden, und so habe ich dort die schwarze Leber der Kamelstute ohne zu fragen genommen und habe sie jetzt hier, wie du von mir verlangt hast, zur Herstellung deiner Gesundheit hingelegt." Die Teriel sagte laut: "Es ist gut."

Die Teriel sagte bei sich: "Das ist nicht gut!" Die Teriel ging unruhig umher. Ihr Mann, der große Jäger, fragte sie: "Was fehlt dir? Dir ist nicht wohl!" Die Teriel sagte: "Ah, mir ist sehr wohl!" Die Teriel ging aber doch unruhig umher und sagte bei sich: "Das ist nicht gut. Der Knabe, den ich zu mir genommen habe, ist eine große Gefahr für uns. Weshalb habe ich auch geschworen, ihn nicht verschlingen zu wollen! Was kann ich nun tun, den Knaben zu vernichten?" Die Teriel ging unruhig umher.

Eines Tages rief die Teriel den Knaben und sagte zu ihm: "Ich habe noch acht Schwestern. Das sind acht gute alte Spinnerinnen. Es sind die unter meinen Schwestern, die gut und deshalb die Verwalterinnen unserer Schätze sind. Bei ihnen wirst du gut aufgehoben sein. Geh also zu ihnen, grüße sie und frage sie, was sie von meinem Wohlergehen wüßten. Sage ihnen, daß ich sie grüßen lasse, und sie würden schon wissen, wie sie dir ihre Freundschaft beweisen könnten." Der Knabe ging. Der Knabe sagte sich: "Wenn schon die eine Schwester so ein gefährliches Geschöpf war, wie schlimm mögen erst diese acht sein. Ich werde mir lieber Rat holen." Der Knabe ging wieder zu Amrar Asemeni und sagte: "Ich bitte dich heute noch einmal um Rat. Die Teriel, die den großen Jäger geheiratet hat, sendet mich heute zu ihren acht Schwestern, welche Spinnerinnen und Verwalterinnen der Schätze sind, damit ich dort gut aufgehoben sein soll. Die Teriel hat mich beauftragt, den acht Schwestern Grüße zu senden und sie zu fragen, was sie vom Wohlergehen der Teriel, die mich sendet, wüßten. Ich soll ihnen sagen, sie würden schon wissen, wie sie mir ihre Freundschaft beweisen könnten."

Amrar Asemeni sagte: "Mein Knabe, der Auftrag, den die Teriel gegeben hat, ist derart, daß, wenn du ihn ausführst, du auf keinen Fall lebendig davonkommen kannst. Diese acht Teriel sind die bösesten Geschöpfe, die es auf dieser Erde gibt. Sie verschlingen



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alles, was an Menschlichem in ihre Nähe kommt. Wenn die Terie sie durch dich fragen läßt, was sie von ihrem Wohlergehen wüßten und dich ihnen gleichzeitig sagen heißt, sie würden schon wissen' wie sie dir ihre Freundschaft beweisen könnten, so werden die acht spinnenden Teriel, die die Wahrer und Hüter des Lebens der zeh'1 Schwestern sind, sogleich verstehen, daß die Teriel, die dich sendet, von dir für ihr Wohlergehen Nachteil erwartet und daß sie deswegen von ihren acht Schwestern erwartet, daß sie dich freundschaftlich verschlingen. Du darfst also auf keinen Fall das bestellen, was die Teriel dir aufgetragen hat. Wohl aber kannst du zu den acht Schwestern gehen, ohne daß du dich einer allzu großen Gefahr aussetzt. Höre meinen Ratschlag:

"Diese acht Schwestern pflegen auf einer steinernen Bank zu sitzen und Wolle zu spinnen. Sie haben aber keine gewöhnlichen Spindeln, sondern benutzen statt dessen die Keulen von Eseln. Diese schweren Spindeln ermüden sie sehr. Nimm also acht Spindeln aus Holz mit, wie sie bei uns hier gebräuchlich sind. Lege ihnen, wenn sie einmal ermüdet fortgegangen sind, jeder eine Ti[r]th didt (=Spindel; Plural: Titherdein) hin. In der Freude über diese Gabe werden sie dich freundlich aufnehmen. Nachher sieh zu, daß sie dir ihre Schätze zeigen. Das Weitere ist aber so schwierig, daß ich es deiner eigenen Klugheit überlassen muß, ob du mit dieser großen Sache fertig wirst oder nicht."

Der Knabe besorgte sich sogleich acht Spindeln und machte sich dann auf den Weg. Nach einer langen, sehr langen Wanderung kam er bei dem Gehöft der acht Teriel an. Der Knabe stieg auf einen erhöhten Stein und hielt von da aus Umschau. Er sah die steinerne Bank, auf der die acht Schwestern zu sitzen und zu spinnen pflegten und sah, daß die acht Schwestern gerade ermüdet fortgegangen waren und daß die Steinbank leer war. Da schlich er sich sogleich zu der Bank, legte auf jeden Sitz eine der mitgebrachten hölzernen Spindeln und kroch dann unter die Steinbank.

Der Knabe hatte noch nicht lange gesessen, da kamen die acht Teriel zurück. Eine jede trug die als Spindel dienende Eselskeule und alle acht seufzten unter der Last und bei dem Gedanken, Sogleich wieder mit den schweren Spindeln die Arbeit beginnen zu müssen. Die acht Teriel kamen an die Steinbank. Sie sahen die hölzernen Spindeln. Sie schrien vor Freude auf. Sie warfen die schweren Eselskeulen fort und ergriffen die hölzernen Spindeln. Die acht Teriel lachten vor Vergnügen und sagten: "Welch ein



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schönes Geschenk! Welch eine ausgezeichnete Sache! Wer uns das gebracht hat, dem schwören wir Freundschaft und Schutz zu. Der, dem wir diese Gabe verdanken, soll von uns nichts erfahren als Gutes. Das schwören wir!"

Als die acht Teriel das geschworen hatten, kam der Knabe unter der Steinbank hervor und sagte: "Ich war es, der euch das brachte. Ich begrüße euch als meine Tanten, denn eure Schwester, die den großen Jäger geheiratet hat, ist meine Mutter. Sie hat mir gesagt, ich solle euch einmal besuchen und sollte euch irgend etwas mitbringen, was euch Freude macht, weil ihr immer so gut für ihr Wohlergehen sorgt. Nun hatte mir meine Mutter von euern schweren Eselskeulenspindeln erzählt, und ich meinte nichts Besseres mitbringen zu können, als diese leicht handlichen Holzspindeln." Die Teriel waren über diesen Gruß und das Erscheinen ihres Neffen sehr erfreut und bemühten sich sogleich alle darum, etwas zu seinem Wohlbehagen, seiner Sättigung und seiner Pflege zu tun. Der Knabe wurde in eine schöne Kammer gebracht, in der er eine herrliche Lagerstätte vorbereitet fand. Die acht Teriel sagten: "Du bleibst natürlich über Nacht hier und mußt uns heute abend noch viel von unserer lieben Schwester, deiner Mutter, erzählen. Wenn du morgen früh erwachst, sind sieben von uns schon weggegangen, um die Feldarbeit zu verrichten. Die Jüngste dort wird aber daheim bleiben, dir eine gute Wegnahrung zustecken, dir bei Tage das Gehöft zeigen und dich dann auf den Heimweg bringen." Der Knabe erhielt nachher noch ein ausgezeichnetes Nachtmahl. Er erzählte den acht Teriel noch viel von seiner Mutter und berichtete auch, daß er vor einiger Zeit bei der ersten der zehn Schwestern zu Besuch gewesen sei. Es wurde spät, als er sich auf dem Lager ausstreckte.

Als er am andern Morgen sich erhob und aus der Kammer trat, war nur noch eine der acht Schwestern im Hause. Sieben der Schwestern waren auf das Feld gegangen und nur die Jüngste war daheim geblieben. Die Jüngste der acht Teriel kam ihm entgegen und begrüßte ihn. Der Knabe sagte: "Habt ihr mir ein wenig Nahrung für den Rückweg bereitet?" Die Teriel sagte: "Es ist schon alles bereitet, nimm aber erst noch etwas zu dir und, dann will ich dir unser Gehöft zeigen, damit du nach deiner Rückkehr deiner Mutter, unserer Schwester, erzählen kannst, wie es jetzt im Hause ihres Vaters aussieht." Der Knabe sagte: "So will ich erst ein wenig essen und dann zeige mir euer Gehöft." Der Knabe trat in die Kammer, wo ein gutes Brot für ihn stand, und nachdem er



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Brot und Honig zu sich genommen hatte, führte die Teriel ihn heraus und zeigte ihm das Gehöft.

Die Teriel zeigte ihm die Kammern der acht Schwestern. Sie zeigte ihm das Vieh und zeigte ihm die viele Wolle, die sie gesponnen hatten und die allein ein ganzes Haus anfüllte. Die Teriel zeigte ihm alles, was in und um den Hof war. Als er alles das gesehen hatte, sagte der Knabe zu der Teriel: "Nun, meine Tante, zeige mir aber auch noch die besonderen Schätze eurer Familie, deren Wahrer und Verwalter ihr seid. Meine Mutter hat mir so viel davon erzählt, daß ich natürlich neugierig bin, das alles zu sehen, und sicher wird sie mich fragen, in welchem Zustand ich dieses oder jenes gefunden habe." Die Teriel sagte: "Eigentlich weiß ich nicht, ob ich dir dies zeigen darf, denn die Wahrung dieser Dinge liegt in den Händen meiner ältesten Schwester, die sehr eifersüchtig auf ihr Vorrecht ist." Der Knabe sagte: "Deine älteste Schwester ist jetzt auf dem Felde, ich würde bis zum Abend auf ihre Rückkehr warten müssen, soll mich selbst aber heute früh auf den Heimweg machen. Nun habe ich euch doch aber jeder eine Spindel mitgebracht und nicht nur der Ältesten, und dann bin ich dir doch gerade so nahe verwandt wie meiner ältesten Tante." Die Teriel sagte: "In diesem allen hast du recht. So will ich dich denn wenigstens, ehe du gehst, einen Blick auf die Schätze unserer Familie werfen lassen. Folge mir!"

Die Teriel ging voran. Sie führte den Knaben über den Hof und stieg vor ihm die Stiege zu einem Zwischenboden hinauf. Der Knabe betrat den Zwischenboden nach der Teriel. Er sah, daß auf dem Boden allerhand Schätze wie Gold und Silber in Säcken, feine Seide und gewebte Stoffe, Steine und viel Schmuck waren. An der Wand an einer Stelle standen aber zehn tönerne Lampen (=misba; Plural: misabi[e]gh), die hell brannten, von denen eine aber ganz besonders leuchtete. Neben den zehn Lampen hingen zwei Trommeln (= tebel; Plural: tubol) an der Wand.

Der Knabe sah voller Erstaunen all den Reichtum und sagte dann zu der Teriel: "Wozu dienen diese beiden alten Trommeln?" Die Teriel sagte: "Wenn man die eine dieser Trommeln rührt, so beginnt das Gehöft sich zu bewegen, und es bewegt sich dann dahin, wohin man es befiehlt. Wenn man die andere der beiden Trommeln dagegen schlägt, so steht das Gehöft sogleich wieder unbeweglich fest und wird keine weitere Bewegung mehr unternehmen. —Nun komme aber, du mußt dich jetzt auf den Heimweg machen."



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Der Knabe sagte: "Warte, ich bitte dich, noch eine Frage ab. Ich werde nachdem desto schneller laufen und den Verlust wieder einholen. Sage mir doch, meine Tante, weshalb brennen die zehn Lampen denn hier am hellen Tage und im Sonnenschein?" Die Teriel sagte: "Diese zehn Lampen sind die zehn Seelen (=lamar; Plural: lamur) von uns zehn Schwestern, das heißt von den acht, die hier im Hause unseres Vaters wohnen, von jener, die du neulich besucht hast und für die die Kamelstute arbeitet, und endlich die deiner Mutter. Nun komme aber, du mußt dich auf den Heimweg machen."

Der Knabe sagte: "Warte, ich bitte dich, noch eine Frage ab. Ich werde nachher desto schneller laufen und den Verlust wieder einholen! —Sage mir doch, meine Tante, weshalb brennt die eine jener zehn Lampen besonders hell und hoch und welche Seele ist dies?" Die Teriel sagte: "Dieses Licht der Lampe ist die Seele deiner Mutter. Dies Licht brennt deshalb heller und höher als die andern, weil deine Mutter dermaleinst länger leben wird als wir, während ich am ersten sterben werde, wie du daran erkennen kannst, daß dieses Licht hier, das meine Seele ist, ein klein wenig niedriger und dunkler brennt als die andern, wenn ich auch die Jüngste bin. — Nun komme aber, du mußt dich jetzt auf den Heimweg machen."

Der Knabe sagte: "Warte, ich bitte dich, noch eine ganz kurze Frage ab. Ich werde nachher wie der Wind so schnell nach Hause eilen! — Sage mir doch, meine Tante, was geschieht, wenn die Lampen verlöschen?" Die Teriel sagte ärgerlich: "Dann sterben wir! Nun komm aber schnell, du neugieriger Knabe; ich habe dir schon zu viel gesagt. Noch eine Frage, und ich fresse dich trotz Spindel und Schwur!" Der Knabe sagte: "Verzeih mir, meine Tante! Geh wieder voran und schnell, damit ich schnell nach Hause komme!" Die Teriel stieg vor dem Knaben auf die Stiege.

Kaum hatte die Teriel die Stiege betreten, so wandte der Knabe sich um und blies das kleine Licht der jüngsten Teriel aus. Sogleich stürzte die Teriel die Stiege herunter und in einen Akufin (=Speichertopf). Sie war tot und bewegte sich nicht mehr. Der Knabe stieg herab und betrachtete den Leichnam. Der Knabe sagte: "Diese Teriel ist also wirklich auf solche Weise gestorben. Sie wird keinen Menschen mehr verschlingen. Wenn das so einfach ist, dann kann ich das Geschäft ja in größerem Umfange betreiben." Der Knabe stieg wieder hinauf und trat zu den Lampen.



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Er blies mit einem starken Hauch alle Lampen bis auf die, auf welcher die Seele seiner Mutter leuchtete, aus. Da fielen die sieben Schwestern der soeben zuerst gestorbenen Jüngsten auf dem Felde, auf dem sie gerade arbeiteten, tot nieder, und gleichzeitig fiel auch jene Schwester, deren Kamelstute der Knabe getötet hatte, leblos auf ihrer Farm nieder. Der Knabe sagte: "Jetzt käme also die schöne Frau an die Reihe, die meinen Vater gezwungen hat, sie zu heiraten und die meine arme Mutter und die sechs ältesten Frauen meines Vaters unter die Erde verdrängt hat. Es wird mir aber eine so große Freude sein, dabei zu sein und es mit anzusehen, wenn diese Teriel stirbt, daß ich mich sogleich auf den Weg machen werde, sie zu treffen."

Der Knabe nahm die eine der beiden neben den zehn Lampen an der Wand stehenden Trommeln herab, setzte sich an das Fenster und begann zu trommeln. Sowie seine Finger das Trommelfell ein wenig berührten, begann das Haus leicht hin und her zu schwanken. Der Knabe schlug stärker auf die Trommel und sang: "Mein Haus, bewege dich in der Richtung auf das Dorf meines Vaters! Mein Haus, bewege dich in der Richtung auf das Dorf meines Vaters! Mein Haus, bewege dich in der Richtung auf das Dorf meines Vaters!" Das Haus erhob sich und glitt, ohne weiter zu schwanken, in der angegebenen Richtung dahin. Der Knabe trommelte und sang schneller und lauter. Das Haus flog schneller. Der Knabe trommelte und sang mit aller Kraft. Das Haus sauste durch die Luft.

Die Teriel, die als schöne Frau den großen Jäger geheiratet hatte, saß daheim im Hause ihrem Gatten gegenüber. Die Teriel horchte auf und sagte: "Ich höre die Trommel meines Vaters. Mein Vater kommt. Ich will ihm entgegenlaufen." Die Teriel sprang auf. Sie lief aus dem Haus, aus dem Gehöft, aus dem Dorfe. Ihr Gatte, der Jäger, lief hinter ihr her. Als die Teriel mit dem Gatten hinter sich vor das Dorf kam, sah sie das Haus ihres Vaters auf sich zukommen. Sie sah aber auch den Knaben am Fenster sitzen und sah, daß es der Knabe war, der trommelte. Die Teriel wurde vor Schreck bleich. Die Teriel kreischte vor Wut und Schreck.

Als der Knabe sah, daß das Haus vor dem Dorfe seines Vaters angekommen war, und daß die Teriel und ihr Gatte, der Jäger, ihm entgegengeeilt waren, hörte er auf, diese Trommel noch zu schlagen. Er hing sie an die Wand und griff zu der andern. Er schlug die andere Trommel und sang: "Mein Haus, stehe fest." Im gleichen Augenblick stand das Haus fest. Das Haus stand gerade vor der Teriel



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und dem Gatten, der hinter ihr hergeeilt war. Die Teriel schrie: "Nun werde ich dich verschlingen." Die Teriel stürzte in das Haus, über den Hof, in die Kammer, die Stiege empor zu dem Zwischenboden, auf dem die Schätze lagen und auf dem die letzte Lampe noch brannte. Die Teriel klomm die Stiege empor, der Jäger lief ihr nach, sie von seinem Sohne fernzuhalten. Die Teriel war oben an der Stiege angelangt. Da ergriff der Knabe die Lampe und schlug sie gegen die Wand, daß die Lampe in hundert Scherben zersprang und das Licht sogleich verlosch. Die Teriel stürzte tot die Treppe herunter und dem Gatten, der ihr nachgefolgt war, gerade vor die Füße.

Der Knabe stieg die Stiege herunter. Der große Jäger begrüßte ihn und sagte: "Du bist mein Sohn." Der Knabe sagte: "Ich wußte es." Der Jäger sagte: "Du hast die böse Teriel getötet." Der Knabe sagte: "Wir wollen hingehen und meine Mutter und deine ältesten sechs Frauen aus der Behausung unter der Erde befreien."

Der Jäger und sein Sohn gingen hin und öffneten die Decke über der Behausung unter der Erde. Die Frauen kamen herauf. Die Mutter weinte vor Freude darüber, daß ihr Sohn noch lebte und nicht von der Teriel verschlungen worden war. Die sechs ältesten Frauen des Jägers gingen hin und besahen das Gehöft der Teriel. Sie sahen die Reichtümer, die nun dem Sohne des großen Jägers gehörten. Sie begannen zu weinen und wehklagten: "Wenn wir unsere Kinder nicht seinerzeit getötet und gegessen hätten, dann wären das jetzt auch angesehene und wohlhabende Burschen, die uns aus der Behausung unter der Erde befreit hätten!"


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