Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

ARNOLD BUCHLI

Schweizer Legenden

GUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967


AHASVER, DER EWIGE JUDE

Zu einer Zeit erschien zu Gaiserwald und Andwil am Tannenberg' ein steinalter Mann in ärmlichen Kleidern, der bettelte Almosen. Dabei legte er eine auffallende Unruhe an den Tag, die ihn auch beim Essen und Trinken nicht verließ. Man sah ihn dann weitergehen gegen Niederbüren, wo er ebenfalls von Tür zu Tür zog zu heischen bis am Abend, worauf er den Bergen zuschritt. Die Leute schauten ihm nach und staunten über seine riesenhafte Größe, die ihnen unheimlich vorkam. Die untergehende Sonne warf seinen Schatten ins Tal; der wuchs und wuchs und sei zuletzt wohl eine halbe Wegstunde lang gewesen.

Danach sah ein Bauer von Vilters, als er auf einem Maisacker oberhalb Ragaz arbeitete, den greisen Bettler, wie er wilde Beeren pflückte, dabei aber beständig um den Strauch herumging, ohne auch nur einen Augenblick stille zu stehen. Sein schlohweißer Bart reichte ihm bis auf den Gürtel. und über den Rücken hinunter hing das ebenso weiße Haar, doch ordentlich. Das graue, abgetragene Gewand war zwar vielfach geflickt, aber ganz. Ein Fremder soll ihm ein Silberstück angeboten haben. Allein er schlug die Gabe aus. Geld habe er, soviel



Schweizer Legenden-017 Flip arpa

er brauche, aber nie genug zu trinken für seinen ewigen Durst, sagte er und ging mit raschen Schritten weiter.

Öfter hat man den unrastigen Bettelmann auch in den Graubündner Bergen angetroffen. An einem Tage, da es in Strömen regnete, kam er einst nach Sahen an den Platz und suchte Zuflucht in einem Hause. Die Frau war gerade am Käsen. Sie stellte ihm einen Sitz vor das Herdfeuer, damit er seine tropfnassen Kleider wärmen könne, und bot ihm gastfreundlich Molken an. Der Fremde griff gierig nach der Labe, ohne die Stabelle eines Blickes zu würdigen. Weil die Käsmilch aber siedend heiß war, goß er sie in eine zweite Gebse, mit zitternden Händen und fieberhaft rasch, aber so kräftig, daß der Molkenstrahl hochauf bis ans Dach des Hauses spritzte, von wo er jedoch in das Gefäß zurückfiel, ohne daß ein Tropfen verschüttet wurde, trotzdem der Alte dabei ruhelos in der Küche umherlief.

Noch da und dort ist er gesehen worden in den rätischen Bergen, immer und überall unstet, nirgends rastend. Nicht einmal in den Schenken, wo er etwa einkehrte, saß er einen Augenblick am Tisch.

Auch in Sapün unter dem Strelapaß auf Schanfigger Seite sei er gewesen und habe in einem Hause, das man noch zeigt, «für über Nacht» gefragt. Wenn er nur in der Stube bleiben könne, habe er gesagt, er brauche kein Bett. Trotzdem sie den Mann nicht kannten, nahmen ihn die guten Bauersleute bei sich auf, dem Grundsatz ihres Urehni getreu, der seiner Hausmutter einzuprägen pflegte, sie solle am Abend keine fremden Leute fortschicken. Sie wisse auch nicht, wohin ihre Kinder einmal kämen. Sie hörten dann nur, wie der Mann in der Stube den Tisch von der Wand wegrückte, offenbar damit er um diesen herum freien Weg hatte. Viel könne er nicht geschlafen haben, erzählte man noch; wenigstens habe der Stubenboden die ganze Nacht geknarrt.

Später kam der seltsame Gast nach Obersaxen, wo er auf dem Hof Platta unterhalb von St. Martin über Nacht blieb. Dort machte er's wie auf Sapün. Er ließ das für ihn gerüstete Lager unberührt und wanderte unaufhörlich um den Schiefertisch her-



Schweizer Legenden-018 Flip arpa

um, auch als er am Morgen die ihm gereichte Mehisuppe auslöffelte.

Dann zog er über die Furka in das Rhonetal hinunter. An einem Abend spät zeigte sich ein merkwürdiger weißhaariger Wanderer in Getwin, einem kleinen Dörfchen gegenüber von Turtman. Bei einer alten Frau bat er um Herberge für die Nacht. Er müsse aber eine eigene Stube haben, erklärte er, da mit ihm zusammen niemand schlafen könne. Als sie erstaunt nach dem Grunde fragte, erzählte er ihr, er dürfe auch in der Nacht nicht ruhen, denn er sei der, den man den ewigen Juden nenne. Seines Handwerks sei er ein Schuster gewesen. Er heiße aber eigentlich Ahasver und sei vom Stamme Nephthali, aus Jerusalem gebürtig, allwo er gelebt bis zum Tode Christi.

Den habe er damals mit den andern Juden für einen Aufrührer gehalten, welcher stracks aus dem Wege geräumt werden müsse. Wie aber Pilatus endlich das Urteil gesprochen, sei er eilends heimgegangen und habe seinem Hausgesinde alles vermeidet, damit es Christus selber sähe und auch wüßte, was er für einer wäre, wenn sie ihn an seinem Hause vorüberführten. Dann habe er selbst sein kleines Kind auf die Arme genommen und mit ihm vor seiner Werkstatt gestanden, Christus von Angesicht zu sehen. Da dieser nun unter dem schweren Kreuze dahergekommen, habe er vor seinem, des Schusters, Hause ein wenig stillgestanden und sich an die Mauer gelehnt, zu ruhen. Aber er, Ahasver, habe aus Eifer und Zorn und auch um Ruhmes bei den andern Juden willen Christus getrieben fortzueilen und gesagt: Er solle sich hinweg begeben, wohin er gehöre. Drauf habe ihn Jesus angesehen und zu ihm die Worte gesprochen: «Ich will allhier stehen und ruhen. Du aber sollst gehen, bis daß ich wiederkomme am jüngsten Tag!»

Und alsbald habe er sein Kind niedergesetzt und nicht länger vor seinem Hause weilen können, sondern Christus immer nachfolgen müssen und also gesehen, wie er elendiglich gemartert, gekreuzigt und getötet worden. Nachdem das geschehen, habe es ihm unmöglich gedeucht, von Golgatha wiederum in die Stadt zu gehen, und er sei nachher nicht mehr nach



Schweizer Legenden-019 Flip arpa

Jerusalem zurückgekehrt, habe auch sein Weib und Kind niemals wiedergesehen, sondern sogleich weiter laufend fremde Länder, eins nach dem andern, durchzogen.

Und da er nach vielen Jahren wieder gen Jerusalem sich begeben wollte, habe er alles zerstört und jämmerlich geschleift gefunden, also daß kein Stein auf dem andern gewesen und er nichts mehr zu erkennen vermocht habe von dem, was zuvor alida Köstliches vorhanden gewesen.

Was nun Gott mit ihm vorhabe, daß er ihn in diesem elenden Leben so lange herumwandern lasse, wisse er nicht. Er könne sich aber nichts anderes denken, als daß Gott der Herr ihn vielleicht bis an den Jüngsten Tag zum lebendigen Zeugen wider die Juden haben wolle, durch den alle Ungläubigen und Gottlosen an das Sterben Christi erinnert und zur Buße bekehrt werden sollten.

Er erzählte auch, er sei schon einmal durch das Wallis und in das Dorf gekommen. Aber damals habe es nicht Getwin, sondern Gutwein geheißen und inmitten herrlicher Weinberge gelegen. «Und wenn ich das dritte Mal hier vorbeikomme», fügte Ahasver hinzu, «wird es Euerm Dorf ergangen sein wie einst meiner Vaterstadt Jerusalem. Ja, man wird mir nicht einmal mehr den Ort zeigen können, wo Getwin gestanden.»

Und so ergeht es immer, wo der ewige oder, wie ihn die Walliser nennen, der laufende Jude hinkommt.



***
Zwischu dum Rosaberg und dum Matterhoru ist a mächtige Gletscher, dem seit mu der Augsttalgletscher oder der Theodulpaß. Da sy vor alte Zittu a schöni Stadt gstannu, und zu der sy ouch der laufund Jud cho. Wil abar di dasigu Lit nu bchennt Beint, was er fer eine ist, so hät nu kei Mensch ubernachtu welle. Wegu discher Umbarmherzigkeit hei der laufund Jud d Stadt samt de Menschu verfluocht und gseit: «Jez isch' no a Stadt. Wenn i aber nomal chumu, so waxt hie Gras, stähnd da Bäum und liggunt da großi Steina und wurd mu keine Hüscher, Gasse, Mure und Turna meh gseh. Und wen i ds drittmal chumu, so wurd mu keis Chrut, kei Tannubäum, kei Hitta, kei



Schweizer Legenden-020 Flip arpa

Mura no Gassa meh antreffu, sondru nummu Schnee und Isch old 2 Gletscher. Und das soll da so lang liggu blibu, so lang ich ohni Ruow und Rast muoß um di ganz Welt wandru.

Und so ist alls haarchlei yngitroffu, wie der laufund Jud einst prophizijod hät. A Gletscher va dry Stundu Breiti deckt jez dischi Gegund, wa sie 3 a Stadt gstandu sy. D Lawinu donnru, d Gletscherspaltu chrachu, und d Wintergugsa tobu und wietu, suschter isch totestill. Di Gemschini sind d'einzigu lebundu Wesu, wa mu da jez no antrifft.



***
Wieviele Täler des Schweizerlandes hat Ahasver auf seiner ewigen Wanderung durchpilgert, wie manche Berghöhe erstiegen! Dreimal soll er schon am Fuße des Matterhorns vorbeigekommen sein und alle sieben Spitzen der Dent du Midi überschritten haben, der «irrende Jude», wie die Welschschweizer und die Misoxer ihn nennen.

Am Ufer der Moesa, bei Mela 4 , grub einst ein Bauer im Flußgeschiebe nach. Der Schweiß rann ihm von der Stirne, so emsig schaffte er. Da kam ein Mann von sonderbarem Aussehen und Gehaben dem Strom entlang gegangen. Er trug Sandalen an den Füßen, und seine schneeweißen Haare reichten ihm fast bis auf die Knöchel. Er schien sehr müde zu sein, hielt aber trotzdem kaum einen Augenblick inne, als er den Bauer ansprach. «Vor langer Zeit», sagte er zu ihm, «habe ich hier einen andern ebenso eifrig graben sehen wie nun dich. Nur verbarg er etwas im Boden, während du herausgräbst. Doch fahre unverdrossen fort! Du wirst belohnt werden.»

Der Bauer war erstaunt über diese Rede, setzte indessen seine Arbeit voll Vertrauen fort und fand zuletzt eine eiserne Kiste voll Geld und Kostbarkeiten. Die hatte sein Ahne an derselben Stelle vergraben.

Jener geheimnisvolle Alte aber war der «irrende Jude» gewesen, der gerade zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges die



Schweizer Legenden-021 Flip arpa

Mesolcina durchzog und dabei beobachtete, wie ein Mann, der Vorfahre des Bauers, eine metallene Schatztruhe an der Moesa ins Ufergeröll eingrub. Der Mesolciner an der Mela will bemerkt haben, daß der Alte ein blutrotes Kreuz auf der Stirne trug. Das ist ein Erinnerungsmal. Denn als der Herr Jesus unter der Last des Kreuzes verschmachtend vor das Haus des Schusters kam, zeigte er bittend auf den dastehenden Wasserkrug. Doch der Jude wies ihn von der Schwelle. Da berührte Jesus ihn mit einem Finger an der Stirne, um dieser das Zeichen seines Leidens für immer einzuprägen.

Man hat ihn auch dem Bett der Moesa entlang irren sehen, als ob er Wasser schöpfen wollte, seinen unstillbaren Durst zu löschen. Dieser ist die Strafe für seine Hartherzigkeit, mit der er dem ermatteten Herrn Jesus damals den erbetenen Trunk Wassers versagte.

Von Zeit zu Zeit ergreift ihn furchtbare Verzweiflung über sein Los, das ihn zu unaufhörlichem Wallen verdammt. Man erzählt, er sei einmal ins Meer gesprungen, habe darin aber nicht den Tod gefunden. Denn er konnte nicht ertrinken. Dann sei er auf den feuerspeienden Berg, den Vesuv, gestiegen und habe sich in die glühenden Lavamassen des Kraters gestürzt. Doch das Feuer des Berginnnern habe ihn nicht behalten, sondern mit seinen Flammensäulen wieder ausgeworfen. Am ganzen Leibe voller Brandmale blieb er am Fuße des Vesuvberges liegen, um sich stöhnend vor Qual gleich wieder zu erheben und weiterzuziehen.

In fünfzig Jahren kommt er um die ganze Erde herum, und nach jedem hundertsten Lebensjahr fällt er in eine schwere Krankheit, aus der er sich jedesmal erhebt. Für seine Zehrung hat er immer ein Geldstück in der Tasche. Gibt er dieses aus, so ist gleich wieder ein anderes an seiner Stelle. Er verbraucht stets dieses Stück, nie mehr. Gewährt man ihm etwa bei Regenwetter oder Schneegestöber ein Obdach, so sieht er sich in der Stube, in welcher er während der Nacht herumgehen will, vorher die Bilder an den Wänden genau an. Denn einen Jesus oder gar ein Kruzifix kann er nicht vor Augen haben, die muß man



Schweizer Legenden-022 Flip arpa

herunternehmen. Und in aller Frühe treibt es ihn wieder fort aus dem Hause und aus der Gegend. Denn in der weiten Welt will kein Fußbreit Boden dulden, daß er stehen bleibt, kein Plätzchen ihm Schlummerstätte sein.

Gar vieles hat er gesehen seit Jesu Todesstunde. Er ist mitten durch die jungen, eroberungsfrohen Völker gegangen und hoch droben in den Gebirgstälern auf ihre verscheuchten Reste gestoßen. Er hat mächtige Staaten ihre Grenzsteine in stolzer Runde pflanzen und diese wieder umgestürzt gesehen, und er wird der letzte Mensch sein, der über die Erde geht.

Aber wohin auch sein Weg ihn führt, überall muß er der Verkünder schlimmer Zeiten sein. Im aargauischen Fricktal, wo er schon öfter im gleichen Wirtshaus eingesprochen, hat er erzählt: Als er zum erstenmal an den Rheinwinkel gekommen sei, wo jetzt Basel steht, habe er einen schwarzen Tannenwald, das zweitemal nur ein breites Dorngestrüpp, das drittemal aber eine vom Erdbeben zerrissene große Stadt vorgefunden. Wenn er zum letzten Male dieses Weges fahre, werde man hier stundenweit gehen müssen, um Reiser zu einem Besen zusammenzusuchen.

Eben so oft sei er durch das Tal der Waldemme gewandert. Zuerst erblickte er an den Hängen der Schrattenfluh Weinberge, nachher eine Alp. Aber als er dann wiederum ins Entlebuch kam, war der Schratten fast nur noch kahler Fels.

So ist es überall geschehen, wo der ewige Jude seinen Fuß hingesetzt. Auch im Bernerland hat man ihn an verschiedenen Orten gesehen, in Niderstocken und in Leißigen, wo er um die Weihnachtszeit im Heidenhaus herbergte, im Gsteigtal bei Saanen, in dem zu jener Zeit ein See sich ausgebreitet haben soll. An dessen Ufern sei es so milde gewesen, daß dort die Rebe gedieh. Heutzutage reifen in Gsteig nicht einmal mehr Äpfel.

Als er damals von Thun aufwärtsstieg, war der Berg Langeneck stark bevölkert. Auf der Sonnenseite wuchsen die schönsten Weinstöcke, und schattenseits lag eine Stadt, zu deren Füßen die Kirche von Blumenstein angelegt worden war. Jeden



Schweizer Legenden-023 Flip arpa

zweiten Sonntag mußte ein Prediger von der Stadt hinunter an den See im Gürbetal, um den Leuten daselbst das Evangelium zu verkünden. Der Segen Gottes ruhte sichtbar auf der Gegend und ihren Bewohnern. Aber auf seiner zweiten Wanderung durch die schöne Landschaft traf er es anders und verwünschte sie um der Sittenlosigkeit der Leute willen, so daß sie verödete und zur Bergwilde wurde.

Im Diemtigtal 5 fand er zuerst einen Gletscher, dann nach langer Zeit einen See, an dessen Ufern kleine Leutchen in Hütten und Felsenhöhlen wohnten. Bei seiner nächsten Wiederkehr war das Tal eine einzige blumige Au. Da blühten sogar Myrthen und Lorbeer, und an den Bäumen hingen Früchte, die sonst nur im Süden zu finden sind.

Jahrhunderte waren vergangen, als er zum viertenmal Diemtigen durchirrte. Jetzt traf er dort eine grüne Alpenlandschaft mit Wiesen und Gehöften an sonnigen Berghängen. Als er im Begriffe stand, die «Wehre» hinauf auf den Menigengrat zu steigen, fragte er einen Mann namens Schlunegger nach dem Weg. Diesem fiel auf, daß der fremdländisch sprechende und seltsam gekleidete Wanderer keinen Augenblick stillstehen konnte, sondern bei der Unterhaltung immer hin und her schrittelte. Von dem Fremden vernahm Schlunegger, daß das Tal einst wieder zur vergletscherten Einöde werde. Erst viel später erfuhr der Diemtiger, als er andern von seiner Begegnung erzählte, daß er den ewigen Juden gesehen habe. Und er verstand nun, warum ihm dieser hatte weissagen können, daß er einmal wiederkommen und dann über das Eis talauf ziehen werde.

In Bern hat man auf der obrigkeitlichen Bibliothek zu einer Zeit einen alten, aus ledernen Riemen gar geschickt geflochtenen Schuh gezeigt, ein handwerkliches Meisterstück. Den soll Ahasver auf der Grimsel verloren haben. Denn dort durfte er zum erstenmal eine Weile rasten.

Wie er nämlich zum erstenmal nach seiner Verfluchung die Alpen überschritt, stieg er aus dem Wallis die Grimsel hinan.



Schweizer Legenden-024 Flip arpa

Rhone und Aare waren damals vom Eise befreit bis hinauf zu ihren Quellen im Schoß der Berge, und wie jetzt am fröhlichen Rhein lebte ein munteres Menschengeschlecht an ihren Ufern. An den sonnigen Abhängen schafften emsig die Rebleute. Darüber grünten Eichen- und Buchenwälder, und unterhalb lagen stattliche Dörfer in Obstbäumen versteckt. Wo der unglückselige Wanderer anpochte, lud man ihn gastfrei ein, sich zu erquicken an dem edeln Wein, den die Halden reiften. Aus den hellen Wohnungen, den frischen Gesichtern der Kinder, aus den Mienen der Erwachsenen lachte behagliche Lebensfreude. Allein der Unselige durfte hier nicht verweilen.

Nachdem er manches Jahr verwandert, fand er sich wieder den Schneegipfeln der Alpen gegenüber. Er dachte des frohgemuten Volkes, das ihn vorzeiten so freundlich empfangen, des schönen, belebten Tales, das er durchzogen. Er wollte sich noch einmal laben an dessen Anblick. Doch eine düstere Ahnung beklemmte seine Brust, als er die Meienwand emporschritt. Grauer Nebel verhüllte die Gegend. Droben angelangt, sah er ihn zerflattern vor einem Windstoß, der aus dem Haslital hervorbrach. Er glaubte, sich verirrt zu haben. Dunkle Tannenforste bedeckten die steilen Flanken des Gebirges. Laut knarrten die hohen Stämme im Sturm. Rabenschwärme flogen aus ihren Wipfeln krächzend über dem Wanderer dahin, aufgescheuchte Eulen wimmerten im düstern Geäst. Ahasver suchte, lange vergebens, menschliche Wohnungen. Endlich fand er ein paar armselige Hütten. Die Kohlenbrenner, welche sie bewohnten, ein gutmütiger, aber ernster und schweigsamer Volksschlag, teilten mit ihm, was sie hatten, schwarzes Brot und Bier, aus den Sprossen junger Tannen gebraut.

Abermals nach vielen Jahren bestieg er das ihm so wohlbekannte Gebirge. Der Pfad, den er früher gegangen, war verschüttet. Kein Rabengekrächze schallte ihm jetzt entgegen. Über kahle Felsen strauchelte sein Fuß, der kaum irgendwo einen spärlichen Grashalm niedertrat. Todesschweigen herrschte ringsher, nur manchmal pfiff aus dem Trümmergestein in durchdringendem Tone ein Murmeltier. Und an den Berghalden, wo



Schweizer Legenden-025 Flip arpa

früher Reben gegrünt und Eichen gerauscht, an denselben Halden, die später Tannen getragen hatten, hingen nun mächtige Eismassen herab, und Gletscher füllten auch die wilden Schluchten. Nackte Felsnadeln ragten einzig da und dort aus dem Weiß der Schneeflächen, von eisigen Winden umpfiffen. Von Menschen sah Ahasver keine Spur. Er war das einzige Wesen ihres Geschlechts in dieser Gegend, auf der ein ähnlicher Fluch zu lasten schien wie auf ihm.

Da ließ er sich auf einen Stein nieder, lehnte die gramgefurchte Stirn an einen Granitblock im Tale, wo ringsum Felswände ihn einschlossen, und weinte. Zum erstenmal auf seiner qualvollen Wanderung war ihm hier vergönnt, eine kurze Spanne zu ruhen.

Und als er sich aufmachte, um in das Haslital hinabzusteigen, zu bewohnten Gefilden, hatten seine Tränen einen kleinen See gebildet. Dessen Wasser aber sind trotz der vielen Rinnsale, die aus den Gletschern rings ihnen zueilen, warm wie die ersten Tränen Ahasvers.

Betritt er einst den Ort wieder, wo er zuerst unter schattiger Rebenlaube, das zweite Mal unter dichten Laubwaldkronen, zuletzt aber zwischen Firn- und Schneefeldern geschritten, dann wird ein einziger Gletscher sein, was jetzt vom Brienzersee bis ins Wallis hinauf noch grüne Alp ist. Und auf ewigem Eis muß er von dort aus die Stätte suchen, wo allein er findet, was ihm sonst überall auf Erden versagt ist: Ruhe für seinen müdegehetzten Leib.



***
Jetzt hat man den ewigen Juden bei uns lange nicht mehr gesehen. Doch er wird wiederkehren, zum letzten Mal, so sagen alte Leute, deren Ahnen es von ihm selber gehört haben. Sein Erscheinen aber wird Schrecken verbreiten. Denn es verkündet, daß der Jüngste Tag anbricht.

Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt