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ARNOLD BUCHLI

Schweizer Legenden

GUTE SCHRIFTEN ZÜRICH 1967


PILATUS

In der Zeit unlang vor Jesu Christi Tode ward dem Kaiser Tiberius in Rom Kunde, daß zu Jerusalem ein sehr weiser Arzt wäre, der könnte die Leute heilen von all ihrem Siechtum. Es hatte aber der Kaiser selber ein gar lästiges, unsauberes Gebresten, nämlich den Aussatz. Darum sprach er zu seinem liebsten und vertrautesten Diener, Albanus mit Namen: «Albanus, nun fahre übers Meer nach Jerusalem zu Pilatus, grüße ihn von mir und sage ihm, daß er mir den weisen Arzt sende, der die Leute gesund macht und von ihrem Siechtum befreit!»

Albanus gehorchte, bereitete sich zu der Reise, fuhr gen Jerusalem zu Pilatus und sagte ihm, was sein Herr, der Kaiser, ihm entboten. Da Pilatus den Befehl vernahm, erschrak er, konnte ihm über die Sache nichts antworten und ward voll Unmuts, denn er wußte wohl, daß er an Jesus Christus übel gehandelt. Er bat Albanus, daß er ihm XXXI Tage Zeit gebe, sich zu erkunden. Inzwischen wolle er mit den weisen Juden Rats pflegen, wie er dem Kaiser Bescheid tun könnte. Albanus tat als ein getreuer Bote und gewährte Pilatus die Frist. Während dieser Zeit aber forschte er, wer jener weise Arzt wäre und ob ihm jemand zu sagen vermöchte, wo er sich aufhalte. Aber es wollte niemand von ihm gehört haben. Denn die Fürsten der Juden hatten bei Strafe an Leib und Gut verboten, davon zu sprechen, wie es Jesus ergangen. Albanus jedoch suchte überall in der Stadt zu erfahren, wo denn der gute Arzt zu finden sein möchte.

Und zuletzt kam er in das Haus einer frommen Frau, Veronika mit Namen. Die fragte er auch, was für ein Mann das wäre, von dem die Rede ginge, daß er ein gar weiser Arzt und aller Bresthaften und Beladenen Helfer sei. Da seufzte Veronika gar sehr und sprach: «Ach, der, nach dem Ihr da fragt, war mir gut vertraut. Oft hielt er Einkehr in meinem Hause, und ich hatte vielen Trost von ihm. Aber Pilatus und die Juden haben ihn, meinen Herrn und Heiland, verurteilt und getötet. Sie hingen ihn zwischen zwei Mördern an ein Kreuz, und an dem Kreuze



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starb er. Und als man ihn begraben, da erstand er am dritten Tage wieder von den Toten und wandelte mit seinen Jüngern bis an den vierzigsten Tag nach seiner Urständ. Dann fuhr er auf zum Himmel, und es war unser eine große Schar beisammen, die seine Auffahrt sahen. »

Albanus erschrak sehr, ward gar traurig und sprach: «Mich hat Pilatus gebeten, ihm Zeit zu lassen, XXXI Tage. Dann wolle er ihn meinem Herrn, dem Kaiser, senden, ihm zu helfen und ihn zu heilen von seinem großen Gebresten. Wie mag das denn geschehen, da er doch gestorben und zum Himmel gefahren ist?» Ihm antwortete die heilige Frau Veronika: «Pilatus weiß wohl, daß er übel an ihm gehandelt. Er fürchtet nur des Kaisers Zorn. Denn er darf Euch keine Antwort geben, noch können ihm die weisen Juden raten. Sie werden ihm nur helfen, eine Unwahrheit über die Sache zu ersinnen. Darum hat er um so lange Frist gebeten und aus keinem andern Grunde.»

Albanus erwiderte: «So sehe ich denn, daß ich wieder heimfahren muß ohne allen Trost, den ich doch meinem Herrn, dem Kaiser, bringen sollte, und daß ich keine Hoffnung haben kann, den Arzt zu finden. Ich fürchte, daß mein Herr, der Kaiser, von seinem Gebresten nimmermehr genesen wird.» Doch die Frau Veronika entgegnete: «Dessen sollt Ihr gewiß sein: Wer seine Zuversicht gänzlich auf meinen Herrn Jesus Christus setzt und ihn anruft von ganzem Herzen, dem wird er sich nimmermehr versagen, sondern dem gibt er, was sein Herz begehrt. Denn er hat gesprochen mit seinem göttlichen Munde: ,Wer da heischt, dem gibt man, und wer da anklopft, dem wird aufgetan.'»

Da sagte Albanus: «Nun wird mir wohl zumute, ob ich schon meines gnädigen Herrn Botschaft nicht ausführen kann zu seinem Nutz und Frommen.» Die Frau Veronika fuhr fort: «Mein Herr und Meister hat das Wort der Wahrheit verkündet überall. Da ging ich hin und hörte mit Fleiß und Ernst auf seine Rede und merkte an seinen Worten wohl, daß ich eines Tages seines Trostes und seiner Gegenwart entbehren müßte, dieweil die Juden ihn töten würden, wie denn auch geschehen ist. Und da ich besorgte, ich möchte ihn nicht lange mehr haben, so



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dachte ich: ,Laß dir sein Antlitz malen auf ein Tuch zum Trost und zur Andacht! Wenn du es dann ansiehst, so wirst du seiner gedenken immerdar.' Und als ich mich auf den Weg begeben, dem Maler das Tuch zu bringen, begegnete mir Christus, unser Herr, und fragte mich, wohin ich wollte. Und ich sagte ihm, zu wem ich zu gehen gedächte und wonach ich Verlangen hätte.

Da nahm mir Christus Jesus, unser Herr, das Schweißtuch sänftiglich aus der Hand, drückte es an sein heiliges Antlitz und reichte es mir wieder. Und da war auf dem Tuch ein Abbild. seinem Angesicht gleich an Farbe und allem. Und also blieb mir dasselbe, als ob es Jesu, unseres Herrn, wirkliches göttliches Antlitz wäre, und es ward genannt nach meinem Namen ,der Veronika Schweißtuch'.

Und ich sage Euch: Fürwahr, sähe Euer Herr, der Kaiser, das Antlitz auf dem Tuche an mit rechter Andacht und starkem Glauben, ich weiß, er würde genesen von seinem schweren Gebresten.» «Liebe Frau», fragte darauf Albanus, «ist Euch das Tuch nicht feil? Ich gebe Euch dafür so viel Silber und Gold, daß Ihr dessen im Überfluß habt, so lange Ihr lebt.» Doch die Frau Veronika antwortete: «Nein, lieber Herr, es ist mir nicht feil, nicht um Silber und Gold und nicht um Edelgestein. Ich zeige es nur aus Liebe und zu heiliger Andacht.» Da sprach Albanus: «Was soll ich denn tun, und was soll ich meinem Herrn, dem Kaiser, melden?» «Gefiele es Euch,» sagte Frau Veronika, «so wollte ich mit Euch gen Rom fahren, den Kaiser es anschauen lassen, wenn er dazu Glauben hätte.» Da ward Albanus gar froh und dankte ihr ihres guten Willens über die Maßen.

Und sie bereiteten sich, auf ein Schiff zu gehen, und fuhren über das wilde Meer gen Rom und nahmen das Tuch mit sich achtsam und mit Würde, wie es dem Heiligtum gebührte. Und Albanus begab sich in den kaiserlichen Palast, und da Tiberius vernahm, daß sein vertrauter Diener zurückgekommen, da freute er sich von ganzem Herzen, denn er dachte, jener habe den weisen Arzt mit sich gebracht. Als Albanus vor den Kaiser trat, hub er an: «Gnädiger Herr und Kaiser, ich bin in Jerusalem



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gewesen, wie Ihr mir geboten. Den weisen Arzt aber, nach dem Ihr mich gesendet, fand ich nicht. Den haben Pilatus, Euer Richter, und die Juden gefangen und gemartert und mit Schächern und Mördern an das Kreuz gehangen unschuldiger und schmählicher Weise. Sein Name aber ist gewesen Jesus der Nazarener.»

Da das der Kaiser hörte, sprach er: «Nun habe ich keine Hoffnung, daß ich je genese.» Doch Albanus erwiderte ihm: «Gnädiger Herr und Kaiser, ich habe aber mit mir gebracht eine fromme, ehrwürdige Frau. Die war des Arztes Dienerin, und er ließ ihr ein Wahrzeichen, das Bildnis seines Antlitzes, einem Schweißtuch aufgedrückt. Und wenn Ihr das Tuch anschaut und an die Kraft des Arztes Jesus glaubt andächtiglich, so werdet Ihr genesen von Eurem Gebresten und von Stund an frisch und gesund sein. »

Da ward der Kaiser wieder froh und hieß alsogleich senden nach dem ehrwürdigen Heiligtum und nach der Frau Veronika. Und den reichen Bürgern der Stadt Rom ließ er gebieten: wer köstlichen Samt und Seide habe, der solle sie auf dem Boden ausbreiten, wo die Frau des Weges komme, ihrem Heiligtum zu Lob und Ehren. Und er gebot auch, daß Frauen und Männer ihm in Menge entgegen gingen. Und die Römer taten so mit Begierde und machten sich auf, die Väter Senatoren und die Priester voran mit großem Gepränge und in köstlichen Gewändern, und unter ihnen schritt der Kaiser selbst einher in tiefer Andacht.

Und als er das Heiligtum von ferne erblickte, da fiel er nieder auf die Knie in Demut und Ernst. Und da Veronika ihm das Tuch mit dem Antlitz Jesu darreichte, nahm er es in die Hand und hielt es vor seine Augen im Angesicht aller Welt. Da genas der Kaiser von seinem Gebresten und ward von Stund an frisch und gesund und schön an seinem ganzen Leibe. Das Tuch aber trug man mit Ehrfurcht in des Kaisers Palast, und viele Menschen, die andächtig vor das Heiligtum traten, wurden geheilt von ihrem Siechtum. Und man erwies auch der Frau Veronika große Ehre.



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Darnach aber befahl der Kaiser, daß Pilatus zu Jerusalem in Fesseln gelegt und nach Rom geführt werde. Und er bedachte sich, welchen Tod er ihm antun wollte. Aber als Pilatus vor ihn kam und der Kaiser ihn ansah, da konnte er kein hartes Wort wider ihn reden. Sowie er jedoch gegangen, da ward er über den Landpfleger ergrimmt und gebot, ihn abermals hereinzuführen. Allein kaum stand dieser wieder vor ihm, da vermochte Tiberius ihn nicht hart anzulassen, wie er gewollt. Da sagte die heilige Frau Veronika zum Kaiser: «So du ihn bestrafen willst, so heiße ihn den Rock ausziehen, den er anhat! Denn derselbige war Jesu Christi, meines lieben Herrn, Rock, und solange er den auf sich trägt, kann ihm keiner ein Leid antun.»

Sogleich befahl der Kaiser, ihm Jesu ungenähten Rock, den er unter seinem Gewande verborgen trug, auszuziehen, und jetzt hatte Tiberius Gewalt, ihm gram zu sein, und er sprach zornig zu ihm: «Du verabscheuungswürdiger Bösewicht, nun will ich den schmählichen, ungerechten Tod Jesu, meines Arztes, an dir rächen. » Und der Kaiser war so ergrimmt auf ihn, daß er nicht wußte, welches harten Todes er ihn sterben lassen sollte.

Zu der Zeit kam auch Vespasianus nach Rom geritten und begehrte vom Kaiser, daß er ihm verstatte, Jerusalem zu zerstören samt allem, was darinnen war an Menschen und Gut, insonders die ganze Judenheit. Das erlaubte ihm der Kaiser, denn er war allen Juden feind um des Todes Jesu Christi willen. Weil aber der Christen damals zu wenige waren, konnte Vespasianus zu derselben Zeit sich noch nicht vor Jerusalem legen, und es stand an wohl vierzig Jahr. Doch als diese um und der Christen gar viele geworden waren, da zog des Vespasianus Sohn Titus mit großem Kriegsvolk vor Jerusalem, belagerte die Stadt auf die hohen Osterfesttage und bedrängte sie also hart, daß darinnen vor übergroßer Not an Speise und allem Frauen ihre eigenen Kinder verzehrten und in den Gassen und Straßen viele niederfielen und Hungers starben. Und endlich kam es dazu, daß die Stadt Jerusalem eingenommen ward und Titus Vespasianus je dreißig Juden um einen Pfennig gab, gleich wie sie



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Christus Jesus um XXX Pfennig gegeben und den Kriegsknechten der Römer überantwortet hatten. Und Titus Vespasianus schleifte die Stadt samt ihren Mauern. Dabei ward Joseph von Arimathia aufgefunden unter der Erde, eingemauert in einem Gewölbe, wo er viele Jahre ohne alle leibliche Speise gelebt mit der Hilfe des allmächtigen Gottes. Der erzählte dem Feldherrn Titus Vespasianus, wie alles zugegangen war, und erst, nachdem alle diese Dinge geschehen und Jerusalem dem Erdboden gleich gemacht war, starb er.

Als nun der Kaiser den Landpfleger Pilatus gefangen gesetzt, beriet er sich mit Vespasianus und andern Fürsten, auf welche Weise er den Missetäter sollte hinrichten lassen. Denn er wollte ihm einen bösen Tod antun. Und sie urteilten alle, er hätte das schändlichste Ende verdient, das man sich nur denken könnte. Da Pilatus das erfuhr, stieß er sich selber ein Messer durch die Kehle. Der Kaiser aber sprach: «Sicherlich, er hätte keinen schändlicheren Tod erleiden können!»

Darauf entließ er die Frau Veronika mit großen Ehren, und sie kehrte in ihre Heimat zurück. Dem Kaiser aber verblieben durch ihre Güte das Tuch mit dem Bildnis Jesu und sein ungenähter Rock.

Den unreinen Leichnam des Verruchten aber befahl er in den Tiber zu schleifen, das ist ein großes Wasser und fließt durch Rom. Doch da kamen die bösen Geister daher, ergriffen den toten Pilatus und fuhren mit ihm durch die Lüfte und danach wieder in den Fluß, und so verunreinigten sie mit ihm Luft, Erdreich und Wasser. Die Wolken zogen sich zusammen, die Elemente gerieten in Aufruhr. Es blitzte und donnerte gar heftig, und ein starker Hagel fiel, daß die Leute in große Sorge und Angst gerieten.

Da wurden die Römer Rats, Pilatus wieder aus dem Tiber zu ziehen, und sie schickten ihn nach Vienna in des Augustus Kolonie und befahlen, ihn in ein Wasser zu werfen, das der Rotten' genannt wird. Allein, wie man ihn hineinstieß, verfuhren die



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bösen Geister mit ihm gleich, wie sie zu Rom getan. Sie erregten Stürme, und es fing an zu regnen und zu hageln, denn auch der Rotten wollte des Pilatus Leichnam in seinen Fluten nicht behalten. Das konnten die Leute zu Vienna nicht dulden, und sie holten ihn aus dem Fluß und schickten ihn nach Losen 2 . Daselbst sollte man ihn begraben. Allein sowie dies geschehen, schnoben die bösen Geister heran, wühlten den Totenhügel auf, und es erhob sich ein schreckliches Ungewitter. Denn auch das Erdreich wollte den Verächter des Herrn nicht bergen. Und die von Losen waren insgleichen nicht gewillt, um seinetwillen solches Ungemach zu ertragen, und sie schafften ihn weit fort auf ein hohes Gebirge, wohl vierzig Stunden von ihrer Stadt entfernt. Das liegt in der Eidgenossenschaft bei zwei Meilen von Luzern, und die Landleute und Umsassen von nah und fern nannten es Fräkmünt.

Unter dem Felsgipfel dieses Berges ist die Wild Alp und darin ein Seewili, ein gar unreiner Pfuhl. Da hinein ward der Leichnam geworfen in aller Teufel Namen. Die trieben mit Pilatus ihr bös Unwesen, und es war daselbst gar ungeheuer. Das hatte der Bösewicht verschuldet, und darum hielt der Rat zu Luzern jene Gegend wohl in Hut. Denn ging jemand hinauf Wunders halber oder aus Mutwillen und warf etwas in den See, einen Stein, Erde oder ein Stück Holz, so entstand sogleich ein schweres Unwetter mit Donner und Hagel, wie oft geschehen. Von Zeit zu Zeit aber verließ Pilatus das Seelein, in das er geworfen und gebannt war zu ewigem Leid, und durchstürmte als grauenhaftes Gespenst die Alp, erschreckte die Hirten, vertrieb sie von den Weiden, zersprengte die Herden und stürzte das beste Vieh in die Abgründe. Oftmals auch stieg er hinauf auf das Güpfl, eine Bergspitze, die gegen das Entlebuch hin vorspringt. Dort thronte er auf der Felsenkanzel und hatte die Macht, ein Gewitter mit entsetzlichen Wolkenbrüchen zu erregen. Augenblicklich schwollen im Tale die Bäche an, überschwemmten Äcker und Matten, daß ganze Häuser, Speicher



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und Scheunen mit allem Hab und Gut und selbst Menschen weggespült wurden.

Man erzählt, daß noch ein anderes Gespenst droben auf dem Fräkmünt oder, wie er auch genannt wurde, dem «brochen Birg» gehaust habe, nämlich der König Herodes. Und am furchtbarsten sei es zugegangen, wenn die beiden im Sturme mit einander gekämpft hätten. Dann jagte ein Wetter das andere, und die Bauern unten in den Dörfern besegneten sich in Angst und Grauen.

Der unselige Geist auf dem Fräkmünt trieb sein verderbliches Wesen immer ärger. Aber kein anderes Land hätte des Pilatus Leichnam mehr aufgenommen, und deshalb waren die Bewohner jener Gegend sehr froh, als einst ein fahrender Schüler, der in der schwarzen Schule zu Salamanca studiert hatte und zu den Rosenkreuzlern gehörte, nach Luzern kam und sich anerbot, den Geist zu beschwören. Der Rat verhieß, ihm eine große Summe Geldes einzuhändigen, wenn es ihm gelinge, den Älplern auf dem brochen Birg Ruhe und Sicherheit zu verschaffen. Der Student versprach, sein Möglichstes zu tun.

Er machte sich sogleich an die Verfolgung des Geistes, den er droben auf dem Güpfl antraf, wo der Unhold wie von einer Warte herab die Gegend durchspähte. Der Schüler begann seine Beschwörung. Funken zuckten ihm aus Haaren und Fingerspitzen, während er die Kraftsätze seiner schwarzen Kunst gegen Pilatus hinüber wetterte. Es war ein heißes Stück Arbeit. Sogar der Felsblock unter seinen Füßen begann sich vom Berge zu lösen und schwankend zu werden. Und er ist es geblieben bis zum heutigen Tag; er heißt darum auch der Gnepfstein.

Aber noch war Pilatus keinen Zoll breit gewichen. Der Rosenkreuzier sah sich gezwungen, seine Zuflucht zu noch stärkeren Formeln zu nehmen. Er suchte sich einen festeren Standort und sprang morgenwärts auf das Widderfeld, eine Felszacke, die dem Güpfl gegenüber liegt. Jetzt biß er die Zähne aufeinander, daß es knirschte, und holte seine mächtigsten Sprüche hervor. Was es da gegolten, das kann man ahnen, wenn man sieht, wie auf der Stelle, wo der fahrende Schüler gestanden hat, die Ra



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sendecke auf einem großen Viereck für ewige Zeiten versengt ist und der nackte Fels zu Tage tritt, während ringsher das schönste Gras wächst. Da setzte sich noch lange nachher kein Tau an und wurde nie ein Tier gesehen.

In wildem Wirbel umkreiste der Geist den Schüler, der seinen Zaubermantel von den Schultern gerissen hatte und ihn zum Schutze vor den blitzenden Blicken des Gespenstes rundum wirbelte.

Endlich nach hitzigem Kampfe mußte Pilatus weichen und barg sich vor den Bannschwüren des Studenten winselnd hinter einem Felsblock. Er fing an mit ihm zu verhandeln und gab ihm so weit nach, daß er sich zu dem Versprechen herbeiließ, fürderhin in seinem See auf der Alp sich ruhig zu verhalten. Dort sollte ihn aber niemand geflissentlich stören dürfen. Nur einmal im Jahr sollte ihm gestattet sein, aus der Tiefe zu steigen und auf der Oberwelt, inmitten des Sees, zu wellen. Auch stellte Pilatus das Beding, daß er auf einem Pferde, wie es sich für einen römischen Ritter gezieme, nach dem See hinunter in seine Wohnstatt zurückkehren könne. Der Schüler willigte in diese Forderung ein. Er schüttelte noch einmal seinen dunklen Magistermantel, und plötzlich stand ein kohischwarzer Hengst da. Der Fahrende hatte einen bösen Geist gezwungen, in Pferdegestalt Pilatus zu dienen. Dieser schwang sich auf den Rücken des Höllenrappen und spornte ihn im Zorn über seine Niederlage zu solch wilden Sprüngen an, daß die Eindrücke der glühenden Hinterhufe im Uferfelsen heute noch zu sehen sind.

Pilatus hielt den Vertrag. Alljährlich am Karfreitag, da er Jesus zum Kreuzestode verurteilt, entstieg er den Wassertiefen. Zu der Stunde, da in der Kirche die Passion gesungen wird, tauchte der Teufel aus der Flut und führte den zitternden Pilatus an einer eisernen Kette zu dem Richterstuhle, der sich mitten auf dem See erhob. Angetan mit dem blutroten Gewande seines Amtes, darauf Haar und Bart eisgrau herabhingen, setzte sich der einstige Landpfleger von Judäa auf den eifenbeinernen Sessel und wusch seine Hände in einem Becken



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blutigen Wassers, das ihm der Böse hielt. Wer ihn alsdann erblickte, mußte noch im nämlichen Jahre sterben.

Dieses Schauspiel wiederholte sich Karfreitag um Karfreitag, bis ihn der Teufel einmal ergriff und in Stücke riß. Auf dem Fräkmüntberge, den alle Welt jetzt unter dem Namen des Pilatusgeistes kennt, ist er seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen worden. Aber drunten in den Freibergen zeigt das Volk noch heute mitten in den Stromschnellen des Doubs das mächtige versteinerte Haupt des Pilatus, das der Satan dorthin geworfen, damit es von den wütenden Wellen gewaschen werde bis ans Ende der Welt.


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