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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Vreneli


1.

Nicht gar weit über Isenfluh, dem hochgelegenen Dörfchen im Lauterbrunnental, erhebt sich ein spitzer Felsturm, der stolz auf Interlaken niederblickt und nach der andern Seite zur Jungfrau hinaufgrüßt . Er heißt die Dünne Fluh. Die Bergleute aber nennen ihn kurzweg Vreneli.

Woher der Name wohl kommen mag ;

In Isenfluh lebten vor nicht gar langer Zeit ein Bursche und ein Mädchen, die sich von Herzen lieb hatten. Der Bursche, hoch gewachsen, mit dunklem Haar und scharf geschnittenem Gesicht, sah trog seinen jungen Jahren schon recht ernst und nachdenklich in die Welt. Das Mädchen dagegen, fein und zierlich von Gestalt, mit goldfarbenen Zöpfen, großen blauen Augen und einem silbern Kettlein um den Hals, war gar lieblich anzuschauen und voll heitren Sinns. Die beiden hatten einander schon zwei Jahre Treue gehalten und hofften, sich nun bald ganz anzugehören. Da traten die Eltern des Mädchens dazwischen. Der Friedel, meinten sie, sei halt ein bißchen zu sung zum Heiraten; der müsse vorher noch in die Fremde und dort zwei oder drei Jahre Kriegsdienste tun. Im stillen erwarteten sie auch, da der Bub so groß und stark war, er werde dann mit Gold und Ehren beladen nach Hause zurückkehren und damit ihr Töchterchen erst recht glücklich machen.

Wenn auch schweren Herzens, fügten sich die beiden Liebenden dennoch in den Wunsch der Eltern. Am Tage vor der Abreise aber stiegen sie zum genannten Felsturm hinauf und ließen sich dort, wie sie das schon so manches liebe Mal getan, an seinem Fuß, im Sätteli, nieder. Die Stelle war, da sie einen gar herrlichen Ausblick nach Süden und Norden gewährt, zu ihrem Lieblingsplätzchen geworden. Die Hände verschlungen, ernst und traumverloren auf ihr Dörfchen hinabschauend oder hinauf zu den hohen Bergen, die in der Sonne



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funkelten, plauderten die zwei nun lange von den glücklichen Stunden, die sie schon zusammen verlebt, von der schweren Trennungszeit, die ihnen bevorstand, und dann von dem gemeinsamen Leben nach der Rückkehr des Geliebten, das sie sich in goldenen Farben ausmalten .

Wenn aber nicht wiederkommst! " fuhr das Mädchen plötzlich auf. "Mir ist so bang, Friedel, du bleibest im Krieg, und ich seh dich nie, nie mehr wieder.

"Sei nur ohne Sorge, Vreneli, tröstete der Bub. "Ich komme wieder. Und wenn s vielleicht auch länger als drei Jahre dauern sollte — es weiß es ja niemand, wies einem so im fremden Land ergehen kann — so bleib mir gleichwohl treu und warte."

"Ja, Friedel, ja ", stieß das Mädchen Setzt leidenschaftlich hervor und preßte die Hand ihres Geliebten. "Das will ich. Das werd ich. Treu will ich dir bleiben und sollt es zehn und mehr Jahre gehen. Einen andern Mann als dich könnt ich ja auch gar nicht lieb haben. Das wär mir unmöglich."

"Ich weiß es schon, Vreneli, sagte er gerührt, daß ich auf der ganzen Welt kein bessres Mädchen hätte finden können als dich.

Sie widersprach ihm und nannte diese und jene im Dorfe, die sicher besser seien als sie. Und auch schöner. Er aber ließ ihr nichts gelten, und so stritten die beiden eine Weile hin und her. Am Ende aber schloß er ihr den Mund mit einem Kuß, faßte die jugendzarte Gestalt unter den Armen und stellte sie mit einem Ruck auf die Füße.

"Komm! " sagte er. "Laß uns zum Abschied noch ein paar Blumen pflücken."

Sie suchten sich eins fürs andre die schönen Bergblumen aus, um damit ihre Liebe zu schmücken, und wanden sie zum Sträußchen. Und als sie einander die Buschen überreichten, da fand es sich, daß diese sich ganz ähnlich waren: der eine zwar ein bißchen größer, der andre zierlicher, beide aber umschlossen mit einem Kranz rot glühender Alpenrosen ein dunkelblaues Feld von Eisenhut.

Sie schauten lächelnd auf die Buschen nieder.



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"Alpenrosen und Eisenhut — die Farben der Liebe und der Treue ", sagte der Bub.

"Unsre Farben, Friedel ", bekräftigte das Mägdlein.

Nach einem Augenblick fuhr der Bub fort:

"Du weißt, Vreneli, wie lieb uns beiden diese Blume, der Eisenhut , ist. Nun denk ich es mir also: Wenn ich nach zwei oder drei Jahren wiederkomme, dann pflück ich mir erst einen Busch von diesen schönen Blumen und stell ihn dir durchs Fenster auf den Tisch. Daran sollst du erkennen, daß dein Friedel heimgekommen und wir nun Hochzeit halten können."

Das holde Gesichtchen des Mädchens errötete, ihre Augen leuchteten . Dann sagte sie schnell:

"Ja, Liebster, tue das, und am folgenden Tage steigen wir zusammen



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hier hinauf und feiern unser Wiedersehn, so wie wir heute hier voneinander Abschied nehmen."

Die Sonne war schon vor einer Wellt untergegangen. Im Tale drunten begann es zu dunkeln, und höher und höher stiegen die Schatten die waldigen Hänge hinan. Ueber die silbernen Zacken und Zinnen aber ergoß sich jetzt ein rosiges Licht, das sich rasch tiefer färbte, und bald stand die ganze Kette der Hochwelt in Flammen.

Der Bub hatte seinen Arm um des Mädchens Hüfte gelegt, und beide standen nun lange und schauten stumm und ergriffen hinaus in die lohende Pracht.

"Wie schön sind doch unsre Berge! " sagte endlich der Bub mit bewegter Stimme. "Ich hab es mir ja immer gedacht, aber noch nie so empfunden wie jetzt, wo ich von ihnen Abschied nehmen muß. Und nicht nur das. Daß die Berge schön sind, das weiß am Ende jedes Kind. Allein es liegt noch etwas andres in ihnen, etwas, das ich nur nicht so recht zu sagen vermag. meine, sie stehen immer so fest und ruhig da. Da mag die Sonne darüber scheinen, der Sturm sie schütteln , die Lawinen an ihren Seiten niederfahren — immer bleiben sie dieselben. Und dann - weißt, Vreneli, die Berge, die lügen nicht, die betrügen nicht. Die schauen so auf einem hernieder wie strenge Richter, und schon oft, wenn ich etwas Schlechtes sagen oder tun wollte, da war s mir, als mahnten sie mich: Sag's nicht, Friedei! Tu's nicht! Bleib redlich! Sei ein guter Mensch! Und ich habs dann auch wirklich nicht getan.

"Also ist es auch mir schon ergangen ", sagte das Mädchen mit gepreßter Stimme.

Dann sprach keins ein Wort mehr. Sie schmiegten sich nur enger aneinander und schauten, von heiligem Schauer ergriffen, hinauf zu den Bergen, deren Spitzen setzt im letzten, fast überirdischen Glanze leuchteten. Sie fühlten beide in diesem Augenblick: ihr Schicksal lag, wie das aller Menschen, in einer höhern Hand; doch treu würden sie sich bleiben bis zum letzten Atemzug . . .



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2.

Der Bursche zog ins Franzosenland, das Vreneli aber verrichtete Tag für Tag seine Arbeit wie bisher. Es nähte und strickte, es besorgte Haus und Garten ihrer Eltern, oder ging wohl auch hinüber ins Haus ihres ältern Bruders, dem vor einem Jahr die Frau gestorben, und betreute dort die beiden nun mutterlosen Kinder. Vom frühen Morgen an war das Mädchen tätig, und wenn es sich auch, besonders in der ersten Zeit, vor Sehnsucht nach dem Geliebten fast verzehrte, so tat es dennoch mit heitrem Gesichte die hundert kleinen und größern Pflichten und legte erst am Abend Hacke oder Nechen, Besen oder Nadel aus der Hand. Dann setzte es sich auf das Bänklein vor dem Hause und überließ sich hier seinen Gedanken. Briefe wurden damals unter einfachen Leuten nur selten geschrieben, und so mochten wohl Monate verstreichen, bevor ein solcher aus Frankreich eintraf.

Fast noch mehr als früher lebte das Vreneli von setzt ab still und zurückgezogen, verkehrte nur mit wenigen Freundinnen ihres Alters und dachte auch nicht daran, irgendeinem Vergnügen nachzugehen. Die ganze Woche hindurch aber freute es sich auf den Sonntag, der für dieses reine und feine Menschenkind ein wirklich heiliger Tag war, also wie er von Gott verordnet worden, und es widmete ihn ganz nur der Ruhe und der Pflege ihrer Seele.

Am Morgen dieses Tages besuchte das Mädchen die Kirche, am Nachmittag aber stieg sie auf steilem Weglein hinauf zur Dünnen Fluh und setzte sich dort an die ihr so vertraute Stelle im Sattelt. Da ging ihr dann so recht das Herz auf inmitten der heiligen Sonntagstille , wo die schönen Bergblumen um sie her ihr freundlich zulächelten , wo so ein eigen Duft und Glanz über Wald und Weide lag und die erhabene Welt der weißen Firnen feierlich auf sie herniederblickte. Dann schien auch die Sonne so golden schön, hiel schöner noch als am Werktag, und weiße Sommerwolken zogen wie stille Träume durch die blaue Luft. Das Mädchen schaute ihnen sinnend nach, und



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denen, die nach Westen wanderten, übertrug sie tausend Grüße an ihren Geliebten. Oder sie schaute über die Wolken hinweg in den weiten Himmel hinein, der so gar kein Ende nehmen wollte, und legte getrost ihr und ihres Geliebten Schicksal in die Hände dessen, der über allem menschlichen Denken und Trachten stehet . . .

So verstrich ein Jahr, als aus der französischen Hauptstadt zum erstenmal Kunde nach Isenfluh gelangte. Sie lautete nicht gut, erzählte vom Aufstand des Volkes gegen den König und von dem heldenmütigen Kampfe der Schweizer. Später erschien im Dörfchen ein Mann aus dem Luzernischen, der zu berichten wußte, daß das rote Regiment schwere Verluste erlitten und jedenfalls auch junge Oberländer ihr Leben gelassen hätten. Das Vreneli vernahm das wohl, ihm ahnte nichts Gutes, und am andern Morgen waren seine Augen vom Weinen rot. Doch klagte es nicht und tat weiterhin Tag für Tag seine Arbeit.

Aber auch das zweite, das dritte Jahr verstrich, ohne daß das Vreneli vom Soldaten im fernen Land eine Nachricht erhalten hätte. Dem Mädchen ward immer schwerer zumute, und es gab Tage und Zeiten, wo sie sich bei der Arbeit zusammennehmen mußte, um nicht hinzufallen, also zermürbten das vergebliche Warten und das Sichsehnen nach dem Geliebten ihr gutes und feines Herz. Aus einer jeden solchen Betrübnis der Seele richtete sie sich aber immer wieder auf in dem Gedanken, er würde sicher eines Tages kommen, sie brauche nur noch ein wenig Geduld zu haben . . .


3.

Die Jahre kamen und gingen, der Geliebte aber kam nicht und ließ auch sonst nichts von sich hören.

"Was willst denn noch weiter warten, Vreneli ; " sagten die Leute. "Dein Friedel ist sicher schon lange tot. Der ist im Kriege gefallen und kommt nimmer wieder. Mußt dich halt setzt nach einem andern umsehen. Und das schnell. Bist sa auch nicht mehr jung."



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Solche und ähnliche Reden mußte das Vreneli nun oft anhören. Wie das schmerzte! Tot sei ihr Friedel ? Das war nicht möglich. Das konnte nicht sein. Schon der bloße Gedanke war ihr unfaßbar. Wie? Das Liebste, das sie auf Erden hatte, das, mit dem sie sich schon setzt verbunden fühlte auf immer und ewig, das sollte ihr entrissen sein? Nimmermehr! Das durfte Gott, auf den ihr Herz wie auf einen Felsen baute, nicht zulassen. So grausam konnte er nicht sein. Wo wäre denn sonst seine Gerechtigkeit? Nur Geduld, Ihr lieben Leute! Der Friedel wird sicher kommen, wenn auch vielleicht erst nach Jahren. Hatte er nicht felber gesagt, es wisse sa niemand, wie's einem so im fremden Land ergehen könne?

Freilich, recht hatten die Leute Schon, wenn sie sagten, sie sei nicht mehr sung. Zehn Jahre verändern einen Menschen, und aus dem blühenden Mädchen war setzt ein Jümpferchen geworden, von dem der erste Hauch der Jugend gewichen. Dafür hatten sich die Züge des edlen Gesichtchens noch mehr verfeinert und auch die großen blauen Kinderaugen nichts von ihrem frühern Glanz verloren. Ja, man bemerkte mit Staunen, wie setzt von ihnen ein Leuchten ausging, als sähen sie mehr Dinge als die Augen andrer Menschen.

Und dennoch — sie war nicht mehr sung.

Sich nun aber nach einem andern Mann umzusehen, wie die Leute das nannten, daran dachte das Vreneli auch nicht einen Augenblick. Jhr ward von Gott das eherne Gesetz ins Herz gesenkt, nur einen Mann und diesen treu zu lieben. Bon diesem Gesetz auch nur um Fingerbreite abweichen wollen — das wäre ihrer Seele Tod, dann würde sie ja zur Verräterin an ihrem Geliebten werden und das Höchste, die Liebe und Treue, als ein Irrtum zusammenbrechen. Mochten denn die Leute sagen, was sie wollten: sie hatte nicht ihnen, sondern nur der Stimme ihres Gewissens zu gehorchen. Auf diese konnte sie sich verlassen. Die wies ihr untrüglich den Weg, den sie zu gehen hatte . . .

Die Jahre rollten dahin, flochten ins blonde Haar des alternden Mädchens die ersten Silbersträhnen, gruben in Stirn und Wangen



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die ersten Falten, der Mund ward schmal, der Gang nicht mehr so anmutig wie ehmals. Fest aber blieb im Wandel der Zeit ihr Glaube an die Rückkehr des Geliebten.

Und ihre Liebe zu Gott und den Menschen.

Die Kinder ihres Bruders waren längst erwachsen. Nun starben ihr auch kurz nacheinander Vater und Mutter, ohne daß der Traum ihres Lebens sich erfüllt hätte, das Töchterchen reich und glücklich verheiratet zu sehen. Setzt stand das Vreneli allein. Die Verblichenen hatten ihr ein ordentlich Stück Geld hinterlassen, also daß sie nicht zu sorgen brauchte. Indessen vermochte ein Leben für sich allein ihre große Seele nicht auszufüllen, und in ihrem Herzen mag damals etwas vorgegangen sein, um das nur sie und ihr Gott wußte, das aber mit jedem Jahre mehr zutage trat: sie stellte sich ganz in den Dienst für andre.

Wo das Vreneli im Dörfchen irgendeine Not wußte, da ging sie hin, pflegte die krank gewordene Mutter, kochte, reinigte die Wohnung, lehrte die Knaben und Mädchen oder flickte ihre Kleider. Sie nahm verwahrloste oder verwaiste Kinder in ihr Haus und nährte und betreute sie wochen- und monatelang. Sie ward die Freundin aller Armen und Verlassnen, aller Verschupften und Gebrechlichen, um die sich sonst niemand kümmerte, und verstand es, ohne viel Worte zu machen, einzig durch die Macht ihres menschenfreundlichen Wesens, die jede Lage, jede Regung des andern mitfühlt, zu trösten und wiederaufzurichten, was am Boden lag. ES schien, als ob die gewaltige Liebeskraft, die bisher in ihr durch die häuslichen Verhältnisse gebunden, sich plötzlich befreit und nun ungehemmt auf ihre Mitmenschen überströmte.

Von sich selber redete das Vreneli kaum mehr. Und doch wußten die Leute, daß sie die Hoffnung, ihren Geliebten wiederzusehen, noch nicht aufgegeben hatte. Und wirklich, die Sehnsucht nach ihm war geblieben. Sie hatte nichts von ihrer Kraft verloren. An die Stelle des frühern leidenschaftlichen Wünschens und Begehrens war aber mit den Jahren und Jahrzehnten ein Gefühl ruhigen Erwartens getreten,



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das nicht mehr schmerzte, das sie vielmehr hester und glücklich stimmte und andern Menschen zum Segen ward.

Jhre Wohnung hielt sie immer sauber und blank, damit er, der so lange Jahre die Mühen des Soldatenlebens ertragen mußte, bei seiner Rückkehr ein trautes Heim vorfände. Und wenn sie am Abend von ihrem Dienst an den andern nach Hause zurückkehrte, so fiel ihr erster Blick immer wieder auf den Tisch beim Fenster, zu sehen, ob nicht etwa der versprochne Blumenstrauß dort läge. Auch stieg sie in unwandelbarer Treue Sonntag für Sonntag zum Felsenturm hinauf. Und ging dies nicht mehr so leichten Fußes wie früher, wo das flinke Mägdlein mit ihrem Liebsten die felsigen Platten um die Wette hinaufgesprungen, so war doch ihr Herz jung geblieben und hatte immer noch seine Freude an der Sonne, und an den Bergen, und an all den Wundern, die der liebe Gott darüber hingestreut. Und ihre großen Augen schauten, wie früher, stundenlang nach Westen, von woher der Verschollene kommen mußte — und doch nicht kam . . .


4.

Jahre vergingen.

Da kam einst ein fremder Herr nach Isenfluh, bezog eine Stube und lebte nun hier monatelang das einfache Leben der Bergleute. Die meiste Zeit blieb er zu Hause, unter seinen Büchern vergraben. Dann und wann nur machte er Ausflüge in die nahen Berge.

Also stieg der fremde Gast eines Tages zu dem eigenartigen Felsturm hinauf, der dort oben so trotzig in den Himmel ragt. Er betrachtete ihn von allen Seiten und erwog einen leichten Weg, um auf seine Spitze zu gelangen. Da gewahrte er in einer Mulde ein altes Mütterchen mit schneeweißem Haar, das traumverloren in die Ferne blickte. Die Frau hatte ihn nicht bemerkt, und so machte sich der Fremde leise davon, um sie nicht zu erschrecken.

Später begegnete er dem Mütterchen auch im Dörfchen und freute sich an ihrer heitren Art und den großen reinen Kinderaugen, die ihn immer so fragend anblickten. Von feinen Hausleuten erfuhr er auch



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ihre Geschichte, wie sie zur Wohltäterin des ganzen Dorfes geworden und im übrigen noch heute unveränderlich an ihrer Liebe zu dem längst Verschollenen festhalte.

"Viel mag das Vreneli jetzt freilich nicht mehr zu schaffen", fügten sie bei. "Es ist zu alt geworden. Aber das macht nichts. Das hat mehr als zwanzig Jahre lang für uns alles getan, was es konnte, und wir lieben und verehren es im ganzen Dorfe fast wie eine Heilige."

Gelegentlich traf er sie wieder beim Felsen droben, und als die gute Frau bemerkte, wie auch ihm diese Stelle lieb ward, faßte sie Zutrauen zu dem landesfremden Manne und erzählte jetzt manches aus ihrem Leben.

Später, im September, bestieg er an einem sonnigen Morgen einen Berg hinten im Saustal, die Sausegg, und genoß dort eine herrliche Aussicht. Auch war die Gipfelfläche über und über bedeckt mit der Staude des Eisenhutes, und der dunkelblaue Teppich hob sich gar wundersam ab von den roten, braunen und gelben Matten ringsherum . Da konnte er denn nicht anders, als einen großen Strauß von diesen Blumen zu pflücken und sie nach Hause zu nehmen.

Wie der fremde Herr nun, die Blumen in der Hand, durch das Dörfchen schritt, fiel ihm plötzlich ein, er könnte damit auch dem Vreneli eine Freude bereiten — hatte sie ihm doch schon so oft gesagt, wie lieb ihr gerade diese Blume wäre. Also stellte er denn der guten Frau einen hübschen Busch durch das Fenster auf den Tisch und entfernte sich eilig, um nicht gesehen zu werden.

Sein blauer Strauß hatte unerwartete Folgen. Noch am gleichen Abend lief das Vreneli zu den Nachbarsleuten und erzählte ihnen mit strahlendem Gesicht, der Friedel sei heimgekommen, er habe ihr die versprochenen Blumen auf den Tisch gestellt. Die Leute dachten, sie wäre plötzlich närrisch geworden und wollten ihr diesen Glauben ausreden. Doch war ihr Bemühen umsonst. Aufgeregt lief das Mütterlein weiter, fragte, freilich immer vergeblich, noch in diesem und jenem Hause nach, bis es endlich das Dörfchen verließ und den steilen



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Weg nach dem Felsturm emporzusteigen begann. Der Friedel, dachte es wohl, werde sie sicher dort oben erwarten ; dort oben wollten sie ja zusammen ihr Wiedersehen feiern.

Es begann schon zu dunkeln. Dörfler, die von der Alp herniederstiegen und ihr begegneten, fragten erstaunt:

"Wohin geht's denn noch so spät, Vreneli ?"

Das eilige Mutterli aber gab keine Antwort. Es mühte sich weiter den ihm so vertrauten Weg empor, und als es endlich, schwer atmend und erschöpft, beim Felsturm droben anlangte, da zogen bereits die goldnen Sternlein am Himmel herauf . .

Am andern Tage entdeckte ein junger Hirte, der in der Nähe seine Kühe weidete, in der Mulde des Felsenturms den zusammengekauerten



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Leichnam des Vreneli. In ihrer Hand hielt sie einige Zweige Eisenhut, auf ihrem Gesicht aber lag ein verklärtes Lächeln — glaubend, liebend und hoffend bis zum letzten Atemzuge war sie still hinübergegangen ins Land der Sterne, wo sich die wiederfinden werden, denen hier sich zu finden nicht beschieden ward.

Auf einer Bahre trugen die Leute den Körper nach Isenfluh hinab und tags darauf nach dem Bergfriedhofe von Gsteig. Der Fremde warf in das offne Grab eine Handvoll leuchtenden Eisenhut, den er wieder auf der Sausalp geholt hatte.

Die Dünne Fluh nannte er von da hinweg nur noch den Vreneliturm, und im Dörfchen nahm man den Namen willig auf. Als aber der fremde Gast später einmal der Verstorbenen Grab besuchte, da las er auf einfachem Holzkreuze die Worte:

Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken,
Und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr.


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