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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Wie der Kuhreihen entstanden

Steigt der Wandrer im Sommer auf die Berge, mag er hier und dort von einer Alpweide hernieder das Jauchzen eines Sennen vernehmen . Er bleibt dann stehen und lauscht mit Vergnügen diesem seltsamen Lied ohne Worte, das, schnell wechselnd, oft ein Weilchen in der Tiefe anhält, um dann plötzlich in die Höhe zu steigen. Und die bald heiter, bald traurig klingenden Laute des Hirten kommen ihm nicht mehr aus dem Sinn. Sie klingen noch lange in seinem Herzen fort und stimmen es freudig und wehmütig zugleich, wie das Gedenken an entschwundene Jugendtage.

Wie ein einsam lebender Mensch oft zu singen anhebt, um sich nicht mehr so allein zu fühlen, also jauchzt auch der Senn auf der Weide. Hallt dann seine Stimme auf allen Seiten von den Flühen wider, so ist es, als antworteten ihm die Berggeister, und er wähnt sich nicht mehr so allein. Auch lockt er damit seine Kühe herbei, begrüßt einen befreundeten Sennen, der etwa die Weide hinansteigt, oder wohl auch sein Liebchen auf der nahen Alp. Sein Jauchzer dient ihm solchermaßen als Fernsprache.

Noch schöner aber als der einfache Jodel ist der Kuhreihen.

Der setzt sich zusammen aus Worten, langen Trillern und bald hüpfenden, bald gedehnten Tönen und bildet also eine Art Jauchzergesang . Er wird den verschiedenen Berggegenden auch verschieden gesungen. Am meisten bekannt ist der Kuhreihen der welschen Freiburger, genannt der Sang des Vaches, mit seinem schwermütigen Lockruf: Lioba, Lioba!

Bor Zeiten, als man auf den Schweizer Alpen noch nichts wußte vom Kuhreihen, hütete ein junger Hirte sein Vieh auf der Balisalp im Haslital.

An einem schönen Abend, nachdem der Senn seine Kühe gemolken und sie wieder auf die Weide getrieben, blieb er länger als sonst vor seiner Hütte stehen und sah dem Untergang der Sonne zu.

Noch stand der glühende Ball über dem Abendberg, Tal



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grund aber fing es leise zu dämmern an. Ueber die spiegelblanken Flächen der Seen, über die Ufer und Wohnstätten der Menschen legten sich die stahlblauen Schleier der nahenden Nacht, und in scharf begrenzter Linie stiegen ihre Schatten die Hänge hinan. Sie bedeckten langsam die Tannen- und Arvenwälder, sie krochen gierig über die grünen Weiden, sie spannen sich um der Felsen braune Wände. Im Halbdunkel lagen jetzt die Täler und Vorberge, der Himmel war erloschen. Als ob nun aber der scheidende Tag der Welt noch einen letzten Gruß entbieten wolle, röteten sich mählich die eisgepanzerten Riesen des Hochgebirges und schauten, den Feuerschein auf der Brust, noch ein Weilchen nieder auf die im Dunkel entschwindende Erde. Doch höher und höher stieg die Nacht und löschte endlich auch die letzten Gluten auf den Zinnen und Spitzen. Und blaß wie Geistergestalten starrten Setzt die Berge hinaus in die Finsternis, derweil am Himmel droben die goldnen Sterne zu funkeln begannen.

Der Nes, also hieß der junge Senn, trat in die Hütte, verrammelte Tor und Tür und stieg hinauf in die Gastern ), wo er sich auf das welche Bergheu legte. Tiefe Stille herrschte, kein Lüftchen regte sich. Nur von fern her erklangen die Glocken der Herde und wiegten den Sennen in Schlummer.

Mitten in der Nacht wachte er auf. Was war das ? Hatte da nicht jemand die Tür aufgeschlagen, die er doch so fest verriegelt ? Auch hörte er jetzt deutlich, wie auf dem Herde das Feuer zu knistern anhub.

Der Senne richtete sich auf und blickte in die Hütte hinab. Da sah er zu seinem Erstaunen drei fremde Gesellen, die sich zum Käsen anschickten. Der eine von ihnen, ein Niese von Gestalt und gekleidet wie ein Küher, richtete unter lautem Knarren des Drehbaumes den Kessel über den prasselnden Flammen. Der zweite glich einem Jäger, trug ein grünes Hütlein und ein Wams von gleicher Farbe, und eine Weidtasche hing an seiner Seite. Der hockte am Herde, schürte das



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Feuer und starrte finster in die Glut. Der dritte aber, ein Jüngling mit goldhellem Haar und blassem Gesicht, trug eben eine Gepfe ) voll blanker Milch herbei und leerte sie in den Kessel.

Setzt gab der riesenhafte Senn dem Jäger ein Zeichen. Da zog dieser aus seiner Jagdtasche ein Fläschchen hervor und goß blutrotes Lab ) in die Milch, sie zu scheiden, worauf er sich wieder ans Feuer setzte. Der Senne seinerseits ergriff den Brecher ) und hub an, in der Milch zu rühren. Der Jüngling aber mit dem goldfarbenen Schopf schritt jetzt gegen die Tür, die von selber aufging, und trat vor die Hütte.

Jetzt vernahm der junge Senn Töne, wie er sie bisher nie vernommen . Das klang anfangs wie ein fchmetternder Jubel, der über alle Berge hinscholl, also daß ihm das Herz im Leibe lachte. Dann aber ging das Jauchzen über in ein wundersam Lied. Das klang gedehnt und wehmütig, und seine Töne schienen in den fernen Schluchten zu ersterben. Nun hörte er deutlich, wie seine Herde, von den zauberhaften Klängen angezogen, sich der Sennhütte näherte, merkte auch bald, wie das Klingeln der Schellen und das Geläute der Kuhglocken lieblich mit dem schönen Liede zusammenschmolz, als ob daz alles von seher so zusammengehört hätte, und vermeinte gar, seine Kühe zu sehen, wie sie in stillen Reihen um den bleichen Sänger herumschritten.

Da kam dieser in die Hütte zurück und ergriff ein langes, mit Weiden und Wurzeln umwundenes Horn, das in einer Ecke lehnte und Nes bisher nicht bemerkt hatte. Damit trat er wieder vor die Hütte und ließ die nämliche Weise in die sternhelle Bergnacht hinausklingen , nur langsamer als zuvor. Da schien ringsherum alles lebendig zu werden. Von den Felswänden kehrten die Töne mächtig zurück, aus den Wäldern hallten sie leiser nach und verloren sich am Ende wie ein Geflüster in den Lüften droben.



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Inzwischen war der riesenhafte Senn am Herde mit seiner Arbeit fertig geworden und schöpfte nun die Schotte *) in drei bereitstehende Gepsen. Doch wie merkwürdig: in der einen Gepse erschien die Milch rot wie Blut, in der zweiten grün und in der dritten weiß wie frischgefallner Schnee.

Dem Nes auf der Gastern droben blieb indessen keine Zeit, sich darüber zu wundern, denn der riesenhafte Küher rief plötzlich mit dröhnender Stimme zu ihm hinauf:

"Steig Setzt herunter, Menschenkind, und wähle dir eine Gabe!

Bei diesen Worten lief es dem jungen Hirten eiskalt den Rücken hinab, er zitterte an allen Gliedern. In diesem Augenblicke trat aber der blasse Jüngling mit seinem Horne wieder in die Hütte und nickte ihm freundlich zu. Da faßte er sich denn ein Herz, stieg das Leiterchen hinab und trat zu den Gepsen. Jetzt sprach der gewaltige Senn also:

"Siehe, hier sind drei Gepsen. Aus einer von ihnen mußt du trinken. Du hast die Wahl. Doch überleg es du wohl und wähle gut, leicht könnt es dir sonst übel ergehen. Die rote Gepse ist meine Gabe. Trinkst du aus ihr, so wirst du stark wie ein Niese und also mutig, daß dir kein Mensch auf Erden widerstehen kann. Dazu geb ich dir noch hundert schöne rote Kühe, die morgen früh auf deiner Alp grasen sollen. Greif zu!

Setzt erhob sich der Jäger und sprach also:

"Mein Sohn, laß dich uschi betören durch die Worte des großen Sennen. Was hilft dir auch die Riesenkraft, die er dir versprochen ? Bist du nicht schon stark genug, deine Händel selber zu schlichten ? Und erst die Kühe! Können sie nicht in kurzem dahinsterben oder in den Felsen erfallen ? Glaube mir, das ist vergängliches Gut. Ich aber biete dir, wenn du aus meiner Gepse trinkst, der grünen, ein bleibend Gut an: Ich biete dir Gold und Silber in Fülle. Damit magst du dir kaufen, was dein Herz begehrt, Haus und Hof und



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Matten und Kühe, wirst angesehen sein bei allen Menschen, kurz, hast den Schlüssel in Händen, der dir die Welt öffnen wird. Greif zu!

Und er leerte vor des Hirten Füße einen Sack voll Silbertaler und roter Goldstücke.

Beim Anblick des gleißenden Haufens gingen dem Nes die Augen über. Die gewaltige Kraft nebst den hundert Kühen, die ihm der riesenhafte Senn versprochen und die er sich beide noch einen Augenblick zuvor fürs Leben gern gewünscht, waren vergessen, und ihm schien, als müsse er mit beiden Händen hineingreifen in die funkelnde Pracht. Da aber fuhr ihm durch den Sinn, daß der dritte noch nicht gesprochen, und also wandte er sich nach diesem um.

Der stand, auf sein Alphorn gestützt, schweigend hinter den andern und blickte zu Boden. Jetzt aber hob er sein schönes Gesicht und richtete zwei lichtblaue Augen auf den jungen Hirten. Dann trat er zur weißen Gepse und sprach in weichem Tone:

"Was dir die beiden andern geboten, vermag nicht zu verleihen. Uebermenschliche Kräfte und goldne Schätze stehen nicht in meiner Gewalt. Meine Gabe befriedigt keine der menschlichen Begierden, und nur ein einfach schlichtes Herz erkennt ihren Wert. Sie ist auch nicht geboren aus der Sucht nach Größe und Reichtum, sie ist vielmehr ein reines Kind der Berge. Die Berge und Felswände sind ihre Wiege, die brausenden Winde ihre Brüder, die rauschenden Quellen ihre Schwestern. Denn siehe, es sind nur Klänge, die ich dir zu schenken habe, nebst diesem Alphorn. Nimmst du sie aber an, so wirst du schon am kommenden Morgen jodeln und dies Alphorn blasen können, also schön, wie du's eben von mir gehört hast. Das wird dich glücklich stimmen, wird dich aufrichten in bösen Tagen, und die Menschen von nah und fern werden dir dankbar sein, dem Gesange lauschen zu dürfen. Trink also aus der weißen Gepse, und die Gabe des Gesanges wird auch dir zuteil werden."

Unschlüssig stand der junge Aelpler da, und die Mächte des Himmels und der Erde kämpften in seiner Brust. Bald blickte er hin auf den gewaltigen Sennen, der ihm seine Kräfte verleihen wollte, bald



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wieder auf den weiß und rot schimmernden Haufen am Boden, der ihn mit einem Schlag zum reichen Manne machte, dann schaute er wieder den blassen Sänger an. Was sollte er wählen ?

Da ging es wie ein Ruck durch seinen Leib. Er warf den Kopf in den Nacken und wandte sich gegen den blondlockigen Jüngling, der träumerisch vor sich niedersah.

"Ist es denn wahr, was du sagst?" fragte er mit bebender Stimme. "Ich werde also singen und blasen können wie du und auch andre Menschen damit erfreuen ?"

"Es ist wahr antwortete der Jüngling leise.

"So will ich die Riesenkraft und die goldnen Schätze nicht", rief setzt der Sohn der Berge mit blitzenden Augen. "Ich wähle dein Lied und dein Alphorn und trinke aus der weißen Gepfe!

Mit diesen Worten beugte er sich nieder, hob die Gepse an seinen Mund und trank. Es war nichts als frische Milch, die mit einem garten Rahmschaum bedeckt war.

"Du hast gut gewählt", sprach der Jüngling. "Denn wisse: viel hundert Jahre wären vergangen, bis ich mein Geschenk den Menschen wieder hätte anbieten dürfen. Nimm also das Alphorn, und morgen wirst du singen und blasen können wie ich. Und wenngleich du die Gaben meiner Begleiter verschmäht hast, so tröste dich: Kraft und Reichtum wohnen auch im Lied und in den Tönen.

Als sich der junge Senn einen Augenblick später umsah, da waren die drei Gestalten verschwunden. Mählich erlosch auch das Feuer auf dem Herde, und Nes stieg, fast ohne zu wissen was er tat, in die Gastern und legte sich schlafen.

Am frühen Morgen wachte er auf. Hatte er geträumt ? Es war nicht möglich, denn neben ihm lag das Alphorn, und noch setzt klangen in seinen Ohren die Weisen nach, die er in der Nacht vernommen.

Er trat vor die Hütte. Am fernen Ostrand stieg die Sonne lodernd empor, übergoß die Gipfel der Hochwelt mit ihrem Flammenhauch , warf ihren goldnen Glanz über die braunen Flühe der Vor



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berge, zerriß den Dunst und Nebel in den Tälern und fegte die Seen blank.

Da hub der Jungsenn zu jauchzen an. Und siehe, seiner Brust entquollen die gleichen wundersamen Töne, die ihn in der Nacht zuvor also bezaubert hatten. Er blies in sein Horn. Die gedehnten Klänge hallten hinaus in die klare Luft, brachen sich an den fernen Felswänden und kehrten freudig zu ihm zurück. Jeist sammelten sich auch die Kühe um ihren Hirten und schritten bimmelnd und bammelnd um ihn herum. Wundersam mischte sich ihr Glockengeläute mit Lied und Alphornklang, und an jenem Morgen hörten die Menschen von nah und fern zum erstenmal den Kuhreihen.

Der eigenartige Alpengesang hat sich von jener Sett an fortgepflanzt von Geschlecht zu Geschlecht und erhalten bis auf den heutigen Tag.


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