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Kapitel 

Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Der Vollenküher


1.

Auf der Bättenalp, einer großen Weide zwischen Faulhorn und Brienzersee, zieht sich auf der östlichen Sette eine sähe Felswand trichterförmig gegen die Tiefe. Sie heißt die Volle.

Vor langen Jahren weidete auf dieser Alp ein Vater mit seinem Sohn eine Herde Kühe.

Der Vater war ein leidenschaftlicher Trinker und Kartenspieler und ging manchen Abend, auch tagsüber, wenn Zeit und Arbeit es erlaubten, hin auf die nahe Fangisalp, dort mit andern Sennen seiner Sucht zu frönen. Dem Sohne war diese Schwäche wohlbekannt, und als guter Zunge, der seinem Vater von Herzen zugetan, und auch der Mutter zu Hause zuliebe, gab er sich alle Mühe, dem Uebel zu steuern und ihn zu bewegen, seine Besuche auf der Nachbarsalp einzuschränken . Indessen mußte er schon in seinen jungen Zahren erfahren, wie schwer es dem Menschen fällt, einer Leidenschaft zu widerstehen, der er mit Leib und Seele ergeben ist. Denn, wenn ihm der Vater auch zuweilen in die Hand versprach, es zu lassen, so hub er dennoch nach kurzem wieder zu trinken an.

Eines Tages nun, um die Mittagsstunde, machte sich der Vater bereit, auf die Fangisalp hinüberzugehen, um dort, wie er vorgab, für eine kranke Kuh etwas zu holen.

Jetzt fing der Bub auch gleich wieder zu jammern an.

"Geh nicht, Vater", flehte er, geh nicht, ich bitte dich. Mit der Kuh steht es ja gar nicht schlimm, und wenn's nötig ist, mag ich ja am Abend selber hinübergehen. Mir ist gerade heute so bang ums Herz, es werde etwas geschehen, wenn du nicht da bist.

"Etwas geschehen?" machte der Vater unwillig. wüßte auch nicht was. Vom Wetter haben wir nichts zu befürchten, und auch sonst ist alles in Ordnung. Uebrigens werd ich in zwei oder drei Stunden wieder zurück sein.



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"Das sagst du immer", greinte der Bub. Und doch weiss ich bestimmt, daß du erst spät in der Nacht heimkommen wirst. Dann muß ich alle Arbeit wieder allein tun.

Er drängte sich an den Vater heran, ergriff seine Hand und schluchzte:

Geh nicht, Vater, geh nicht. weiß es genau, es gibt ein Unglück. Mir hat letzte Nacht so schrecklich geträumt . . von der Volle, Vater . . von der Volle . . .

Der Vater aber ließ sich nicht bewegen. Unwiderstehlich zog es ihn hinüber nach der Fangisalp zu Trunk und Spiel. Er riß sich loszog seinen Kittel an und schritt den Fußweg hinab, den Knaben in Tränen zurücklassend.

Um jene Seit war das Wetter noch klar, und friedlich weideten die Kühe auf den Triften. Der Bub aber ward feiner Angst nicht los. Gleich einem Schäferhund lief er ruhelos um die Tiere, zählte sie immer wieder, ob alle noch richtig beieinander, lockte, wehrte, daß keins zu weitab geriet, und schaute jeden Augenblick nach dem Himmel, ob nicht etwa von dort her eine Gefahr zu befürchten wäre.

Da stiegen um die Mitte des Nachmittags ein paar Wolken auf, die sich zusehends mehrten und bald den ganzen Himmel bedeckten. Die Sonne verschwand, und still und düster lag eine Weile die Alp. Ueber den Firsten und Gräten ballten sich die weißen Massen zusammen, wurden dunkler und flammten ab und zu auf, daß die Schneefelder unter ihnen sekundenlang wie von glühender Lava übergossen schienen. Nicht lange, hub es dumpf zu rollen an, heiße Windstöße fegten daher, die Bergbäche rauschten.

Setzt wurden auch die Tiere unruhig. Sie drängten sich näher zusammen, hoben du Köpfe und horchten, ab und zu dumpf brüllend, auf das ferne Rollen des Donners. steigender Angst lief der junge Hirte hin und her, betreute einen Augenblick die Herde, und rannte im nächsten auf eine kleine Anhöhe, zu sehen, ob der Vater nicht bald heimkäme. Er glaubte auch, auf dem nach der Fangisalp



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führenden Pfad einen schwarzen Punkt zu erkennen, der sich rasch nähere, und ihm war schon leichter ums Herz. Da brach das Hochgewitter mit furchtbarer Gewalt herein.

Erst fallen ein paar schwere Tropfen. Dann fährt aus schwarzer Wolke ein lodernder Strahl in den nahen Felfen ein Schlag schmettert nach, als ob er die Erde spalten wolle, und in vierfachem Widerhall donnern ihn die Wände zurück. Und nun folgen sich Blitz auf Blitz und Knall auf Knall. Wie in einer Schmiede flammt der Himmel von Feuerfunken, es rollt und grollt, es dröhnt und kracht, der Boden wankt, du Berge beben, und in hellen Strichen rauscht Setzt der Hagel auf die Weide nieder.

Hochauf brüllen die getroffnen Tiere. Den Kopf wild umherwerfend, den Schwanz in den Lüften, stieben sie auseinander und rennen mit geschlossnen Augen gradaus — ein loser Spielball des Hagels und der Winde. Und hinter ihnen her der Bub. Der arme Junge weiß sich nicht zu helfen. Bald faßt er ein Tier bei den Hörnern, bald wieder eins beim Schwanz, er reißt und zerrt und wehrt, er schreit und jammert, derweil die scharfen Hagelschlossen auf seinen Kopf, auf die nackten Arme und Veine niederprasseln und ihn fast zu Boden werfen. Doch umsonst ist all sein Mühn. Das toll gewordene Vieh sieht und hört nichts mehr und ist jedem Unfall preisgegeben.

Wenn jetzt nur der Vater käme, ihm zu helfen! Dann würde es ihnen vielleicht doch noch gelingen, ein Unglück abzuwenden.

Die Wolken flammen, die Wände gellen, breiten Strähnen rauscht der Hagel nieder. Da gewahrt der Bub auf einmal, daß die Herde unvermerkt der Volle zutreibt, und in jäher Schnelle fährt ihm der Traum durch den Kopf. Von Todesangst ergriffen, eilt er in fliegender Hast über Hagelkörner und brausende Wasser hinweg gegen den Nand des Felsentrichters, taumelt ein paarmal zu Boden, springt aber gleich wieder auf die Füße, erhascht im Bett eines Baches einen Sparren, und schlägt nun, bei der gefährlichen Stelle angelangt, wie von Sinnen auf die wild heranstürmenden Tiere los. Diese aber, vom



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Sturm fluchtartig in diese Richtung gedrängt, lassen sich nicht mehr aufhalten, und erst hier eins, dann dort eins stürzen sie blindlings über die schwindelnde Wand in die Tiefe hinab.

Wie gelähmt vor Entsetzen sieht der junge Hirt ein Tier ums andre verschwinden. Dann aber rafft er sich noch einmal auf und hängt sich einer der letzten Kühe an den Schwanz, sie zu retten. Aber auch diese läßt sich nicht mehr halten, und ehe sich's der Bub versieht, gleitet er mitsamt dem Tier über die Wand hinaus und stirbt den grausen Tod der Herde . . .

Als das Unwetter vorüber, traf der Vater auf der Bättenalp ein. Doch schaute er sich vergeblich nach Bub und Herde um. Schlimmes ahnend, suchte der Mann die Weide ab und folgte der Tiere Spuren, die sich noch deutlich in Kot und Hagelsteinen abzeichneten und ihn an den Nand der Volle führten. Jetzt wußte er, was geschehen, kletterte den Trichter hinab und fand unter den noch zuckenden Leibern der Kühe den zerschmetterten Leichnam des Buben. Da begrub der Vater seinen Sohn an Ort und Stelle und stieg dann über den Berg hinab zum nahen Hagelseeli.

Man hat ihn nie wieder gesehn.



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2.

An einem rauhen Tage im Spätherbst, lange Jahre nach diesem Ereignis, ging ein Sager von Iseltwald in die Berge, zu sagen. An diesem Tag war ihm das Glück nicht günstig. So suchte er denn am Abend eine Sennhütte auf, hier die Nacht zu verbringen, um am folgenden Morgen die Jagd fortzusetzen.

Die Hütte lag auf der Bättenalp. Im Scheine des Herdfeuers ass der Mann sein Abendbrot und rauchte sein Pfeifchen. Dann stieg er die Leiter hinauf in die Gastern, legte sich aufs Heu und schlief bald ein.

Mitten in der Nacht wachte der Jäger auf. Wie seltsam! Die Sennen hatten ihr Vieh schon längst zu Tale getrieben, und doch hörte er fest fernes Glockengeläute, das sich von der Fangisalp her der Hütte zu nähern schien.

Nach einer Weile öffnete sich unten die Tür, und zwei Hirten trieben die Kühe in den Stall. Aus dem Gespräche, das die beiden miteinander führten, merkte er bald, daß es Vater und Sohn waren. Sie machten Feuer auf dem Herde, molken die Kühe und begannen käsen. Damit zu Ende gekommen, setzten sie sich an den Tisch und aßen.

Da sprach der Sohn:

"Vater, wir sollten dem Sager in der Gastern droben auch etwas zu essen anbieten.

"So sage ihm, er solle kommen", erwiderte dieser.

Der Sohn stieg die Leiter hinauf.

"Jäger", sprach er, du bist freilich müde und bedarfst der Ruhe. Doch ein Bissen Brot und ein Trunk frischer Milch werden dir nicht schaden. Komm!

Dem Jäger ward unheimlich zumute. Doch folgte er dem jungen Sennen in die Hütte hinunter, setzte sich hinten auf eine Bank, und der Sohn reichte ihm eine hölzerne Schüssel mit Milch, einen Löffel und einen halben Laib Brot.



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Wie jener aber den Napf an seine Lippen setzen wollte, ergriff der Vater plötzlich einen Schnitzer und schleuderte ihn gegen du Bank.

"Da", rief er. "Mußt auch ein Messer haben, dein Brot zu essen.

Das Messer fuhr dicht neben des Weidmanns linker Seite in du Wand. Dem erschrockenen Mann aber ward zumute, als hätte es ihn selber getroffen, einen solchen Schmerz verspürte er plötzlich in seiner Brust. Ohne auch nur einen Schluck getrunken zu haben, stellte er den Napf auf die Bank und stieg stöhnend zu seinem Lager hinauf.

Nach einer Weile hörte der Mann, wie die beiden Sennen das mitgebrachte Geschirr zusammenraffien, das Vieh aus dem Stalle trieben und den gleichen Weg zurückgingen, den sie gekommen. Das Kuhgeläute ward mählich schwächer und verklang endlich in der Ferne.

Der Sager aber vermochte vor Schmerzen nicht mehr einzuschlafen.



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Also verließ er die Hütte schon am frühen Morgen und ging, statt auf die Jagd, gleich nach Hause.

Hier wandte der Mann allerlei Mittel an, feines Uebels loszuwerden . Vergeblich. Seine Kräfte nahmen mehr und mehr ab, er wurde schwermütig und fühlte sich dem Tode nahe. Trotzdem vertraute der Kranke niemand an, was ihm in jener Nacht auf der Bättenalp begegnet war.

Da besuchte ihn eines Tages ein alter Jagdfreund, und diesem erzählte er nach einigem Zögern sein Erlebnis.

"Die beiden Sennen, die dir in jener Nacht erschienen", also sprach hierauf der Freund nachdenklich, "waren niemand anders als der Vollenküher und sein Sohn. Ich weiß es genau, hab es vor Jahren in der gleichen Hütte selber erlebt. Du hast aber dabei einen Fehler begangen, sonst wärst, wie ich damals, mit heiler Haut davongekommen Statt nämlich die Milch anzunehmen, hättest du gleich aufstehn und davongehen sollen. Und das mit dem Messer ist nichts andres als Angst und Schrecken, die dir heute noch in den Gliedern liegen und dich krank machen. Jetzt höre meinen Rat. Sobald du wieder kräftiger geworden, dann nimm Gewehr und Weidtasche, begib dich auf die Alp und verbringe den Abend in genau derselben Weise wie das erste Mal. Die beiden Hirten werden wieder erscheinen; auch wird dir der Sohn eine Schüssel Milch mit Brot anbieten. Diesmal aber nimm sie nicht an, stehe auf, sag ein (Vergelt's Gott!», greife nach Gewehr und Weidtasche und verlaß die Hütte. Von der Stund an werden die Schmerzen wie weggewischt sein.

Der Jäger befolgte den Rat und ward gesund. Auf die Jagd aber ging er nicht mehr.


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