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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


31. Nuja, die Tochter der Teriel

Ein Mann hatte einen einzigen Sohn, den liebte er ganz außerordentlich. Deshalb sagte er, als der Knabe geboren war: "Diesem Knaben soll nichts Gefährliches widerfahren. Der Knabe soll von allem, was ihm Übles bringen oder antun könnte, ferngehalten werden. Ich werde den Knaben in einem Zimmer eingeschlossen halten, so daß nichts von Widrigkeiten des Lebens zu ihm dringen kann." Der Vater tat so. Er hielt den Knaben eingeschlossen und abgesperrt in einer Kammer. Um die Neugierde des heranwachsenden Knaben nicht zu erwecken, sprach er nie mit ihm von der Natur, dem Dorf, den Menschen. Er besuchte den Knaben alle Tage und freute sich an ihm. So wuchs der Knabe heran und wurde größer und größer. Es wurde ein schöner und starker Bursche.

Die Leute des Dorfes, in dem der Vater seinen Sohn eingeschlossen hielt, wußten von dem Knaben sehr wenig. Sie wußten nur, daß dem Vater seinerzeit ein Kind geboren worden war und daß er es ängstlich eingeschlossen hielt. Ob dieses Kind aber ein Knabe oder ein



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Mädchen war, das blieb ihnen unbekannt. Denn der Vater sprach, aus Furcht, die Neugierde der Leute zu reizen, mit ihnen niemals über sein Kind. Je weniger die Leute nun aber von dem Kinde hörten, desto neugieriger wurden sie. Sie begannen nach einiger Zeit, sich damit abzuwechseln, den Vater zu beobachten, wie er an die Kammer ging, in der das Kind eingeschlossen war. Sie versteckten sich zu diesem Zweck auf den Dächern der Häuser. Die Leute des Dorfes schlichen nachts zu dem Gehöft und horchten auf alle Geräusche. Auf dem Männerplatze fragten die Alten den Vater dann und wann nach dem Befinden des Kindes. Sobald sie das aber taten, verließ der Vater die Leute, ohne erst ihre Fragen beantwortet zu haben. Der Knabe wurde ein großer, starker und schöner Bursche, ohne daß die Leute im Dorfe mehr von ihm wußten, als daß dem Vater vor langen Jahren einmal ein Kind geboren war, daß er seitdem so sorgfältig versteckt hielt, daß die Leute nicht einmal wußten, ob es ein Knabe oder ein Mädchen sei.

Eines Tages nun wollte der Vater auf mehrere Tage verreisen, ging deshalb in die Kammer, in der sein Sohn lebte und sprach zu ihm: "Mein Sohn, ich will einmal über Land wandern und werde dich infolgedessen zum ersten Male, seitdem du geboren bist, während mehrerer Tage nicht sehen. Gräme dich deswegen nicht und kümmere dich überhaupt nicht darum. Um dich zu unterhalten, denke nur an alle die Stunden, die ich hier bei dir verbracht habe, und du wirst keine Langeweile verspüren. Denke nicht an das Dorf und die Leute draußen und kümmere dich um all das nicht. Das Dorf und die Leute sind viel zu gleichgültig, um einen Gedanken zu verdienen. Wenn sie aber zu dir hineinzudringen versuchen, so verbiete ihnen den Eintritt, damit sie dir nichts Schlimmes tun, denn sie sind stark und gewalttätig, und ich würde vor Kummer sterben, wenn du mir unter den Leuten umkommen würdest." Dann nahm der Vater Abschied und wanderte von dannen.

Als der Vater gegangen war, streckte der Bursche sich auf seinem Lager aus und sagte bei sich: "Mein Vater sagt mir, daß die Leute im Dorf stark und gewalttätig sind. Ich habe nie einen von diesen Leuten gesehen. Ich kenne nur meinen Vater. Meinem Vater haben sie, seitdem ich mich erinnern kann, nie etwas getan. Mein Vater ist immer gleich, und er ist niemals verwundet, zerschlagen oder mißhandelt zu mir gekommen. Meinen Vater haben diese starken Leute also niemals mißhandelt. Mein Vater ist aber nicht im entferntesten so groß und stark wie ich. Wenn mein Vater nun stark



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genug ist, um sich der Leute erwehren zu können, so bin ich es doch also sicherlich auch. Ach, wenn ich doch einmal versuchen dürfte, wer stärker ist, die gewalttätigen Leute oder ich!"

Als der Vater abgereist war, traten die Leute untereinander zusammen und sagten einer zum andern: "Jetzt ist der Vater für mehrere Tage über das Land weggegangen. Jetzt wäre der Augenblick gegeben, um sich einmal zu überzeugen, was eigentlich an diesem Kinde daran ist. Jetzt könnte man in Erfahrung bringen, ob es ein Mädchen oder ein Bursche ist." Die Leute sagten: "Diese Gelegenheit wird sobald nicht wiederkommen; wir müssen sie deswegen ergreifen." Die Leute gingen zu einer alten Frau und sagten zu ihr: "Liebe Alte, wir haben dich gebeten, zu uns zu kommen, weil wir eine Sache unternommen haben möchten, die wir in deine Hände geben, weil du die Einzige bist, die klug und erfahren genug ist, sie durchzuführen. Du weißt, daß der Mann, der heute auf Reisen gegangen ist, vor langen Jahren Vater eines Kindes wurde, das er immer eingeschlossen hielt, so daß wir es bis heute noch nicht zu Gesicht bekommen haben. Jetzt ist der Vater für längere Zeit verreist, und wir würden dir ein reiches Geschenk geben, wenn du es erreichtest, daß das Kind in diesen Tagen, in denen der Vater abwesend ist, einmal die Kammer, in der es eingeschlossen ist, verläßt und unter uns tritt, so daß wir sehen, ob es ein Mädchen oder ein Bursche ist." Die Alte sagte: "Schwört mir, daß ihr mir ein gutes Geschenk machen wollt, dann will ich es tun." Die Leute sagten: "Wir schwören es."

Die Alte ging in das Gehöft des Mannes, der abgereist war und direkt in die Kammer, in der der Vater den Burschen eingeschlossen hielt. Die Alte klopfte. Der Bursche sagte: "Wer ist dort?" Die Alte sagte: "Es ist nur eine alte Frau, die eine eilige Bestellung hat und diese, da dein Vater verreist ist, an dich weitergeben möchte, so daß damit die Sache erledigt ist." Der Bursche sagte: "So komm herein!" Die Alte trat in die Kammer. Sie schloß die Tür hinter sich und sah sogleich, daß das Kind des abwesenden Mannes ein starker, schöner Bursche war.

Die Alte sagte: "Es ist schwer, dir zu sagen, was ich zu bestellen habe, denn ich weiß nicht, was du von der Sache weißt, da du wohl immer hier eingeschlossen warst?" Der Bursche sagte: "Das ist richtig, ich war immer eingeschlossen. Sage mir doch aber, was es ist. Ist es eine Sache, die für mich zu stark und gewalttätig ist, so daß ich sie nicht aufnehmen kann? Sage mir doch überhaupt, ob



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die Leute so stark und gewalttätig sind, daß ich nicht mit ihnen fertig werde? Bin ich wirklich schwächer als andere Leute?" Die Alte betrachtete den Burschen und sah wieder, daß er stark und schön war. Die Alte lachte.

Die Alte sagte: "Du bist der stärkste und schönste Bursche im ganzen Dorfe. Und ich komme ja gerade, weil ich hörte, daß du stärker bist als andere. Draußen ist nämlich das Pferd deines Vaters, das keiner reiten kann. Dein Vater hat seinen Knecht mitgenommen. Nun wollte ich dich fragen, ob du es unternehmen willst, heute einmal das Pferd zu reiten. Die andern Burschen können es nicht. Du allein bist stark genug." Der Bursche sagte: "Laß das Pferd herbeiführen, ich will es sogleich versuchen."

Die Alte ging hinaus. Sie sagte zu den Leuten, die sie gesandt hatten, daß sie das versteckte Kind des abwesenden Mannes herausrufe: "Ihr Leute, geduldet euch einen Augenblick. Das versteckte Kind des abwesenden Vaters wird sogleich herauskommen. Haltet also das Geschenk, das ihr mir versprochen habt, bereit!" Als die Alte das gesagt hatte, liefen die versammelten Leute auseinander und riefen alle Freunde und Verwandte, die aus den Häusern und Gehöften noch nicht herausgekommen waren, zusammen. Nach einiger Zeit war die ganze Straße dicht mit Leuten gefüllt, und auf dem Platze vor dem Gehöft des abwesenden Mannes drängten sich die Leute in Scharen. Die Männer standen in Gruppen in der Mitte, die Frauen mehr an der Seite. Alle blickten auf das Tor des Gehöfts.

Der Bursche war aus der Kammer getreten. Er sah den Hof, er sah das Pferd. Er befühlte das Pferd und bestieg es. Er hieß die Hoftür öffnen. Er ritt durch die Hoftür auf den Platz. Er sah die Masse der Menschen. Er sah die Menge der dichtgedrängt stehenden Männer. Der Bursche sagte sich: "Mein Vater hat gesagt, daß die Leute gewalttätig sind. Diese Männer wollen mich sicherlich umbringen. Deshalb haben sie sich in dieser Menge versammelt. Sie sind aber alle nicht stärker als ich, und ich werde sie mit meinem Pferd niederreiten." Der Bursche stieß das Pferd in die Seiten, daß es aufstieg. Er stieß es wieder, daß es nach vorn sprang. Er zwang das Pferd, zwischen die Männer zu reiten. Er ritt die Männer nieder. Sein Pferd tötete die Männer mit den Hufen. Er schlug vom Pferde zwischen die Männer, daß sie blutend, verwundet oder betäubt zu Boden sanken! Die Männer drängten sich angstvoll zur Seite. Die Frauen kreischten und verkrochen sich in den Häusern. Der Bursche ritt über den Platz und dann den Weg hinab. Er sagte:



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"Die Leute sind sicherlich nicht stärker als ich." Der Bursche lenkte das Pferd zur Quelle, damit es saufen könne.

Die Leute im Dorfe schrien und kreischten. Sie trugen die Toten und Verwundeten fort. Sie jammerten und riefen laut: "Wo ist die Alte, die den gewalttätigen Burschen unter uns gebracht hat! Die Alte soll zur Rechenschaft gezogen werden. Die Alte ist daran schuld, daß so viele getötet und verwundet worden sind." Die Alte versteckte sich. Die Leute fanden sie aber und zogen sie aus ihrem Versteck heraus und bedrohten sie. Die Alte wehklagte und sagte: "Erst habt ihr geschworen, mir ein Geschenk geben zu wollen, wenn ich das versteckte Kind des abwesenden Mannes aus dem Hause unter euch bringe. Und jetzt, wo ich das, worum ihr mich batet, erfüllt habe, jetzt bedroht ihr mich. Wollt ihr derart euern Schwur halten?"

Die Leute sagten aber: "Wir wollen dir dein Geschenk nicht vorenthalten. Wir wollen es dir geben, ganz wie wir es geschworen haben. Wir geben es dir aber nicht eher, als bis du den Burschen, den du unter uns brachtest, auch wieder weggeschafft hast. Wir verlangen das von dir. Denn wenn du den Burschen herbeischaffen konntest, kannst du ihn auch wieder wegschaffen. Tue dies schnell, damit er nicht noch mehr Schaden anrichtet; denn sonst bringen wir dir jeden Schaden, der aus seiner Kraft und Gewalttätigkeit entsteht, bei Auszahlung des Geschenkes in Anrechnung. Bist du damit einverstanden oder nicht?" Die Alte sagte: "Ihr seid mir, einer alten Frau gegenüber, nicht gerecht; ich will aber sehen, was ich tun kann." Die Alte ging von dannen.

Die Alte ging dem Burschen nach und kam an die Quelle, wo er das Pferd saufen lassen wollte. Die Alte ging an ihm vorüber und hockte an der Quelle nieder. Sie nahm ihren Stock und rührte damit auf dem Boden der Quelle den Sand auf. Das Wasser wurde trübe. Das Pferd wollte trinken und senkte den Kopf. Das Wasser war aber so trübe, daß das Pferd den Kopf wieder hob und nicht trank. Der Bursche wurde wütend und sagte: "Alte, weshalb verunreinigst du das Wasser so, daß mein Pferd nicht davon trinken will. Mach, daß du fortkommst oder ich reite dich nieder!"

Die Alte sagte: "Ho! Ho! Ho! Sei nicht so stolz. Du hast die Nuja (oder Nuscha) noch nicht geheiratet!" Der Bursche sagte: "Wer ist die Nuja? Weshalb soll ich sie nicht heiraten können. Ich kann es gerade so gut wie ein anderer Mann. Schnell sage mir den Weg zu der Nuja." Die Alte sagte: "Die Nuja ist ein sehr schönes



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Mädchen. Sie ist aber die Tochter der Imaschada. Die Imaschada ist eine Teriel, die alle Menschen verschlingt, die in ihre Nähe kommen. Diese Teriel wohnt mit ihrer schönen Tochter in jenem* großen Walde, der ganz weit dort drüben liegt. Nur ein sehr kluger und starker Mann kann die Nuja zur Frau gewinnen. Der Mann aber, dem das gelingt, der hat ein Recht, stolz auf seine Klugheit und Kraft zu sein."

Der Bursche ließ sein Pferd saufen. Dann ritt er von dannen, dem großen Walde zu. Die Alte kehrte zurück in das Dorf und sagte zu den Leuten: "Ihr habt mir ein Geschenk zugeschworen, wenn ich das versteckte Kind des abwesenden Mannes unter euch bringe. Nachdem ich dies bewerkstelligt habe, verlangtet ihr, ich sollte das Kind des abwesenden Mannes auch wieder entfernen und verspracht mir, das Geschenk mir danach aushändigen zu wollen. Ich habe den Burschen zu der Teriel Imaschada geschickt. Die wird ihn verschlingen. Gebt mir das Geschenk, das ihr mir zugeschworen habt!"

Die Leute waren froh darüber, daß das versteckte Kind des abwesenden Mannes entfernt war. Sie gaben der Alten das Geschenk.

Der Bursche ritt einen Tag lang nach Westen. Am Abend kam er an ein Dorf. Er fragte, ob jemand ihm den Weg zur Nuja zeigen könne. Kein Mensch im Dorfe wußte, wer Nuja sei. Der Bursche blieb über Nacht in dem Dorfe, brach am andern Tage früh auf und ritt bis zum Abend immer nach Westen. Abends kam er in ein Dorf. Er fragte, ob jemand ihm den Weg zur Nuja zeigen könne. Aber auch in diesem Dorfe wußte niemand, wer Nuja sei. Und so ritt der Bursche sieben Tage lang, täglich vom Morgen bis zum Abend, und an jedem Abend stieg er in einem Dorfe ab und fragte nach Nuja. Die Leute des Dorfes, das er am siebenten Tage erreichte, wußten aber ebenfalls so wenig zu sagen, wer Nuja sei, wie die Leute im Rastort des ersten Tages.

Am achten Tage kam der Bursche in den großen Wald, und nachdem er lange darin geritten war, sah er in der Entfernung ein Haus. Er stieg vom Pferde, band das Pferd an und ging auf das Haus zu. Er klopfte. Die Tür ward geöffnet und ein sehr schönes Mädchen trat heraus. Der Bursche sagte: "Du bist sicherlich Nuja!" Das Mädchen sagte: "Was hat dich hierher geführt?" Der Bursche



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sagte: "Dein leuchtend schönes Antlitz hat mich hierher geführt." Nuja fragte: "Was willst du von mir?" Der Bursche sagte: "Ich will dich zur Frau gewinnen." Nuja sagte: "Weißt du denn nicht, daß ich die Tochter der Teriel Imaschada bin, die alles, was in die Nähe kommt, verschlingt?" Der Bursche sagte: "Was kümmert mich der Hunger deiner Mutter! Ich bin deines leuchtend schönen Antlitzes wegen hergekommen und will dich heiraten." Nuja sagte: "Wer bist du?" Der Bursche sagte: "Ich bin das Kind, das der Vater versteckt gehalten hat, bis es erwachsen war, und das erst vor sieben Tagen den Himmel gesehen hat." Nuja sagte: "Dann komm herein. Ich will dich zuerst vor meiner Mutter verstecken; meine Mutter kommt vom Acker, wenn die Sonne untergeht." Nuja versteckte den Burschen in der Baerka.

Als es Abend war, kam die Teriel vom Felde heim und betrat das Gehöft. In dem Augenblick begann der Hahn zu schreien und sang (!): "Nuja hat einen Mann in der Baerka versteckt. Nuja hat einen Mann in der Baerka versteckt! Nuja hat einen Mann in der Baerka versteckt!" Die alte Teriel hörte nicht recht, denn sie war etwas taub. Die alte Teriel rief infolgedessen ihre Tochter und sagte: "Nuja, der Hahn singt heute ohne Aufhören. Ich kann ihn aber nicht verstehen. Was singt er eigentlich ?" Nuja sagte: "Der Hahn singt: ,Morgen will ich getötet werden. Die Mutter soll meinen Kopf und meinen Schwanz essen, und die Tochter soll das andre essen!'" Die Teriel sagte: "Ai! Ai! Ai! also so singt der Hahn. Nun dann töte ihn nur morgen früh, koche ihn und gib mir den Kopf und den Schwanz und iß du selbst das andere!" Nuja sagte: "Ich werde es tun."

Am andern Tage schlachtete Nuja ganz früh den Hahn. Darauf ging die alte Teriel auf den Acker. Sobald sie aber fort war, kam der Bursche aus der Baerka heraus und unterhielt sich mit Nuja. Nuja bereitete den Hahn, legte Kopf und Schwanz beiseite und aß mit dem Burschen. Sie gab dem Burschen die besten Stücke. Als der Abend hereinbrach, stieg der Bursche wieder in die Baerka.

Die alte Teriel kam mit einbrechender Nacht nach Hause. Nuja setzte ihr das Essen vor und hatte dabei den Schwanz und den Kopf auf den Brei gelegt. Die Alte aß. Während sie aß, begann der Widder zu schreien und sang: "Nuja hat einen Mann in der Baerka versteckt! Nuja hat einen Mann in der Baerka versteckt! Nuja hat einen Mann in der Baerka versteckt!" Die alte Teriel hörte den Widder singen und rief: "Nuja, meine Tochter, komme doch einmal



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her und sage mir, was der Widder heute eigentlich in einem fort singt. Ich höre heute etwas schwer." Nuja sagte: "Der Widder singt: ,Morgen will ich geschlachtet werden. Die Mutter soll meinen Kopf und meinen Schwanz essen, und die Tochter soll das übrige bekommen!'" Die Teriel sagte: "Ai! Ai! Ai! Also so singt der Widder. Nun, dann schlachte ihn nur morgen früh. Koche ihn, gib mir Kopf und Schwanz und iß du selbst das andere!" Nuja sagte: "Ich werde es tun."

Am andern Morgen schlachtete Nuja vor Tag den Widder. Darauf ging die alte Teriel ganz früh zur Arbeit. Sobald sie weg war, stieg der Bursche aus der Baerka und unterhielt sich mit Nuja. Nuja bereitete den Widder, legte Kopf und Schwanz beiseite und aß mit dem Burschen. Sie gab, wie am Tage vorher, dem Burschen die besten Stücke. Der Bursche sagte: "Heute Nacht wollen wir uns auf den Rückweg in mein Dorf machen." Nuja sagte: "Es ist mir recht. Ich werde sehen, wann meine Mutter am festesten schläft." Als der Abend hereinbrach, stieg der Bursche wieder in die Baerka.

Die alte Teriel kehrte mit einbrechender Nacht nach Hause zurück. Nuja brachte ihr den Brei, auf den sie den Kopf und den Schwanz des Widders gelegt hatte. Die Mutter begann zu essen. Nuja saß neben ihr und fragte: "Wann in der Nacht schläfst du eigentlich am festesten, meine Mutter?" Die alte Teriel sagte: "Ich schlafe dann am festesten, wenn die Frösche, die ich tagsüber gegessen habe, in meinem Bauche zu quaken beginnen." — Kurze Zeit nachher streckten sich die alte Teriel und die Tochter jede auf ihrem Lager aus. Nuja schlief aber nicht. Sie wartete und horchte zu dem Lager der Mutter hinüber.

Als es Mitternacht war, hörte Nuja, daß die Frösche im Leibe ihrer Mutter zu quaken begannen. Erst quakten die Frösche nur leise, nachher wurden sie lauter. Da erhob sich Nuja, schlich zu der Baerka und weckte den Burschen. Sie sagte: "Komm schnell! Meine Mutter, die Teriel, schläft jetzt ganz fest." Nuja half dem Burschen zur Baerka hinaus, öffnete die Haustür und dann schlüpften beide hinaus.

Der Bursche lief mit Nuja von dannen, so schnell er konnte. Sie liefen, bis sie an einen Wald kamen. Der Wald war dicht. Sie kamen im Walde nur ganz langsam vorwärts. Nuja sagte: "Guter Wald aus Seide (=la'hrir, also wie im Arabischen) laß mich doch hindurch! Ich bitte dich!" Da wurde der Wald weich wie Seide.



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Nuja konnte mit dem Burschen bequem hindurch. Dann liefen sie wieder schnell von dannen, so weit und so schnell es nur möglich war.

Nachdem sie wieder ein gutes Stück gelaufen waren, kamen sie an einen breiten Fluß, der war geschwollen und so hoch mit Wasser gefüllt, daß der Bursche mit Nuja nicht hindurchkam. Da sagte Nuja zum Flusse: "Du guter Fluß von Honig und Milch, laß mich doch hindurch! Ich bitte dich!" Da sank die Schwellung des Flusses, und er wurde seicht und zeigte ein Bett. Nuja und der Bursche konnten, ohne den Fuß zu benetzen, hindurchgehen. Dann liefen sie wieder weiter.

Die Teriel erwachte inzwischen. Sie rief laut nach ihrer Tochter. Die Tochter antwortete nicht. Die Teriel rief abermals. Die Tochter antwortete wieder nicht. Die Teriel rief zum drittenmal, und als die Tochter abermals nicht antwortete, stand sie auf, ging zum Lager Nujas, um zu sehen, weshalb ihre Tochter nicht antwortete. Da sah sie, daß Nuja nicht auf ihrem Lager war. Sie sah, daß der Deckel der Baerka weggenommen war. Sie sah, daß die Haustüre offen stand. Sie erkannte, daß Nuja fortgelaufen war und rannte, so schnell sie konnte, hinter Nuja und dem Burschen her.

Die Teriel konnte sehr schnell laufen. Sie konnte schneller laufen als Nuja und der Bursche. Nach einiger Zeit kam sie aber an den Wald, und der Wald war so dicht, daß sie nur sehr langsam vorwärts kam. Da fluchte sie und sagte: "Du schmutziger Wald der Wildschweine! Schnell, laß mich hindurch!" Der Wald ergrimmte. Er wurde dichter und dichter. Die Teriel kam nur mit der größten Mühe und sehr langsam vorwärts. Als sie endlich wieder im Freien war, rannte sie so schnell wie möglich hinter Nuja und dem Burschen her.

Die Teriel lief sehr schnell. Sie lief viel schneller als Nuja und der Bursche laufen konnten. Sie kam ganz dicht an Nuja und den Burschen heran. Nuja und der Bursche waren gerade drüben auf das andere Ufer gekommen und eilten weiter, da langte die Teriel auf jener Seite des Flusses an. Der Fluß war wieder mit Wasser gefüllt, und die Teriel sah, daß sie nicht über den Fluß hinweg kam. Da fluchte sie und schrie: "Du schmutziger Kotfluß! Schnell, laß mich hindurch!" Darüber wurde der Fluß zornig und stieg und stieg und wurde so reißend, daß er große Bäume und Felsblöcke mit sich fortschwemmte.

Die Teriel sah, daß sie nicht über den Fluß hinwegkommen und



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daß Nuja ihr mit dem Burschen auf der andern Seite des Flusses entfliehen würde. Sie stieg auf einen Baum und schrie laut: "Nuja! Nuja! Nuja!" Nuja hielt an im Laufen und antwortete: "Hier sind wir!" Die alte Teriel hörte Nuja und fluchte: "Du und dein Mann ihr sollt schwarz wie Kochtöpfe werden!" Nuja antwortete und rief: "Meine Mutter, denke, daß du meine Mutter bist! Denke, daß ich meinen Gatten vor dir schützen muß. Sprich nicht so schlechte Worte zum Abschied. Sprich gute Worte mit deiner Tochter!" Die Teriel dachte daran, daß Nuja ihre Tochter sei. Die Teriel vergaß ihren Zorn und ihre Wut. Die Teriel rief: "Gut denn! Du hast recht, Nuja. Ich will dich also zur Sonne und deinen Mann zum Mond machen." Nuja rief: "Ich danke dir, meine Mutter!"

Nuja und der Bursche gingen weiter. Die alte Teriel saß noch auf dem Baume. Die alte Teriel rief nach einiger Zeit: "Nuja! Nuja! Nuja!" Nuja antwortete: "Hier sind wir, meine Mutter!" Die Teriel rief: "Noch eines muß ich dir sagen, meine Tochter! Wenn ihr auf dem Wege zwei Adler trefft, die sich streiten, so trennt sie nicht!" Nuja sagte: "Ich danke dir, meine Mutter!" Die Alte stieg vom Baume und ging nach Hause. Nuja und der Bursche gingen weiter, auf das Dorf des Burschen zu.



***
Nuja und der Bursche gingen immer weiter. Sie waren schon ganz dicht am Dorfe des Vaters des Burschen, da sahen sie eines Tages zwei Adler, die miteinander stritten. Der Bursche ging auf sie zu. Nuja wollte den Burschen durch Zurufe zurückhalten. Der Bursche hörte nicht. Der Bursche trennte die beiden Streitenden. Einer der beiden Adler packte darauf aber den Burschen und nahm ihn unter den Flügel.

Der Bursche wurde vom Adler weggetragen. Er rief Nuja aber noch zu: "Gehe auf jene Weide zu. Die Kühe dort sind die Kühe meines Vaters, die von einer Negerin gehütet werden. Gehe dorthin, schlage die Negerin tot, ziehe die Haut ab und selbst über. Abends wird dir die Herde heimkehrend den Weg in das Gehöft meines Vaters zeigen. Man wird dich für die Negerin halten, und du bist so gut untergebracht." Der Adler flog langsam mit dem Burschen von dannen.

Nuja ging dahin, wo der Bursche ihr die Weide der Rinder seines Vaters gezeigt hatte. Sie fand die Negerin, die die Herde hütete. Nuja trat auf die Negerin zu, erschlug sie und zog ihr die Haut ab. Die Haut zog Nuja über. Nuja sah nun aus wie die Negerin. Abends



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zog die Herde, ohne daß Nuja sie zu treiben brauchte, allein nach dem Dorfe und in das Gehöft, in dem sie zu Hause war. Nuja ging immer hinterher, und so kam sie, ohne es nötig zu haben, jemand zu fragen, richtig im Gehöft des Vaters ihres Gatten an. Im Gehöft beachtete niemand die Negerin. Sie legte sich in ihren Winkel, und kein Mensch kam in dem Gehöft auf den Gedanken, daß unter der schwarzen Haut jemand anders als die alteingesessene Negerin stecken könnte. — Nuja schlief sogleich ein.

Am andern Morgen trieb die schwarze Nuja die Rinderherde wieder auf die Weide, und am Abend kehrte sie mit der Rinderherde zurück. Am zweiten Abend hatte Nuja sich aber schon mehr ausgeruht, und sie blieb deswegen länger wach und hörte alle Geräusche des Gehöfts. So hörte sie denn, wie in der Kammer nebenan der Vater ihres Gatten, ehe er einschlief, weinte und laut klagte: "Wenn ich doch wüßte, ob mein Sohn gestorben ist oder ob er noch lebt! Mein Sohn hat mich verlassen und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Ich habe meinen Sohn beschützt und gehütet; ich habe ihn versteckt gehalten, um alle Gefahr von ihm fernzuhalten. Und nun ist er doch verschwunden, ohne daß ich weiß, was aus ihm geworden ist." Erst spät in der Nacht verstummte die Klage des Vaters.

Die schwarze Nuja trieb am andern Tage die Herde auf die Weide; sie blieb aber nicht mehr immer am gleichen Platze, sondern sie trieb sie bald hierhin, bald dorthin. Jeden Abend kam sie, wie am ersten Tage, von der gleichen Seite zur selben Stunde nach Hause; jede Nacht hörte sie die Klage des Vaters; jeden Morgen brach sie zur gleichen Zeit mit der Herde auf. Tagsüber war sie bald hier, bald dort und achtete dabei auf die Flügel der Adler, die vom hohen Berge herabkamen. Sie lernte so die einzelnen Adler und ihr Gebaren sehr genau kennen.



***
Eines Morgens sagte sie, ehe sie die Herde auf die Weide trieb, zu dem Vater: "In dieser Nacht habe ich einen guten Traum gehabt, den ich dir erzählen möchte, denn er handelt von deinem Sohn, der nun so lange verschwunden ist." Der Vater sagte: "Erzähl' mir sogleich!" Die schwarze Nuja sagte: "Dein Sohn erschien mir im Traume, rief mich an und sagte: ,Negerin! sage meinem Vater, er solle einen Stock nehmen und einen Ochsen auf jene Wiese dort treiben, auf der des Mittags immer die Adler zusammenkommen. Mein Vater soll auf der Wiese den Ochsen schlachten und sein



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Fleisch den Adlern zum Fraße anbieten. Die Adler werden kommen und sich auf das Fleisch stürzen, um es zu fressen. Er soll mit dem Stock in der Hand daneben stehen und wohl aufmerken. Einige Adler werden ganz schnell fliegen, schnell kommen und schnell gehen. Einige sind ganz alt oder ganz jung, diese werden langsamer fliegen und kommen und gehen. Ein Adler wird aber ganz langsam kommen und schwerfällig hüpfen, trotzdem er weder ganz jung noch ganz alt ist. Mein Vater wird diesen Adler daran erkennen, daß er den einen Flügel kaum gebrauchen kann. Diesen Adler soll mein Vater im Auge behalten, und sobald er in seine Nähe kommt, soll er mit dem Stock auf ihn schlagen. Der Adler wird dann seine Flügel senken, und ich werde unter dem Flügel herabfallen, denn dieser Adler hält mich unter seinem Flügel gefangen.' —So hat mir dein Sohn gesagt."

Der Vater sagte: "Negerin, kannst du mir genau die Weide sagen, die mein Sohn gemeint hat?" Die schwarze Nuja sagte: "Ja, ich kann es." Da wählte der Vater einen feisten Ochsen, ergriff einen Stock und sagte zur schwarzen Nuja: "Geh voran und zeige mir den Weg!" Die schwarze Nuja ging voran. Sie führte den Vater dahin, wo sie die Adler hatte von den Bergen herabkommen und spielen sehen. Sie sagte: "Diesen Platz hat dein Sohn mir gewiesen." Der Vater schlachtete sogleich den Ochsen und warf den Adlern das feiste Fleisch hin. Die Adler kamen von allen Seiten. Einige flogen schnell, andere langsamer, weil einige stark und jung, andere schon zu alt oder noch nicht ausgewachsen waren. Zuletzt kam aber ein starker großer Adler langsam angeflogen, der zog einen Flügel halb hängend nach und hüpfte, als er zur Erde gekommen war, schwerfällig einher.

Die schwarze Nuja sagte zu dem Vater: "Dieser Adler dort muß es sein, der deinen Sohn unter dem Flügel gefangen hält. Warte, bis der Adler ganz nahe herangekommen ist und schlage auf ihn!" Der Vater nahm den Stock fest in die Hand. Er ließ den Adler ganz dicht herankommen, dann sprang er auf ihn zu und schlug ihn mit aller Kraft auf den Rücken. Sowie der Adler getroffen war, breitete er seine Flügel hängend zum Fortfliegen aus, und sogleich fiel etwas Großes und Schweres unter dem Flügel zu Boden. Das war der Sohn des Vaters, der Gatte Nujas.

Der Vater schrie vor Freude. Der Vater geleitete seinen Sohn nach Hause. Der Vater sagte: "Wir wollen ein großes Fest veranstalten." Der Sohn sagte: "Warte, mein Vater. Warte noch acht



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Tage, dann werde ich heiraten." Der Vater sagte: "Wen willst du heiraten?" Der Sohn sagte: "Warte acht Tage, dann werde ich es dir sagen."

Nachdem die acht Tage verflossen waren, sagte der Vater zum Sohne: "Wir wollen ein Fest veranstalten. Du willst heiraten und das ist recht, denn du bist in dem gehörigen Alter. Sage mir nun, welches Mädchen du heiraten willst." Der Sohn sagte: "Mein Vater, ich will die Negerin heiraten, die unser Vieh hütet!" Der Vater erschrak. Der Vater sagte: "Was sagst du? Du willst die Negerin heiraten? Bedenke doch, daß du der Sohn einer guten Familie bist. Du wirst uns entehren, indem du die schlechte Negerin heiratest." Der Sohn sagte: "Mein Vater, es hilft alles Reden nichts. Ich werde es tun." Darauf wurde der Vater sehr traurig, und wenn die schwarze Nuja sich abends auf ihrem Lager ausstreckte, hörte sie, wie der Vater in seiner Kammer über die schlechte Absicht seines Sohnes weinte und jammerte.

Das große Fest wurde aber doch veranstaltet. Viele Freunde und Verwandte kamen von allen Seiten. Viele spotteten über die schwarze Negerin, die der Sohn heiraten wolle. Der Bursche sagte: "Was tut ihr? Ihr lacht? Wißt ihr, daß kein einziger von euch eine Frau hat, auf deren Besitz er so stolz sein kann wie ich? Seht nun, wie meine schwarze Negerin aussieht, wenn man sie näher betrachtet!"

Der Sohn schlang eine Schnur um die schwarze Negerin und zog sie daran an der Decke auf. Sodann schlug er mit einem Stocke nach ihr. Da fiel die schwarze Haut von Nuja, und sie zeigte sich nun allen in ihrer leuchtenden Schönheit.


Copyright: arpa, 2015.

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