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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Das Zwerglein auf der Spiezer Fluh


1.

An den lieblichen Gestaden des Thunersees liegt das Dörfchen Spiez. Schloß und Kirche sowie ein Teil der Häuser sind hingebaut auf eine kleine Landspitze, die dem Orte seinen Namen gegeben, derweilen die übrigen Häuser den anliegenden Hügel schmücken, der also sonnig ist, daß hier die Neben blühen.

Das Dorf ist nicht also leicht sichtbar wie andre Ortschaften um den See herum. Es liegt nämlich halbversteckt in einer Bucht und wird zudem verdeckt durch eine Art Vorgebirge, den Spiezberg, der sich vom Dorfe weg abwärts hart dem Wasser entlang zieht. Der Berg ist stell, der See tief, und die Sage geht, daß hier zwei neuvermählte Paare aus den adligen Geschlechtern der Erlach und Bubenberg am Tage ihrer Hochzeit Schiffbruch gelitten und ertrunken seien.

Auf der Höhe dieses Vorgebirges nun erhebt sich eine Fluh, im Volksmunde Spiezer Fluh genannt, und auch von ihr weiß uns die Sage etwas zu berichten.

Vor langen Jahren lebte in dieser Gegend ein Zwerglein. Das stieg im Sommer an jedem schönen Morgen zur Spitze der Fluh, ließ sich hier auf einem behaglichen Plätzchen nieder und blickte, das Köpfchen in die Hand gestützt, stundenlang auf den See hinaus. Es mochte sich wohl ergötzen an seinem geheimnisvollen Blau, am Kräuseln des Wassers, wenn der Wind darüber spielte, an den weißen Segeln, die hierhin und dorthin zogen, an den anmutigen Gestade; i.

Die guten Leute von Spiez mochten das zierliche Kerlchen gar wohl leiden und machten sich ein Vergnügen daraus, ihm ab und zu ein Stücklein Brot und Käse, eine Schale Milch oder wohl auch Aepfel und Birnen zu bringen, wofür es jeweilen recht artig zu danken pflegte. War nun das Wichtlein besonders gut gelaunt, nannte es den Leuten, um sich ihnen erkenntlich zu zeigen, irgendeine Glückszahl, die dann für ihr Leben bedeutsam ward. Nannte es etwa die



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Zahl sieben, so konnte der damit Beschenkte sicher sein, daß ihm nach sieben Tagen, sieben Wochen, sieben Monaten oder auch erst nach sieben Jahren ein Glück zuteil wurde. Ward das Zwerglein hingegen geneckt oder störte man es unvorsichtig in seinen Träumen, dann konnte der Knirps zuweilen recht unfreundlich sein.

Kam da eines Tages ein Büblein auf die Fluh und brachte ihm ein Stückchen Brot und ein Töpfchen Milch. Das Männchen achtete seiner wenig und schaute auch während des Essens unverwandt auf den See. Das ward dem Büblein am Ende langweilig. Es konnte nicht begreifen, wie man also in einem fort an den gleichen Ort hinstarren könne, stellte sich plötzlich gewichtig vor ihn hin und fragte in spöttischem Tone:

"So sag mir doch, du kleiner Wicht, wie viel der Tropfen sind es denn im See?"

Jetzt hob das Männchen schnell sein Köpfchen und gewohnt, in Sprüchlein zu sprechen, erwiderte es mit blitzenden Augen:

"Wie viel der Tropfen es sind im See ?
So viel der Flocken im Gletscherschnee.
Und willst genauer du's noch wissen,
So wirst du gehn und zählen müssen.

Sprach's, stellte das Töpfchen unwirsch auf den Boden, sprang auf die Füße und eilte dem Walde zu. Verblüfft schaute ihm der Junge nach.

Ein andermal wieder kam ein armes Bäuerlein auf die Fluh, bot ihm Früchte an und bat um eine Glückszahl. Das Männchen war indessen an jenem Morgen sehr schlecht gestimmt und wäre lieber allein geblieben. Wie nun das Bäuerlein mit Bitten nicht nachließ, rückte es am Ende doch mit einer Zahl heraus, kleidete diese aber in ein zweideutiges Sprüchlein und sagte:

"Nimm Licht und Feuer wohl in acht,
Des Bösen Gefährte ist die Nacht.



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Der Mann wußte nicht, was er mit dem Sprüchlein anfangen sollte. Er gelobte sich im stillen, dem seltsamen Kauz künftig nichts mehr zu schenken und trollte sich unzufrieden von dannen.

Nach acht Tagen brannte in der Nacht sein Häuschen nieder. Acht Monate später, als der Sommer wieder ins Land gezogen kam und der Mann den Boden aushub, um ein neues Häuschen zu erstellen, stieß er plötzlich auf einen Topf, der mit lauter Goldstücken gefüllt war, und aus dem armen Bäuerlein ward mit einem Schlag ein wohlhabender Mann. Erst jetzt merkte er, daß in dem Sprüchlein die Zahl acht verborgen gewesen, frug aber von jener Zeit an nach keiner Glückszahl mehr.


2.

Um jene Zeit lebte in Spiez ein reicher Mann. Der hatte ein einzig Kind, ein Töchterlein von zwanzig Jahren, das wohl schön war über alle Maßen, doch von stolzer Art und eitel auf ihres Vaters Reichtum. An Freiern aus dem Dörfchen fehlte es nicht. Indessen waren ihr alle diese zuwenig reich und vor allen Dingen nicht vornehm genug. Sie erträumte sich vielmehr einen schönen Mann, der eine Weile in fremden Landen gewesen und nun eines Tages, fein gekleidet und geschliffen im Benehmen, einem Prinzen gleich im Dorf erscheinen und um ihre Hand anhalten würde.

Indessen verstrich die Zeit. Das Kättchen, also hieß das hochmütige Ding, führte die jungen Burschen des Ortes fleißig an der Nase herum, der Ersehnte aber erschien nicht. Das Mädchen geriet darüber schon ordentlich in Unruhe, als ihm noch rechtzeitig das Zwerglein auf der Spieler Fluh einfiel. Von dem wollte es sich elne Glückszahl erbitten, und diese sollte dem Närrchen den Mann seines Herzens näherbringen.

Sie füllte eines Morgens ihre Schürze mit frisch gepflückten Erdbeeren und Kirschen und legte darauf noch allerlei Backwerk, nahm



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auch ein Kännchen süßen Weins in die Hand und eilte damit nach der Spiezer Fluh.

Das Zwerglein saß, in seine Träume versunken, unter einer Tanne.

Es war ein schöner Morgen. Kein Lüftchen regte sich. Ein duftger Glanz lag über der glatten Fläche des Sees, und in seinen Tiefen spiegelten sich die grünen Ufer, die Berge und der Himmel.

Also war es denn nicht zu verwundern, daß das Männchen den Besuch nicht gerne kommen sah. Sobald es indessen die lieblichen Dinge gewahrte, die das Mädchen vor seinen Füßen ausbreitete, griff es gleich zu, ass mit Lust von den Früchten und dem Gebäck und trank auch ab und zu ein Schlücklein Wein, den ihm das schöne Kind im gefüllten Becherchen reichte. Bei alldem aber ruhten die hellen Aeuglein fort und fort auf dem silbern schimmernden See, und es schien darüber der Spenderin ganz zu vergessen.

Eine Weile schaute diese zu, wie das Männchen ass und trank und erwartete jeden Augenblick, es werde nun auch zu sprechen anheben und ihm eine Glückszahl nennen. Als aber die Mahlzeit beendigt , das Zwerglein nur freundlich dankte und gleich wieder stumm auf den See hinausblickte, da fühlte sich das stolze Mädchen verletzt. Umsonst wollte sie nicht gekommen fein und beschloß also, dem schweigsamen Sonderling das Mäulchen zu lösen. Sie trat ein Schrittchen näher und sprach also

"Wenn s dir geschmeckt hat, Kleiner, komm ich ein andermal wieder und bringe du mehr. Denn wisse: ich bin reich, mein Vater hat Kisten und Kasten voll, hat Haus und Hof, hat Matten und Weiden, hat Trauben im Weinberg. Jetzt aber mußt mir eine Glückszahl nennen . Darfst mir doch auch einen Gefallen erweisen, wenn ich dich solchermaßen bewirte!

Setzt hob das Zwerglein fein Köpfchen und blickte der stolzen Jungfer voll ins Gesicht. Dann sprang es auf, schaute einen Augenblick nieder und auf das Haus des reichen Vaters, das mit seinem roten Ziegeldach aus einem Wald von Obstbäumen hervorguckte, und sagte:



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Was Glück ist, Kind, weißt jetzt noch nicht,
Wirst es erfahren, wenn d älter bist.
Wirft es erfahren, wenn's heißt einmal:
Zum ersten, zweiten und — dritten Mal.

Auf threni Heimwege sann das Kättchen über das Sprüchlein bln und her, vermochte aber daraus nicht klug zu werden. Das war ja gar keine Glückszahl, also wie sie es sich gewünscht hatte. Das war ein einfältiges Sprüchlein über das Glück, mehr nicht. Oder sollte etwa die Dreizahl etwas zu bedeuten haben ?

Sie gab acht. Doch begegnete ihr weder am ersten, noch am zweiten oder dritten Tage etwas Besonderes, und auch die nächsten Wochen und Monate verstrichen, ohne daß ihr Liebestraum sich erfüllt hätte. Also verblaßte denn das Verslein mählich in ihrem Köpfchen.


3.

Es war an einem Tanzsonntag zur Zelt der Weinlese. Unter den Klängen der Hörner und Pfeifen drehten sich auf dem Dorfplatz die jungen Paare.

Auch unser Kättchen war erschienen, ein Sträußchen weißer Nelken auf der Brust, an Schmuck und Schönheit alle andern Mädchen überstrahlend. Dennoch blieb sie ein ganzes Weilchen fast ohne Tänzer, indem die ärmern Burschen sich nicht recht an das vornehme Kind herangetrauten, während die wohlhabenden nur wenig Lust bezeigten, von der stolzen Jungfer auch heute wieder am Gängelbande geführt zu werden.

Da brachte ein Kahn aus dem Oberland unerwartet einen neuen Burschen auf den Platz. Der war feingekleidet und unterschied sich von den andern auch dadurch, daß er beim Sprechen nach federn zweiten Satz ein paar fremdklingende Wörter einfließen ließ, die freilich kein Mensch verstand, dafür um so mehr bewundert wurden. Der



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mußte, also sagten sich die Leute, wohl weit in der Welt herumgekommen sein. Er entpuppte sich zudem als flotter Tänzer, benahm sich gar artig, sa ritterlich gegen Burschen und Mädchen, kargte auch mit dem Gelde nicht, also daß der schöne Fremdling nach kurzer Zeit alle Herzen erobert hatte.

Kattis Herz brannte gleich lichterloh. Das war sa gerade der, den sie sich in ihren Träumen herbeigesehnt hatte: er erschien ungerufen auf dem Plan, war von schöner Gestalt, wohl auch reich, heiter im Benehmen und hatte doch wieder etwas vornehm Zurückhaltendes, das sie entzückte. Auf der andern Seite schien auch der junge Mann Gefallen zu finden an dem schönen Kinde, und wenn er anfänglich ohne Unterschied mit jedem Mädchen getanzt, so bevorzugte er sie im Laufe der Stunden mehr und mehr und ruhte nicht, bis er ihr Köpfchen völlig verdreht hatte.

Sie war im Himmel. Doch die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen.

Der also plötzlich Heretngeschneite war in Wahrheit ein Spitzbube. Er hatte sich längere Zeit in fremden Landen herumgetrieben, hatte daselbst mit seinesgleichen sein Geld verpraßt und war, aller Mittel bar, erst vor kurzem in die Heimat zurückgekehrt. Nun wieder arbeiten, fiel ihm nicht ein. All sein Trachten ging setzt dahin, ein Goldfischchen zu ködern, um durch eine reiche Heirat aller Geldsorgen enthoben zu sein. Sein Aeußeres, der weltmännische Schliff und dergleichen Dinge mehr, du er sich in der Fremde erworben, sollten ihm hiebei zustatten kommen.

Der Mann ließ das Goldfischchen, das er an Senem Sonntag geangelt, nicht mehr aus den Augen, besuchte es von nun an häufig, umgarnte durch fein einschmeichelndes Wesen auch den kränkelnden Vater und ward in wenigen Wochen glücklicher Bräutigam. Der kurzen Brautzeit folgte eine Hochzeit, wie sie das Dorf noch nie gesehn, und da schon nach einem halben Jahr darauf der Schwiegervater starb, ward aus dem Habenichts mit einem Schlag ein reicher Mann.



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4.

Eine Ehe aber, die sozusagen auf dem Tanzplatze geschlossen wird, taugt nichts.

ES stellte sich nach und nach heraus, daß der Mann seinen Aufwand vor der Heirat mit fremdem Gelde bestritten und auch in allem übrigen ein bloßer Prahler war, der, da er selber nie recht arbeiten und gehorchen gelernt, nun auch seinen Knechten nicht zu befehlen verstand. Die Frau ihrerseits beschäftigte sich mit Putz und Kleidern, gab das Geld mit vollen Händen aus und überließ das Hauswesen den Mägden. Es fielen die ersten bösen Worte zwischen den Gatten. Sie häuften sich, und bald war Sank und Streit bei ihnen so alltäglich wie das liebe Brot.

Was kommen mußte, trat ein.

Nach Jahr und Tag war des Vaters Erbe verzehrt, es begann das Borgen. Im Anfang freilich ging das ohne viel Mühe, und der Freunde gab es genug, die den beiden Leuten an die Hand gingen. Als sie aber das Geld nicht zurückerhielten, als der Mann im Trunke Worte fallen ließ, die verrieten, wie es in Wahrheit um Haus und Hof stehe, als der Knechte und Mägde immer mehr entlassen wurden und die Frau anfing, wertvolle Sachen zu verkaufen — da schwand das Vertrauen, man fühlte, wie das Schiff dem Sinken nahe, und die Gläubiger drängten sich heran und wünschten, bezahlt zu werden.

Jetzt begann eine böse Zeit für die ehmals so hablichen Leute. Sie schmähten sich stundenlang, gerieten nicht selten einander in die Haare, derweil das Büblein, ihr einziges Kind, in einer Ecke der Stube mit seinen hölzernen Kühen spielte und leise vor sich hin weinte, wenn es zwischen den Eltern gar zu laut herging. Der Mann ergab sich mehr und mehr dem Trunke, faß bis tief in die Nacht im Wirtshaus, schimpfte, fluchte und suchte Händel, bis ihn der Wirt am Ende vor die Türe stellte.

Eines Nachts aber — der Geldstag stand vor der Tür — kam der Mann nicht mehr heim. Er hatte wieder schwer getrunken, und



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nun führte ihn der Weg zum See hinab. Am Morgen brachten zwei Schiffer den Leichnam auf einer Bahre nach Hause: sie hatten ihn seichten Wasser nahe beim Ufer aufgefunden.

Das war ein furchtbarer Schlag für die Katti. Als nun aber die Tage folgten, wo man ihr Hab und Gut öffentlich versteigerte, da brach ihr hochmütiges Herz völlig zusammen.

In jenen Tagen strömten die Leute von allen Seiten herbei und sammelten sich um die Gerichtsbeamten, die auf einer Laube des Hauses Platz genommen. Die Gegenstände wurden herbeigeschafft und besichtigt, worauf sie der Weibel ausrief und versteigerte:

Zum ersten — zweiten und — dritten Mal!

Also ertönte jetzt feine Stimme drei lange Tage einem fort, und ein Stück ums andre, Tische, Stühle und Betten, Wäsche, Geschirr und Schmucksachen gingen erbarmungslos über in die Hände fremder Menschen, die, den Gewinn erwägend, mit dem ersteigerten Gegenstande schmunzelnd hierhin und dorthin zogen. Haus und Hof, Feld und Wald und Weinberg, das ganze ehmals so stolze Besitztum



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des nun toten Mannes ward der lüsternen Menge angeboten, hto ein jeglich Ding seinen Käufer gefunden.


5.

Gegen Abend des dritten Tages, als die Gant ihrem Ende entgegenging , saß die Kans am Eckfenster der Wohnstube und starrte, die Hände in den Schoß gelegt, ins Leere hinaus. Bon unten herauf drang noch der Ruf des Weibels und das Schwatzen und Lachen der Leute an ihr Ohr. Doch rührte sie das jetzt nicht mehr. selbst die ewigen Fragen ihres Bübleins, warum denn die Leute dus und jenes forttrügen, vermochten ihr keine Tränen mehr zu entlocken. die arme Frau fühlte sich wie gelähmt, wie zerbrochen an Leib und Seele — als ob die eiserne Faust des Schicksals sie am Nacken erfaßt und zu Boden geschmettert hätte.

Da fiel ihr Blick wie von ungefähr auf die Spiezer Fluh, und aus der Flucht vergangner Tage stieg plötzlich jener Morgen empor, wo sie dem Zwerglein einen Imbiß gereicht und dieses ihr ein Sprüchlein gesagt, aus dem sie nicht hatte klug werden können.

Wie aber lautete denn das Sprüchlein? Genau wußte die Frau das nicht mehr. Doch war darin die Rede gewesen von einem Glück, das sie erst später erfahren werde, wenn . . . wenn es einmal heiße . . .

"Zum ersten, zweiten und dritten Mal! hallte Setzt die heiser gewordene Stimme des Weibels wieder zu ihr herauf. Nichtig! Also hatte das Männchen gesprochen, und der Sinn der Dreizahl war ihr plötzlich klar geworden.

Dennoch blieben ihr seine Worte immer noch ein Rätsel. War denn das wirklich ein Glück, nun eine arme Frau zu fein, die für sich und ihr Kind kaum zu leben hatte, eine arme Frau ohne Haus und Heim und verachtet von den Menschen ? Wohl kaum. Das Zwerglein, in seinem Aerger darüber, daß die stolze Jungfer mit ihrem Reichtum geprahlt, hatte sich einfach über sie lustig gemacht. Anders vermochte ihre tiefgebeugte Seele das Sprüchlein nicht zu deuten.



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Es wohnte aber um jene Zeit in einem Häuschen abseits vom Dorf eine Näherin, die, wie man zu sagen pflegt, zu den Stillen im Lande gehörte. Es war eine Frau in mittlern Jahren, von einfach redlicher Art, und hatte, da sie selber viel Leid erfahren, ein gütiges Herz für alle Unglücklichen. In ihrer Klause schnurrte vom Morgen bis zum Abend die Spindel, klirrten die Stricknadeln, oder bohrte sich die Nähnadel in die schimmernde Leinwand.

Ein paar Tage nach der Gant verließ die Katti mit ihrem Büblein den schönen väterlichen Hof und siedelte über in das Häuschen der Näherin, die ihr ein freundliches Stübchen anwies.

Nun saß die blasse Frau tagelang in diesem Stübchen und sann nach über die vergangne Zeit mit all ihrem Elend, derweil aus der Stube nebenan das Schnurren des Spinnrades oder das Geklimper der Nadel an ihr Ohr drang. Sie kam sich furchtbar verlassen vor, setzt, wo man ihr alles genommen, an dem ihr Herz gehangen, wo ihr kein Vergnügen mehr winkte und ihre Freundinnen sich nicht mehr blicken ließen. Arbeiten konnte sie sa auch nicht, verstand nichts vom Hauswesen, nichts vom Nähen, vom Stricken und Sticken. Kein Mensch hatte die reiche Tochter jemals dazu angehalten, und aus eignem Willen etwas zu lernen, war ihr auch nie in den Sinn gekommen. Wozu auch ? Sie hatte ja der Mägde genug, die das alles besorgten . . .


6.

Was ihr die trüben Tage noch ein bißchen erhellte, war ihr Büblein, das sich nach Kinderart schnell in die neuen Verhältnisse gefunden. Es war ein drolliges Kind, und zauberte gar oft durch seine Einfälle ein Lächeln auf das vergrämte Gesicht der Mutter.

Eines Tages aber kam es zu ihr gelaufen und rief:

"Mutterli, warum tust denn nicht nähen und spinnen wie diese Frau? Dann brächten uns die Leute auch Geld und Brot und andre Sachen wie ihr."



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Wie ein Strahl traf das Wort der Mutter Seele. Woran sie selber nicht gedacht — da wies ihr ein einfältiger Kindermund den Weg, den sie zu gehen hatte. Ihr Herz quoll über. Sie eilte ins Freie, und als sich die Frau ausgeweint, da trat sie in die Stube der Näherin, verlangte Faden und Nadel und bat, sie nähen und stricken zu lehren.

Freundlich erklärte sich diese dazu bereit, zweifelte indessen im stillen, ob jemand, der sein Leben lang müßig gegangen, es lange bei der Arbeit aushalten werde. Ihre Zweifel schwanden aber mehr und mehr dahin, als sie sah, wie die Katte von nun an jeden Morgen sich unverdrossen zu ihr setzte, wie gut sie acht gab auf das, was zu tun war, wie rasch und sicher sie alles auffaßte.

Auch sonst tat die Näherin alles, um das Los der gedemütigten Frau erträglich zu gestalten. Sie rührte mit keinem Wort an dem was vergangen, suchte statt dessen ihr geschwunden Vertrauen zu heben, wies sie hin auf Gott, der allen Menschen, die an ihn glauben, aus der Not helfe, und wirkte durch ihr ruhig heitres Wesen, das sich immer gleichblieb, wie ein milder Mondstrahl auf die schwarzverhängte Nacht.

In diesen Wochen und Monaten, wo sich die Katti zum erstenmal in ihrem Leben einer ernsten Arbeit hingab und nun nach sechs Tagen fleißigen Händeregens die köstliche Ruhe des Sonntags genoß, wo ein guter Mensch nebst ihrem eignen Büblein sich um ihr Wohlergehen mühten und alles um sie her Liebe und Friede atmete, da wuchs in ihrem Herzen still und freundlich ein Blümlein auf, das Blümlein Freude. Sie hatte von diesem Blümchen bisher so gar nichts gewußt, hatte nur die stolzen Blumen Lust und Vergnügen gekannt, die wohl das Auge ergötzten, die Seele aber unberührt ließen. Das Blümlein Freude dagegen verbreitete einen gar lieblichen Duft, füllte ihre Augen mit Glanz, die blassen Wangen mit Farbe, die Seele mit Licht und Wärme. Alles, was ihr bis setzt als einzig Glück erschienen, Reichtum und Guthaben, das schmolz dahin wie der Schnee vor der Frühlingssonne, und an ihre Stelle traten



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die unverlierbaren Güter der Seele, Arbeit, Liebe und Freude, die allein das unruhige Menschenherz zu beglücken imstande sind.

Die Jahre vergingen. Aus dem ehmals so stolzen Kättchen war eine stille Frau geworden. Sie hatte sich selbständig gemacht, erhielt Arbeit von allen Seiten und ward wieder von den Leuten geachtet — ja mehr geachtet als damals, wo sie noch als reiche Tochter auf dem Gute ihres Vaters die Herrin spielte.

Ab und zu, etwa an einem Sonntag nach dem Kirchgang, wanderte die Frau, von ihrem aufwachsenden Sohne begleitet, zur Spiezer Fluh hinauf und hin zu jener Stelle, wo die stolze Bauerntochter vom



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Zwerglein das seltsame Sprüchlein empfangen. Das Männchen freilich ließ sich nicht mehr blicken. dankbarer Liebe aber gedachte sie immer wieder feiner Worte, deren Sinn ihr nun endlich klar geworden .

"Ich war ein rechtes Hochmutsnärrchen', sprach sie wohl lächelnd zu ihrem Sohne, und meinte, was wunder ich wär mit all .meinem Gelde. Ich ging müßig den lieben langen Tag, ich suchte nur das Vergnügen und hatte im Grunde niemand gern als mich selber. Da schickte mich Gott ins Elend, und seitdem weiß ich erst, daß es einzig zwei Dinge sind, die den Menschen zufrieden machen:

Arbeit und Liebe.


Copyright: arpa, 2015.

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