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Kapitel 

Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Der Venediger


1.

Nicht weit von Brienz liegt das Dörfchen Tracht, das mit seinen hellen Fenstern freundlich auf den See niederschaut.

In diesem Dörfchen lebte vor Zeiten ein junger Fischer. Der fuhr jeden Morgen auf den See hinaus und senkte sein Netz in die blaue Flut. Blies der Wind vom Tal hernieder, dann fing er nur wenig oder nichts. Blies der Wind dagegen seeaufwärts, dann stiegen die Fische aus der Tiefe und schwammen in du Maschen seines Netzes. Und der Fischer trug die Beute auf den Markt und verkaufte sie.

Der junge Mann war von schöner Gestalt, hatte tiefschwarzes Haar, und aus feinem sonnverbrannten Gesicht blickten die dunklen Augen fast rätselhaft. Er stammte auch nicht aus der Gegend, die Leute munkelten gar, der seltsame Bursche sei der Sohn eines Venedigers *), der vor Zeiten im Haslital nach Gold und Silber gesucht. Er lebte still für sich allein, tat nicht wie die andern Burschen, stieg nicht auf die hohen Felsen, den Mägdlein Flühblumen zu holen, und wenn am Sonntagabend unter der Linde getanzt ward, hielt er sich fern oder schaute bloß teilnahmlos zu. Manch ein Mägdlein versuchte dann wohl, den schönen Mann in den Reigen zu ziehen. Vergeblich. Er schüttelte den Kopf und lehnte ab, oder verließ gar den Platz.

Dem jungen Fischer war nur wohl, wenn er draußen auf dem See seinem Handwerk obliegen konnte. Da blieb ihm auch Zeit und Muße genug, einsam in seinem Schiffe sitzend, sich zu freuen an all den Schönheiten, die ihn umgaben, und Dingen nachzusinnen, an die andre Menschen kaum dachten.

Er liebte die Sonne, die ihm Gesicht und Arme braunfärbte und das Blut in seinen Adern erwärmte. Er schaute den Wolken zu, wie sie gleich Segelschiffen durch die blaue Luft dahinzogen. Er kannte jeden Berg nach seiner Gestalt, kannte jeden Vogel an seinem Flug.



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Und wenn der stille Beobachter anfänglich den Schmetterling beklagte, der stundenlang über den See irrte und am Ende wohl ertrinken müsse, da freute es ihn, als er einmal gewahrte, wie sich einer aufs Wasser setzte wie auf das Gras und sich also ausruhen konnte.

Am meisten aber liebte er das Wasser.

Oft, an warmen Sommertagen, wenn der Fischfang wenig ergiebig war, beugte er sich über den Nand des Bootes, tauchte Hände und Arme in die laue Flut und plätscherte darin herum, oder ließ sie in kristallnen Bächlein durch seine Finger gleiten. Warf plötzlich die Kleider von sich und sprang ins Wasser, streckte in wohliger Lust die braunen Arme nach den Wellen aus, die er sich selber geschlagen, und schwamm eine Weile hin und her. Tauchte dann, einem Wildentchen gleich, in die Tiefe, und es erschien der schwarze Kopf erst nach geraumer Zeit wieder auf der Wasserfläche, doch weitab, auf der andern Seite des Bootes.

Träumte wiederum, in das Schiff zurückgekehrt, still vor sich hin, die Augen forschend auf die dunkelblaue Flut gerichtet.

"Wie schön bist du doch, Wasser ", sprach er zu sich selber, "wie groß und wie reich! Kaum daß ich das Kirchlein dort unten noch zu erkennen vermag! Und liegst da, zwischen die Berge gebettet, wer weiß ute tief? Die Leute sagen gar, du hättest keinen Grund. Ist's wahr? Fast möcht ich s selber glauben, wenn ich dein dunkles Auge also vor mir sehe. Ist es aber auch wahr, was sie weiter von dir sagen, daß in deinen Tiefen das Seevolk wohne — häßliche Männer, mit Fischschuppen bedeckt, aber auch schöne Frauen, die des Nachts aus den Fluten steigen und die Menschen durch ihren lieblichen Gesang entzücken, oder sie auch zu sich hinabziehen und verderben ? Ist das wahr ?"

Reglos lag die weite Fläche, vom warmen Glanz der Sonne überflutet. Er beugte sich tief über den Rand des Bootes und schaute hinab, sah aber nichts als sein Schattenbild und ringsherum einen bläulichen Dämmerschein, der sich im Nichts verlor.



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"Ich werde einmal des Nachts herkommen ", murmelte er. Vielleicht daß mir dann die Wassergeister Antwort geben.

Und mitten in einer schönen Nacht fuhr der Venediger hinaus auf den See.

Der Mond stand dicht über dem linken Höhenzug und warf sein weißes Licht hernieder auf die leichtbewegte Wasserfläche, daß die Wellen hier und dort wie Silberschuppen funkelten. Leise flüsterten die Wälder, dumpf und einförmig ertönte das Rauschen des Gießbaches zu ihm herüber. Der junge Fischer hielt die Ruder in der Hand, bewegte sie aber kaum und überließ das Schiff dem Spiel der plätschernden Wellen und der Winde. Ganz versunken in die Schönheit der Nacht, starrte er vor sich hin, sah wie im Traum einen weißen Schwan an ihm vorübergleiten, sah in der Ferne einen Stern vom Himmel fallen.

Da fuhr er aus seinem Sinnen empor.

Vor ihm, nicht gar weit vom Schiff entfernt, stieg aus der schillernden Flut der Kopf und dann die Brust eines Weibes. In golden funkelnden Wellen floß ihr Haar über die Schultern hernieder, und da sie ihr Gesicht dem Monde zugekehrt, gewahrte er deutlich, wie es fein und edel und wie aus Elfenbein geformt war. Und noch ehe sich der Fischer von seinem Erstaunen erholt, öffnete die Seefrau auch den Mund und hub zu singen an.



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Sie sang von dem Seevolk, das still und einsam auf dem Grunde des Wassers wohne, von Türmen und Palästen, aus Bernstein gebaut und mit Perlen geziert, von herrlichen Gärten, worin die Tulpen und die roten Nelken blühen, von kleinen Kindern, die lachend auf dem Rücken großer Fische reiten.

Dann aber sang sie von der Schönheit des Himmels und der Erde, von der Sonne goldnem Glanz, von Blumenduft und Vogelschall . Sang von dem herrlichen Gut der Menschenseele, der es gegeben, sich zu freuen und zu lieben, und wiederum vom Leide derer, denen dies nicht beschieden ward. Und immer weher klang ihr Lied, doch auch leiser und leiser. Und als der letzte Ton im duftgen Licht des Mondes verhallt, da stieg die schöne Frau in die Tiefe hinab.

Eine Weile noch starrte der junge Fischer wie verzaubert nach der Stelle hin, wo sie verschwunden. Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.

War"s Wahrheit, was er da geschaut? Oder war"s ein bloßes Spiel seiner Gedanken und Wünsche, die oft den Menschen das als wirklich vor Augen führen, wonach sie sich von ganzem Herzen sehnen ? Er hätt' es nicht zu sagen vermocht, und ganz in sich verloren ruderte er heimwärts . . .


2.

Es war an einem Sonntagabend. Auf dem Dorfplatz erklangen die Hörner und Schalmeien, und Bursch und Mägdlein, festlich geschmückt, drehten sich in lustigem Neigen. An einen Baum gelehnt, schaute der braune Venediger dem Treiben zu.

Da trat aus dem Gebüsch ein fremdes Mädchen in den Kreis. Das hatte zwei helle Augen und ein fein geschnittenes Gesicht, und ihr langes Haar wallte frei um Hals und Busen. Ein seidenes Kleid umspannte die schlanken Glieder, und eine weiße Seerose zierte ihre Brust.

Und ohne sich lange umzusehen, schritt das schöne Mädchen lächelnd auf den Fischer zu und lud ihn zum Tanze. Und seltsam!



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Als ob dieser nur auf sie gewartet, gewährte er auch gleich ihre Bitte, und nun sah man die beiden den ganzen Abend zusammen tanzen. Doch ehe die Glocke elf Uhr schlug, war sie wie vom Erdboden verschwunden.

Von nun an kam die geheimnisvolle Fremde jeden Sonntag wieder , sobald die Hörner zum Tanze riefen. Zuweilen erschien sie wie ein einfaches Hirtenmädchen, ein Schnitterhütchen auf dem reichen Haar, dann wieder wie ein Schloßfräulein, eine Perlenschnur um den Hals, ihr Kleid mit goldnen Streifen geziert. Ein holdes Lächeln umspielte ihren Mund, und immer war der Venediger der einzige, mit dem sie tanzte. Doch wußte niemand ihren Namen, noch woher sie kam.

Einst aber, als der Tanz zu Ende und die beiden dem Ufer des Sees entlang schritten, da drang der Venediger in sie, sich zu offenbaren .

Kennst du mich denn nicht? fragte darauf das sonderbare Mädchen . "Und hat mich der junge Fischer noch nie gesehn ?

Der Mond schien hell, und wie jetzt der Venediger seine Tänzerin von der Seite her prüfend anblickte, da war ihm mit einemmal, er sähe die Seefrau wieder, wie sie ihm in jener Nacht erschienen war, und er stieß einen Schrei der Freude aus.

"Bist du ; " rief er. "Bist du es wirklich, an die ich seitdem Tag und Nacht gedacht, wenngleich ich nie recht wußte, ob ich damals bloß geträumt oder dich wirklich gesehen hätte ?

"Ich bin s ", sprach das schöne Mädchen lächelnd, "und du hast mich wirklich gesehen, wie ich dich gesehen habe. Höre mich an. Ich bin eines Königs Kind, doch nicht eines Königs von dieser Erde. Mein Vater ist ein Fürst des Wassers, und wir bewohnen einen Palast auf dem tiefen Grunde dieses Sees. Da ist alles schön und wunderbar, wie du es aus meinem Liede vernommen, und all die andern Seejungfrauen sind mir untertan und gehorchen meinen Befehlen . Und dennoch fühle ich mich unglücklich, weil mir das elne fehlt — die Liebe. Denn wisse: meine Mutter, die nun schon lange tot, war von dieser Welt, war ein Mädchen aus dieser Gegend



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und wurde, als sie einst am Strande nach Blumen suchte, von einem unsrer Wassermenschen geraubt und, da sie schön war, dem Könige, meinem Vater, zugeführt, der sie zur Frau nahm. Mein Vater ist streng und grausam, ist ein heidnisches Wesen und kennt die Liebe nicht. Ich aber fühle wie die Mutter, habe ein Herz und sehne mich nach Liebe. Und wie ich dich in jener Nacht erschaute, da packte mich eine unwiderstehliche Sehnsucht nach dir, also daß ich schon manchen Sonntagabend den Wellen entschlüpfte und her kam, dich zu sehen. Ich weiß es wohl: wenn mein Vater wüßte, daß ich mit Menschen verkehre, er würde mich töten. Und dennoch — meine Liebe ist stärker als alle Furcht, und nur der Tod vermag mich von dir zu scheiden.

Von nun an trafen sich die beiden an manch schönem Abend am Ufer des Sees. Sie herzten und küßten sich in seliger Lust, und die Macht der Liebe knüpfte ihre Herzen noch enger zusammen.

Sie trennten sich immer um die elfte Stunde. Eines Nachts aber schlug es am Turme zwölf. Da stieß das Mägdlein plötzlich einen Schrei aus und rief:

"Das ist mein Tod. Leb wohl, Liebster! Du wirst mich nie mehr wiedersehen.

Mit diesen Worten sprang sie ins Wasser und tauchte in die Tiefe hinab . . .



***
Gar manches liebe Mal wandelte seither der junge Fischer zu abendlicher Stunde am Strande auf und nieder, seine Augen forschend auf die Wellen gerichtet, die sich rauschend am Gesteine brachen. Oder er fuhr wohl auch mitten in der Nacht hinaus auf den See. Und wieder spiegelten sich des Himmels Wunder tief in seinem Grunde, ein Schwan ruderte langsam vorüber, in der Ferne fiel ein Stern aus blauer Höh — das schöne Seemädchen aber ließ sich nicht mehr blicken.

Eines Morgens trieb sein Boot herrenlos auf dem Wasser. Doch niemand hätte zu sagen vermocht, was aus dem jungen Fischer geworden und wie er geendet.


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