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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Auf der Bachalp

Auf einer schönen Weide nordwärts von Grindelwald, der Bachab, hütete vor Zeiten ein Büblein die Ziegen des Dörfchens.

Das Büblein führte ein recht armseliges Leben, hatte tagsüber nichts zu essen als ein Stücklein Brot und Käse, das oft schon verzehrt war, bevor es auf der Weide anlangte, und was der Kleine des Abends etwa erhielt von den Leuten, deren Ziegen es weiden mußte, reichte kaum hin, sein ewig hungriges Mäulchen zufriedenzustellen. Dennoch gedieh das Peterlein, also war sein Name, bei dem vortrefflich . Denn wenn ihm auch der liebe Gott nach außen hin gar manches versagt, so hatte er es dafür mit einem fröhlichen Herzen beschenkt, das ihn den Hunger und alle übrigen Mühen des Geißbubenlebens leicht ertragen ließ.

Nur etwas bereitete ihm gar manch kummervolle Stunde. Er hätte nämlich ums Leben gerne gesungen und gejodelt, wie das die andern Hirtenbuben so gut konnten, wenn sie etwa am Abend ihre Herde heimwärtstrieben. Doch hatte der Junge gar keine Stimme, und versuchte er es dennoch, ein Liedchen zu singen, dann klang es falsch, und die andern lachten ihn aus.

Es war im Spätherbst, Küher und Kühe, Buben und Geißen wieder zu Tal. Da stieg das Büblein um die Mittagsstunde zur Alp hinan, um in der Hütte droben für den Meistersennen einen Milchtrichter zu holen, den man beim Abzug vergessen hatte.

Es war ein trüber Tag. Schwere Wolken hingen am Himmel, schaurig wehte der Wind durch den Wald, öde und verlassen lag jetzt die Alp.

Der Junge fand den Trichter an der bezeichneten Stelle, stülpte ihn über den Kopf und trippelte gleich wieder dem Gehölze zu.

Da hub es zu regnen an. ein Weilchen noch trottete das Büblein, sein Schirmdach über dem Kopfe, munter fürbaß. Als aber der Negen immer stärker ward und es auch schon zu dunkeln anfing, da wandte es sich kurz entschlossen um und eilte wieder der Hütte zu,



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dort die Nacht zu verbringen und erst am folgenden Morgen zu Tale zu steigen.

Triefend wie einer, den man aus dem Bache gezogen, langte das Peterlein vor der Hütte an, stellte den Trichter auf die Bank und schüttelte das Wasser von sich ab. Er öffnete die Hüttentür, öffnete eine zweite Tür zu ebener Erde und sah sich in einer schönen Alpstube.

Durch die Mitte dieser Stube zog sich ein langer Tisch mit Bänken und Stühlen ringsherum. An der Wand stand ein sauberes Bett mit Vorhängen. Wie herrlich, dachte der Hirtenbub, wieder einmal in einem Bette zu schlafen! Als er aber an der andern Wand, auf einem Brette schön nebeneinander gereiht, die Zinnteller mit den runden Löffeln erblickte, da regte sich in ihm plötzlich ein gewaltiger Hunger. Wenn jetzt nur auch etwas zu essen da wäre!

Der Zunge durchstöberte die ganze Hütte nach einem Stückchen Brot, einem Restlein Käse, fand aber nichts. Betrübt schlich er in die Alpstube zurück, warf seine Zwilchhöschen auf einen Stuhl und schloff unter die Decke, den Hunger zu verschlafen.

Es war inzwischen völlig dunkel geworden. Gleichförmig plätscherte der Negen auf das Schindeldach. Ab und zu fegte ein Windstoß um die Hütte.



***
Nach kurzem schlief er ein, schäkerte im Traume mit seinen Ziegen, sprang über Stock und Stein mit seinem Rehlein, dem er ein gebrochnes Beinchen geflickt und das seitdem sein Spielgefährte geworden, und trank mit dankbarem Herzen ein Näpfchen Milch, das ihm ein guter Senn angeboten.

Nach einiger Zeit erwachte das Büblein. Ein Lichtschein erfüllte die Stube. War es denn schon Morgen ? Ihm schien, als hätte er kaum ein paar Stunden geschlafen.

Er stützte das Köpfchen auf seinen Arm und blinzelte durch die Spalte des Vorhangs. Und wirklich! Das war nicht des Tages Helle, das war ein bläulich dämmriger Schimmer, der auch eher aus dem Boden zu steigen als durch das Fenster zu leuchten schien.



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Und wie setzt das Büblein verwundert in die Stube hinausstarrte, hörte er ein leises Knirschen. Im Fußboden, zwischen Tisch und Tür, ward von unsichtbarer Hand ein Brettchen ausgehoben, und gleich einem Mäuschen guckte ein Spitzkopf aus dem Loche. Der schaute sich erst nach allen Seiten um, zu sehen, ob nicht etwa jemand da wäre, fuhr dann vollends in die Höhe, und es zeigte sich ein Männchen, kaum drei Fuß hoch und feingliedrig gewachsen, mit roter Spitzkappe und blauem Wams. In der Hand hielt das Männchen ein rotes Laternchen. Mit dem zündete es in die Tiefe und rief:

"Herauf, geschwind!
Die Stud ist frei,
Und 's ist halb zwei.
Wollen essen und trinken und fröhlich sein,
Singen und tanzen und ringelreihn.
Heißassa! Juheißassa!
Unsre Feierstund ist da!

Jetzt entstiegen der Tiefe, eins ums andre, noch weitere Erdmännchen, wohl ein ganzes Dutzend. Die aber kamen nicht mit leeren Händen wie das erste. Ein jegliches trug vielmehr auf dem Arm eine silberne Schale mit Speisen und Getränken, mit Messerchen und Gäbelchen und Becherlein, was sie nun alles wohlgeordnet auf den Tisch stellten, nachdem eins zuvor ein weißes Laken darüber gebreitet. Dann setzten sie sich, sechs auf dieser, sechs auf jener Seite, mit unterschlagenen Beinchen auf Stuhl und Bank und buben zu essen an.

Das Peterlein, setzt ganz wach geworden, starrte wie gebannt auf das geheimnisvolle Treiben der Nachtleutchen. Wie sie so dasaßen um den Tisch herum, im bläulich schimmernden Halbdunkel der Stube, ein jegliches sein rotes Laternchen neben den Teller gestellt, wie sie miteinander flüsterten, die schönen Kindergesichtchen sich freundlich zunickten, wie die kristallnen Messerchen und Gäbelchen, die sie so gefällig zu handhaben verstanden, ab und zu aufblitzten, derweilen die silbernen Schalen und Becherchen in mildem Licht erglänzten —



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das war ein entzückendes Bild zu schauen, wie er es nicht einmal in seinen Träumen gesehen.

Dem Büblein bangte bei all dem auch nicht einen Augenblick. Das mußten wohl die Bergmännchen sein, von denen ihm seine Großmutter erzählt. Und die taten den guten Menschen nichts, hatte sie immer gesagt.

Wie nun der Kleine so ein Weilchen hinblickte auf all die herrlichen Sachen, an denen sich die Leutchen gütlich taten, verspürte er plötzlich wieder feinen gewaltigen Hunger vom vorigen Abend, daß ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Wenn doch nur ein paar Bröcklein zu seinem Bette hergeflogen kämen! Er wär sa schon mit wenigem zufrieden, und die guten Zwerglein hätten es ihm, dem armen Hirtenbuben, ganz gewiß von Herzen gegönnt.

Derweilen er aber die Speisen solchermaßen mit den Augen verschlang , steckte das Peterlein sein Köpfchen, ohne es gewahr zu werden, mehr und mehr durch die Spalte des Vorhangs, bis er es endlich so weit vorgeschoben, daß das Näschen mit Wonne den köstlichen Duft der Gerichte einatmen konnte.

Da trat indessen etwas ein, woran der Kleine in seinem hungrigen Verlangen nicht gedacht haie. Der Duft der Speisen kitzelte ihm nämlich sein Näschen dergestalt, daß er plötzlich, ob wohl oder übel, erniesen mußte und sein Hat-schi vom Himmelbette her dreimal mächtig in die Stube hinausscholl.

Erschrocken sprangen die Männchen von ihren Bänken. Eins aber griff gleich nach seinem Laternchen, schob den Vorhang zurück und zündete ins Bett. Da lag denn das Peterlein, nun selber erschrocken und betrübt darüber, daß er die guten Leutchen bei ihrem Mahle gestört hatte. Setzt kamen auch die andern mit ihren Lichtlein herzu und besahen sich den kleinen Störenfried, worauf sie sich gleich wieder zu Tische setzten und zu flüstern anhuben:

"Ich kenn ihn wohl ", sagte das erste.
s ist das Geißenbüblein von der Bachalp ", das zweite.
"Ein gutherziger Zunge ", das dritte.



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"Tut keinem Menschen etwas zuleide ", das vierte.
Und auch keinem Tierchen ", das fünfte.
"Hat einem Rehlein das Beinchen geflickt ", das sechste.
Möcht so gern singen ", das siebente.
Und kann s nicht ", das achte.
"Wollen ihn's lehren ", das neunte.
"Ja, ja ", jubelten jetzt alle zusammen. "Wollen ihn's lehren!

Das zehnte aber erhob sich, legte auf eine große Schüssel einige der köstlichen Speisen und stellte sie vor das Büblein auf die Decke.

"Iss und laß! " sprach es freundlich, was soviel besagen wollte, man solle sich gütlich tun, sich aber nicht vergreifen am Silbergeschirr, :

Das Büblein dankte, setzte sich im Bette auf und griff ohne langes Besinnen zu. Er ass mit kristallnen Messerchen und Gäbelchen, er trank aus silbernem Becherlein, und Dinge, wie sie einem Hirtenbuben nicht alle Tage beschieden sind. Es war ein köstlich Mahl.

Eine Weile noch tafelten die Zwerglein weiter. Plötzlich aber standen sie auf und rückten den Tisch ein wenig gegen die Wand, so daß der Platz frei ward. Eins von ihnen hockte sich sodann auf



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einen Stuhl, zog ein Geiglein hervor, setzte es ans Kinn und hub ein träumerisches Lied zu spielen an.

Da faßten sich alle übrigen an den Händchen, und die kleinen Körper wiegten sich im bläulichen Dämmerlicht anmutig hin und her. Und wie setzt die Töne leiser und leiser erklangen, bewegten sich auch die kleinen Tänzer immer langsamer, und ihre Köpfchen knickten am Ende zusammen, als wollten sie in Schlaf versinken.

Mit einemmal aber spielte das Geigerlein ein wildes Tänzchen auf. Da fuhren die Männchen mit einem Schrei in die Höhe, so daß der Zunge, der ihnen vom Bett aus mit Entzücken zuschaute, fast erschrak. Sie ließen die Händchen los, und hei! wirbelte setzt ein jegliches wie besessen in der Stube herum. Plötzlich aber brach der Tanz ab, das Spielmännchen steckte das Geiglein unter sein Wams, und die Leutchen hockten sich Kreise auf den Boden.

Nach einer Weile legten sie die Händchen an die Wangen, und ihre Köpfchen hin und her wiegend, buben die Männchen singen an.

Sie sangen erst leis und feierlich. Dem Büblein war, als höre er von der fernen Kirche herüber die Abendglocken läuten, er sah die Sterne am Himmel heraufziehen, die Engel falteten die Hände zum Gebet. Dann gingen die Stimmchen in die Höhe, wurden heller und bewegter. Setzt stieg er, also vermeinte das Hirtenbüblein, frühmorgens mit seinen Geißen auf die Weide. Die Sonne stand golden am Himmel. Er hörte die Glöcklein klingeln, hörte die Geißeln knallen und, ach, das Jauchzen der andern Buben. Nur klang das Lied der Zwerglein noch viel, viel schöner und feiner — wie der Jubel einer Engelschar, deucht' ihn, die über die Berge hinfliegt.

Da war der Gesang zu Ende. Die kleinen Sänger legten die Händchen in den Schoß, und eine Weile ward es still in der Stube.

Dann buben sie wieder an. Diesmal aber klangen ihre Stimmchen dumpf und schwer. Setzt sah sich der Kleine auf dem Friedhof des Dörfchens, sah die weißen Grabsteine, darüber ragten die schwarzen Tannen, und am Himmel stand des Mondes blasse Kugel. Er mußte an sein totes Mütterlein denken und an sene schreckliche Nacht,



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die er auf der Suche nach einer Ziege hoch oben in den Felsen hilflos hatte zubringen müssen. Da ward ihm immer weher ums Herz. Er fühlte sich unglücklich und verlassen wie damals, stromweis rollten ihm die Tränen über die Wangen, und er barg sein Köpfchen in die Decke, sich auszuweinen.

Nicht lange, richtete er sich wieder auf. Ein Tanzliedchen umschmeichelte jetzt sein Ohr und stimmte sein betrübtes Herz im Augenblick wieder heiter. Das meckerte wie die Geißlein, das hüpfte wie ein Häschen, das jagte dahin wie ein Eichhörnchen und war dann wieder zart und duftig wie ein Elfentanz in mondheller Nacht. Es war zu schön. Das Büblein lauschte wie verzaubert. Ach, was hätte er drum gegeben, auch nur einen einzigen solchen Ton singen zu können!

Da sprangen die Nachtleutchen auf die Füße und eines rief:

"Hinab, geschwind!
Die Zeit ist vorbei,
s ist schon halb drei.
Müssen schaffen, uns regen und fleißig sein,
Hämmern und schlagen das harte Gestein.
Heißassa! Juheißassa!
Unsre Arbeitsstund ist da!

Im Schwick *) ward der Tisch geräumt und an seinen Platz gestellt , und husch husch husch! stiegen sie eins ums andre ins Loch hinab. Das letzte aber blieb zögernd stehen, zog ein Gemskäslem aus seinem Wams und legte es dem Büblein aufs Bett mit den Worten:

"Iss all Tag, iss gnug,
Iss es nie ganz, sonst bist unklug!

Sprach's, wandte sich um und verschwand der Tiefe. Ein Knirschen, und das Brettchen war wieder an seinem Platze. Eine Weile noch starrte das Büblein, das Köpfchen auf seinen



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Arm gestützt, nach der Stelle hin, wo die Männchen in die Tiefe gestiegen, sah, wie das bläuliche Dämmerlicht mählich schwand und es wieder dunkel ward in der Stube, tat einen tiefen Schnauf, legte sich hin und war bald wieder eingeschlafen.

Ein leuchtender Morgen brach an. Die Bergspitzen funkelten im Feuer des Frührots. Aus den Tälern stiegen die weißen Herbstnebel die klare Luft.

Den Milchtrichter über den Kopf gestülpt, das Gemskäslein unter dem Arm, eilte das Hirtenbüblein mit beflügelten Schritten über die Alp dem Walde zu. Er war noch wie verzaubert und fragte sich immer wieder, ob das, was ihm in dieser Nacht widerfahren, nicht etwa



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ein bloßer Traum gewesen. Aber da war ja das Gemskäslein. Das hatte er am Abend zuvor noch nicht gehabt. Und das Sprüchlein des guten Männchens wußte er auch noch, verstand seinen Sinn und gelobte sich, es genau zu befolgen und jeden Tag ein Nestchen übrigzulassen. Und dann hatte er die Männchen tanzen gesehen. Und dann — sie singen gehört.

Und wie das Peterlein an all die schönen Liedchen dachte, die sein Ohr vernommen, da war ihm auf einmal, als könne er es nun auch. Und wirklich! Gleich einem Wässerlein, das unter der Erde lange vergeblich nach einem Ausfluß gesucht, ihn endlich gefunden und sich nun lustig über Stein und Fels ergießt, also quoll ihm setzt ein Liedchen ums andre hervor. Das klang und fang und jubelte, und aus den Schluchten und von den Flühen hernieder tönte das helle Stimmchen hallend zurück.

Das war für den Kleinen ein seliges Niedersteigen zu Tal. Von nun an brauchte er nicht mehr zu hungern, und singen und jauchzen konnte er Setzt auch, und das noch schöner als die andern Hirtenbuben.


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