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Kapitel 

Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Die Felsenjungfrau

Hinter dem Grate, der sich von der Sulegg nach den Schwalmernhörnern hinüberzieht, liegt eine Weide, die Sulsalp genannt.

Es ging gegen den Herbst. Die Alp war abgewendet, und Hans, der Senn, trieb seine Kühe zusammen und fuhr zu Tal. seinem Dörfchen angelangt, kam ihm indessen in den Sinn, daß er in der Hütte droben etwas vergessen, und also machte sich der junge Hirte am folgenden Morgen wieder auf, das Vergessne zu holen.

Der Weg führte ihn neben einem Brunnen vorbei, an dem er seine Herde schon oft getränkt hatte. Vom langen Gehen durstig geworden, , ging er hin und trank nun selber von dem Wässerlein.

Wie aber der Senn weitergehen wollte, gewahrte er plötzlich einen großen Schlüssel, der hinter dem Brunnen auf dem Nasen lag. Er hob ihn auf, und es zeigte sich, daß der Schlüssel alt und rostig, doch sehr kunstreich geformt war, wie ihn kaum ein Schlosser jener Gegend hätte verfertigen können.

Derweil nun Hans verwundert dastand und sich fragte, wozu der seltsame Fund wohl dienen möchte, fiel sein Blick wie von ungefähr auf eine Felswand, die sich nicht gar weit von ihm in die Höhe zog, und auf eine eiserne Türe darinnen, die er zuvor noch nie gesehen. Es fuhr ihm durch den Kopf, daß der Schlüssel vielleicht zum Oeffnen dieser Türe bestimmt sei, eilte hin, und wirklich: er paßte genau ins Schloß. Der Senn drehte ihn nicht ohne Mühe um, und knarrend sprang die Tür auf.

Ein dunkler Gang starrte ihm entgegen, vorn von des Tages Licht ein wenig erhellt. Durfte er es wohl wagen, einzutreten ?

Nach einigem Besinnen tat er zögernd ein paar Schritte vorwärts , tappte, mit den Händen den Wänden entlangfahrend, Dunkel weiter und weiter und erreichte nach kurzem eine geräumige Höhle. Durch eine schmale Spalte in der Decke fiel ein Lichtstrahl, der den Naum ein wenig erhellte.

Bon wachsender Neugier getrieben, durchschritt der Senn die



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Höhle, tastete sich wieder durch einen dunklen Gang und betrat ein zweites Gewölbe, worinnen es indessen schon heller und freundlicher aussah. Der Boden war mit bunten Steinen belegt, Wände und Decke schienen aus Kalkstein, am Ausgang aber hing zum Verwundern des Mannes ein mächtiger Vorhang aus schwarzem Samt, der mit Sonnen und Sternen übersäet war.

Behutsam schob er die beiden Schöße ein wenig auseinander und steckte den Kopf durch die Spalte.

Eine Flut von Licht strahlte ihm entgegen, daß er auf einen Augenblick zurückprallte und erst nach und nach einen Saal unterschied , wie er ihn so herrlich nie erträumt hatte.

Das Licht ging aus von einem goldnen Kronleuchter, der von der Decke herniederhing und dessen Arme wohl hundert Wachslichter trugen. In rötlichem Marmor schimmerten die Wände. Ihnen entlang , aus Marmor geformt und auf hohen Sockeln stehend, blickten schöne Hirtenknaben und Hirtenmädchen träumerisch vor sich nieder auf das Lämmchen zu ihren Füßen. der Mitte des Saales aber erhob sich ein rnarmorner Tisch mit einem einzigen Untersatz von mächtiger Art, und auf diesem Tische funkelten ein Häuflein Gold und daneben eine goldene Kuhglocke.

Derweilen der Senn noch ins Anschauen der ihm ungewohnten Dinge verloren, vernahm er aus der Tiefe des Saales einen Seufzer und bald darauf eine sanfte Stimme:

"Was zögerst du? Tritt ein!

Nicht ohne Bangen ließ Hans den Vorhang fahren und tat ein paar Schritte auf den Tisch zu.

Da trat ihm eine Jungfrau entgegen, hoch und schlank von Wuchs, bis zu den Füßen in ein weißes Gewand gehüllt. Schön und lieblich war ihr Angesicht, ihre Augen voll Milde und Liebe, und wie ein Mantel fiel das golden schimmernde Haar über ihren Nücken nieder.

"Sei mir willkommen, o Sohn der Berge ", sprach sie. "Möge Gott dich bestimmt haben, mich zu erlösen. Höre auf meine Worte.



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Ich lebte vor langen Jahren als zwanzigjähriges Mägdlein in einem Dörfchen hier in der Nähe und hirtete die Schafe meines Vaters. Ich war glücklich. Mein Vater, ein wackerer Mann, ließ es mir an nichts fehlen und behütete mich, sein einziges Kind, wie seinen Augapfel. Da geschah es, daß ein Bettelweib — es war die böse Waldfrau, vor der sich alle Leute fürchteten — eines Abends bei uns anklopfte und um ein Almosen hat. Mein Vater aber, der das Weib auch nicht leiden mochte, wies sie von der Tür. Da ergrimmte die Frau, hob drohend die Faust und schrie:

Wart, Bauer, das sollst du mir büßen. Dein Töchterlein, dein Eins und Alles, soll von Stund an verflucht sein, und das so lange, bis ein Senn sie dereinst erlösen wird.»

Bon senem Tag an war ich verdammt, hier in dieser Felsenhöhle mein Leben zu verbringen, in Glanz und Pracht freilich, doch einsam, fern von den Menschen und ohne ihre Liebe, verzaubert durch den Spruch der bösen Frau, und warte nun schon seit langen Jahren auf den Sennen, der den Bann von mir nehmen soll. Setzt aber, glaube ich, ist meine Qual zu Ende. Denn du bist wohl der Senn, von dem das böse Weib gesagt, er werde mich erlösen.

"Und was hätte ich denn zu tun, dich zu erlösen ?" " fragte dieser mit unsicherer Stimme.

Das will ich dir sagen ", fuhr sie fort. ,Siehe, unter drei Gaben hast du dir eine auszuwählen. Die erste Gabe besteht in dem Häufchen Gold, das hier auf diesem Tische liegt, die zweite in der goldenen Kuhglocke, die dritte aber bin ich selber. Wählst du eine der beiden goldenen Gaben, bist du mit einem Schlag ein reicher Mann. Ob freilich der Reichtum glücklich macht, ist eine andre Frage. Wählst du dagegen die dritte Gabe und nimmst mich zur Frau, so wirst du damit nicht reich — denn ich muß alle diese Schätze hier zurücklassen —, aber glücklich und zufrieden. Und hast damit zugleich eine edle Tat getan und ein armes Menschenkind aus seiner Qual erlöst. Nun wählt! Bedenke aber wohl, was du tust!



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Der Senn ließ seine Augen eine Weile auf den drei Gaben herumgehen und überlegte.

Die beiden goldenen Gaben gefielen ihm über alle Maßen, besonders die herrlich geformte Glocke, die wohl auch einen wundersamen Klang haben mußte. Seine Leitkuh würde nicht wenig stolz sein, wenn er sie ihr eines Tages umhängen würde! Mit der Jungfrau dagegen war das so eine Sache. Ein wenig freilich tat ihm ihr Elend leid. Doch was ging ihn das am Ende an? Er war sa nicht schuld daran. Und wollte er einmal heiraten, dann gab es der Jungfrauen genugsam im Tale drunten. Eine Gelegenheit aber, schnell reich werden, bot sich ihm nicht alle Tage, und also entschloß er sich für die zweite Gabe.

"Ich nehme die Glocke ", sprach er, erfaßte sie auch kurzerhand oben am Ring, hob das schwere Ding nicht ohne Mühe vom Tisch und schickte sich an, den Saal zu verlassen.

Verzweifelnd stand die Jungfrau da — einer Ertrinkenden gleich, die sich mit Mühe und Not dem Strande genähert und gerettet glaubt, dann aber von einer mächtigen Welle erfaßt und sich wieder in die Tiefe zurückgeschleudert sieht.

"Unmensch ", rief sie, "mußtest du nur darum zu mir kommen, mein Leid noch größer, mich noch unglücklicher zu machen, als ich es bis dahin gewesen ? So möge denn auch dir kein Glück mehr blühen, wohin du auch deine Schritte lenken magst!

Da schlich der junge Mann eina mit der Glocke von dannen. Der Boden schien unter seinen Füßen zu wanken, ihm war, als müßten die Höhlen über seinem Kopfe zusammenbrechen.

Im Freien angelangt, stürzte der Senn wie betäubt auf den Rasen nieder und fiel einen dumpfen Schlaf, aus dem er erst am folgenden Morgen erwachte.

Er hätte gerne alles für einen Traum gehalten. Die Glocke aber, die neben ihm lag, belehrte ihn eines andern, wenngleich die geheimnisvolle Türe verschwunden war.



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Hans kehrte nach Hause, das Herz voll Neue darüber, daß ihn das Gold also betört hatte. Was ihm aber die Jungfrau angewünscht , traf ein.

Hin war von jenem Tag an der Friede seines Herzens, und er fand ihn nicht mehr bei Tag und bei Nacht. Da verkaufte er all seine Habe, verkaufte auch die Glocke und zog in die Welt hinaus.

Doch auch im fremden Lande fand Hans das Glück nicht, ward gequält von seinem Gewissen, gemieden von den Leuten, die, also deuchte ihn, ihm sein Unglück von der Stirne lasen.

Nach Jahr und Tag kehrte er wieder in seine Heimat zurück und kam eines Abends zu einer abgelegenen Alphütte, vor der ein alter Mann mit weißem Haar auf den Knien lag und Holz spaltete.

Kann ich hier die Nacht zubringen?" fragte der Senn. "Ich bin müde und bedarf der Ruhe.

"Ich will hingehen und den Vater fragen ", erwiderte der Alte.

Mit diesen Worten verschwand er, erschien aber bald wieder und führte den Sengen in ein Stübchen, darinnen ein steinalter Mann am Tische saß.

"Dich scheint ein Kummer zu drücken ", sprach der Greis zum Gaste, nachdem er ihn aufmerksam betrachtet hatte. Komm, setze dich her zu mir und erzähle, was dein Herz betrübt. Alles Schwere im Leben wird leichter, wenn man von ihm reden darf.

Der müde Wandrer setzte sich an den Tisch und erzählte, wie es ihm ergangen und warum er nirgends Ruhe finden könne. Als er geendet, erhob sich der Alte und sprach:



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"Ich bin zeit meines Lebens immer gastfreundlich gewesen und werde es auch heute sein. beherberge dich diese Nacht. Morgen aber in der Frühe packe dich fort. Denn wisse: dtn der Vater gener Jungfrau, die du damals hättest erretten können, es aber nicht getan hast, und die nun noch unglücklicher fein wird als zuvor. Wußtest du denn nicht, daß eine Menschenseele aus Not und Qual erretten mehr wert ist als alles Gold auf der Welt?

Mitten in der Nacht verließ der ruhelose Mann die Hütte, und niemand hat ihn von jener Stund an wieder gesehen.


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