Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes
Erzählt für Jung und Alt von
Otto Eberhard
Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser
Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig |
Lämmergeier
Je höher der Wanderer im Gebirge hinansteigt, desto einsamer wird es um ihn her. Die ihm vertrauten Pflanzen der Voralpen verschwinden mehr und mehr, und auch die Tierchen, Fliegen, Käfer und Falter, werden seltener. Ab und zu noch huscht ein einsames Vögelchen über seinen Weg, ein Schneehuhn schwirrt aus dem nahen Busch, auf einem Felsenband weidet friedlich ein Trüpplein Gemsen. Dann glaubt er sich allein. Wohin er auch blickt, starren ihm graue Wände entgegen, dehnen sich kalte Schneefelder, türmen sich eisige Gipfel, derweilen unter feinen Füßen die menschlichen Wohnstätten im blauen Dunste verschwinden.
Da horch! Hoch in den Lüften droben ertönt ein gezogenes "Pfyii — Pfyii —pfyii! " Er schaut auf und gewahrt im Blau des Himmels einen dunklen Punkt. Jetzt schwebt der Punkt in schraubenförmig gewundener Bahn hernieder, wird größer und größer, und dann rauscht mit mächtig ausgespannten Flügeln der königliche Geier der Hochalpen heran. Ein Weilchen noch kreist er umher, mit feinen scharfen Augen in die Tiefe spähend, und fährt dann pfeilschnell mit zusammen geschlagenen Schwingen nieder auf die entdeckte Beute, einen Hasen, einen Fuchs oder ein Lämmchen, verzehrt das Tier auf dem Flecke oder steigt mit ihm gleich wieder die Lüfte und hin zu feinem Horst am steilen Felsen, seine Jungen damit zu füttern.
An größere Tiere, wie Siegen, Gemsen und Rinder, wagt sich der gewaltige Vogel seltener, weil feine Füße nicht stark genug sind, sie zu tragen. Grast aber solch ein Tier am Nand eines Abgrundes, kreist er erst nahe über ihm hin, es zu ängstigen, saust dann heran und stößt es mit scharfen Flügelhieben in die Tiefe, wo er sich auf der zerschmetterten Beute niederläßt, sie zu verschlingen.
Zuweilen kommt es vor, daß der Lämmergeier auch Menschen angreift: kleine Kinder, die nicht bewacht sind, oder selbst den Jäger, wenn er etwa, auf schmälern Felsgefimse stehend, sich nicht recht zu wehren vermag. Büchern ist darüber gar manches zu lesen. Es
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sind das freilich keine Sagen, es sind Geschichten, die sich vor nicht allzu langer Zeit begeben haben. Doch mögen einige von ihnen auch hier erzählt werden.
Nicht lange, kehrte er, eine Bürde Heu auf den Schultern, zum Stadel zurück und schaute sich auch gleich nach seinem Kinde um. Das aber lag nicht mehr am Platze, wo er es hingelegt. Voll Angst suchten nun die Eltern, und mit ihnen auch andre in der Nähe weilende Bergleute, nach der Kleinen. Umsonst, es fand sich keine Spur.
Es begab sich aber, daß um sene Zeit ein Senn, den sein Weg über einen Felsenpfad hoch oben im Harder führte, plötzlich ein Kind schreien hörte. Verwundert darüber, in einer solch wilden Gegend ein kleines Kind anzutreffen, schaute er sich erst um, dann in die Höhe, und gewahrte nun einen großen Lämmergeier. Der hielt in seinen Krallen ein Mägdlein und schoß setzt nieder auf einen Felsen, um es hier zu zerfleischen. Da sprang der Senn in mächtigen Sätzen auf den Felsen zu und erschreckte den Räuber durch Geschrei und Gebärden dergestalt, daß er seine Beute fahren ließ und das Weite suchte.
Das Mägdlein hatte auf seiner sausenden Fahrt durch die Luft Schuhe, Strümpfe und Käpplein verloren, war aber im übrigen noch heil und ganz und nur leicht an Arm und Händchen verletzt. Der Senne verband die Wunden, hob das Kind, das ihm wohlbekannt war, auf seine Schulter und brachte es wohlbehalten zu seinen Eltern zurück, die Gott nicht genug danken konnten für die wundersame Errettung ihres Lieblings.
Das Mägdlein hieß Anna Zurbuchen. Von senem Tag an aber
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nannten es die Leute nur noch das Geier-Anneli. Und dieser Name ist ihm auch dann noch geblieben, als es drunten im Dörfchen Goldswil als alte Frau lebte.
Derweilen er nämlich am Feuer saß und an einem Weidenzweige schnitzte, schoß plötzlich ein Geier herab, umschritt die Herde und schickte sich an, ein Lamm zu ergreifen und fortzutragen. Da sprang das zehnjährige Büblein auf den Räuber zu, ihn zu vertreiben. Setzt wandte sich dieser gegen den kleinen Verteidiger, stieß die Krallen von der Seite her in seine Hüften und hob den Kopf, ihm mit Schnabelhieben das Gesichtchen zu zerfetzen. Das Büblein aber, ein kleiner Held, faßte den Bösewicht mit beiden Händen um den Hals und drückte ihn gegen den Boden. Spreizte sodann das eine Bein über Flügel und Leib, so daß er rittlings auf den Räuber zu sitzen kam, und versuchte nun, ihn in dieser Klammer festzuhalten. Das war aber leichter gedacht als getan. Der Vogel sträubte sich aus allen Kräften und hackte fort und fort mit seinem krummen Schnabel nach den Händchen, die seinen Hals umschlossen hielten, und so wär es ihm am Ende auch gelungen, den kleinen Gegner abzuschütteln und dann zu zerfleischen, als man diesem unversehens zu Hilfe kam. Ein Senn, der in der Nähe die Kühe hütete, hatte plötzlich die beiden Ringenden bemerkt und kam setzt in wilden Sätzen herangesprungen. Mann und Büblein zusammen wurden setzt des bösen Gesellen in leichter Weise Meister, töteten ihn aber nicht. Er ward, so ist in alten
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Urkunden zu lesen, nach Bern gebracht und hier noch lange Zeit wie ein Wunder angestaunt.
Der sprang, als er einst einer Gemse allzu eifrig nachsetzte, auf ein Gesims hinunter, das sich kaum fußbreit über einem schrecklichen Abgrunde der Wand entlang zog. Wieder hinauf konnte der Mann nicht. So legte er sich denn auf den Bauch nieder und kroch, mit einem Beile den Weg vor sich ebnend, Stücklein um Stücklein vorwärts, jeden Augenblick gewärtig, vom morschen Gestein unter ihm in die Tiefe gerissen zu werden.
Nachdem der Jäger sich in dieser Weise eine Stunde lang fortbewegt , gewahrte er an der Wand einen flatternden Schatten. Da hob er mühsam den Kopf und sah über sich einen Lämmergeier kreisen , bereit, sich auf ihn zu stürzen. Jetzt dachte der in Todesgefahr Schwebende nur noch daran, sich dieser neuen Beute zu bemächtigen. Er drehte sich langsam auf den Rücken und stützte den Kopf auf einen Absatz, derweil er das eine Bein um einen Vorsprung schlang, das andre aber frei über der Tiefe hängen ließ. Nach langem glückte es ihm auch, sein Gewehr an die Wange zu bringen.
Dann wartete er, mit dem Laufe der Büchse dem kreisenden Riesenvögel folgend. Und dann krachte der Schuß. Wie eine Feder wirbelte das getroffne Tier ein paarmal um sich selbst, überschlug sich und fiel senkrecht herab, mit seinen Flügeln den Körper des Jägers streifend.
Da drehte sich dieser wieder auf den Bauch und wand sich weiter über das Felsengesims, das sich endlos in die Länge zu ziehen schien. Nach dreistündiger Arbeit endlich setzte er seinen Fuß wieder auf festen Boden. Seine Kleider waren zerrissen, Hände und Arme blutig. Den Geier aber hat er nicht auffinden können. Der mußte irgendwo an einem Felsvorsprünge hängen geblieben Sein.
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