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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Die weiße Frau von Weißenau

M der Gegend zwischen Unterseen und dem Thunersee wohnte vor Zeiten ein Bauer, gewaltig von Gestalt, ein stolzer und verschlossner Mann. Seine Frau, die er leidenschaftlich geliebt, war längst gestorben, hatte ihm aber ein Töchterlein hinterlassen, das nun zur blühenden Jungfrau herangewachsen. Dieses Töchterlein war der Sonnenschein seines Lebens, und alle Liebe und zärtliche Fürsorge, wie er sie einst der Mutter gegenüber gehegt, trug der einsame Vater setzt über auf sein Kind.

An einem Nachmittage sammelte das Mägdlein Beeren an den waldigen Hängen des Harders.

Da ritt der junge Freiherr von Weißenau vom Berge hernieder. Er war auf der Jagd gewesen und im Begriff, auf seine Burg am Thunersee zurückzukehren. Wie nun der Freiherr das liebreizende Kind gewahrte, hielt er sein Pferd an und begann zu plaudern, erzählte ihr erst von der Jagd, dann von seinem Schlosse, das wohl von außen mit den grauen Mauern und Türmen wenig freundlich aussehe , darinnen aber gar lieblich geziert und voll Lust und Kurzweil wäre. Redete endlich mit lockenden Worten von goldnem Geschmeide, von Kettlein und Ringlein, womit er Hals und Arm des schönen Mägdleins zu schmücken gedenke, wenn sie ihm auf seine Burg folgen würde, und betörte solchermaßen ihr arglos Herz. Sie vergaß ihres Vaters und seiner Mahnungen, sie überhörte die warnende Stimme ihres Gewissens, stieg auf des Ritters Pferd und sagte mit ihm dem Schlosse

In jener Nacht forschte der alte Bauer nebst feinen Nachbarn vergeblich nach seinem Kinde, und erst am folgenden Morgen ward ihm kund, was geschehen. Da begab er sich gleich nach der Burg und ließ den Freiherrn bitten, ihm sein Töchterchen zurückzugeben. Dieser aber schien wenig gewillt, seinem Begehren zu entsprechen, um so weniger, als auch das Mägdlein selber nicht mehr von dem



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jungen Ritter lassen wollte, und unverrichteter Dinge mußte der alte Mann nach Hause kehren.

Rasend vor Wut, schwor der Bauer dem Verführer seines Kindes blutige Rache.

Der Freiherr pflegte sich jeden Sonntag in die Kirche von Unterseen zu begeben und dort die Messe zu hören. Er war hiebei stets von seinem Gefolge begleitet, und alle ritten auf weißen Pferden. Gerade auch um sene Zeit grollten die Bauern dem Freiherrn, weil er sie mit Abgaben arg bedrückte, also daß man sich im Schlosse täglich auf einen Angriff von ihrer Seite gefaßt machen mußte.

Auf diese beiden Umstände baute der alte Bauer seinen Plan.

Mit viel Mühe und Kosten gelang es ihm und seinen Nachbarn, die er in sein Vorhaben eingeweiht, sich eine Anzahl weißer Rosse und Rüstungen zu verschaffen, und an einem Sonntagmorgen, zur Stunde, da sich der Freiherr mit seinem Gefolge in der Kirche befand, sah der Burgwart die gerade Straße von Unterseen her eine Schar Reiter auf Schimmeln heransprengen. Und hinter ihnen sagte eine Menge bewaffneter Bauern. Im Glauben, die Heranstürmenden wären sein Herr und dessen Gefolge, ließ er augenblicklich die Zugbrücke niederrasseln und öffnete das Tor.

Kaum langten indessen die vermeintlichen Ritter im Burghofe an, als sie die Schwerter zogen und mit gewaltigen Streichen auf die Schloßknechte einbieben. Keine Gnade wurde gegeben, und in kurzem waren die Leute die Herren der Burg.

Jetzt suchte der Bauer nach seiner Tochter und fand diese endlich hoch oben auf einer Warte, wohin sie in ihrer Angst geflohen. Noch wollte das Mägdlein den Vater um Verzeihung bitten. Wie sie ihn aber erblickte, mit seinem von Wut und Mord immer noch verzerrten Gesicht, Schwert und Harnisch vom Blute rot, da erfaßte sie das Grausen. Sie sprang auf die Brustmauer, und mit dem Schrei: "Vater! " stürzte sich die Unglückliche in den Schloßhof hinab.

Der Freiherr, der von dem Ueberfall rechtzeitig Kunde erhalten,



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flüchtete mit seinen Begleitern erst ins Habkerntal und von hier ins Entlibuch hinüber.

Seine Burg, in sumpfiger Gegend am Einfluß der Aare in den Thunersee gelegen, ist heute zerfallen. Moos und wirre Gräser schlingen sich um die Mauerreste, und eine einsame Kiefer überschattet die Höhe des Turmes. Seit jener Zeit aber, also erzählt die Sage, erscheine dort in mondhellen Nächten eine weiße Frau, die, begleitet von einem mächtigen Hunde, in der Trümmerstätte wehklagend auf und nieder wandle. ES sei dies niemand anders als das unglückliche Mägdlein des Bauers, das selbst im Grabe seine Ruhe nicht finden könne.


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