Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Der Hirtenknabe

Geht der Wandrer von Merligen aus dem Grönbach entlang aufwärts , so betritt er nach etwa anderthalb Stunden das stille Juftistal und erblickt jetzt zu seiner Linken das Sigriswiler Nothorn, das gleich einer trotzigen Burg gen Himmel ragt. Geht er nun weiter und steigt diesen Berg hinan, dann führt ihn ein Weglein über Alpweiden und Gehänge hinauf zum Eingang einer Felsenhöhle, das Schafloch genannt. Darinnen gibt es Grotten, wo Eissäulen vom Boden und von der Decke hernieder gegeneinander wachsen, die, wenn sie farbig beleuchtet werden, dem Auge ein märchenhaft schönes Bild gewähren.

Von dieser seltsamen Höhle weiß uns die Sage etwas zu berichten. Auf einer Alp am Sigriswiler Nothorn hütete einst ein schöner Hirtenknabe seine Schafe.

An einem Nachmittage nun, als die Sonne heiß vom Himmel strahlte, legte sich der Knabe neben seiner Herde hin ins Gras und schlief ein.

Da träumte ihm, er vernehme aus der Höhe hernieder das Klingeln eines silbernen Glöckleins. Er schaute auf und erblickte eine schöne blonde Frau in lichtblauem Gewande, einen Strauß rotglühender Alpenblumen in der einen, ein Silberglöcklein in der andern Hand, also daß der Schläfer vermeinte, es käme der Frühling den Berg herabgestiegen. Nun trat die schöne Frau zum weißen Leithammel seiner Herde und hing ihm das Glöcklein um den Hals, kam dann auf ihn selber zugeschritten, beugte sich nieder und sang mit lächelndem Mund ein schmeichelndes Lied:

"Komm, holder Knabe, geh mit mir,
Manch selge Stunde bereit ich dir.
Ich reich dir den Becher mit goldnem Wein,
Ich schenk dir der Liebe Zauberschein.



Sagen-Oberlandes124 Flip arpa

Schön ist die Weide, schön der Wald,
Gar lieblich der Berge Aufenthalt.
Es glänzet der Himmel in duftgem Blau,
Es locken die Blumen auf grüner Au.
Laß das, Knabe, und hör auf mein Wort!
Ich weiß dir einen noch schönern Ort.
Da gibt es nur Lust und der Freuden viel,
Lachen und Tanzen und Saitenspiel.

Wie sie nun aber dem Knaben winkte, ihr zu folgen, da erwachte dieser, schlug die Augen auf und blickte verwundert auf die holde Frau, die er im Traume gesehen, nun aber leibhaftig vor ihm stand. Da wußte er nicht, wie ihm geschah, sprang auf die Füsse und eilte behende hinter ihr her über die Weide und dann auf handbreitem Pfade der Felswand entlang, bis sie endlich zum Eingang einer Höhle gelangten. Es war das Schafloch.

Sie betraten die Höhle und drangen tief in den Felsen hinein. Die Augen der Frau funkelten, ihr goldnes Stirnband blitzte ab und zu auf. Dennoch mußte sich der Knabe schließlich an ihrem Gürtel festhalten, um nicht zu fallen und den rechten Weg zu verlieren.

Da dämmerte in der Ferne ein rötlicher Schimmer. Und wie die beiden jetzt darauf zueilten, betraten sie bald eine weite Grotte von gar wundersamer Art.

Mitten aus dem Boden erhob sich ein mächtiger Felsen, mit Moos und Schlingpflanzen bewachsen, mit lauschigen Wegen, mit Nischen und Vorsprüngen, das Ganze in rosigem Lichte schimmernd. Hier und dort aber entquoll dem Felsen ein Wasserfall, und an jenen Stellen durchbrach das dunkle Grün des Wassers und das Weiß der schäumenden Wellen den roten Dämmerschein. Ein paar farbige Vögelchen schwirrten lautlos hin und her. bläulichem Dufte dehnte sich hinter dem Felsen die Ferne.

Eine Weile starrte der Hirtenknabe traumverloren auf das schöne Bild. Dann aber fröstelte ihn, und es ward ihm auf einmal gar



Sagen-Oberlandes125 Flip arpa



Sagen-Oberlandes126 Flip arpa

seltsam zumute. Er sehnte sich zurück nach Luft und Sonne, nach Hund und Herde, nach seinem Mütterlein, und eine innere Stimme flüsterte ihm zu: "Verlaß den Ort! Entflieh, so schnell du kannst. Denn Böses will die Frau von dir und dich verderben.

Er wandte sich um und wollte den dunklen Gang zurückeilen. reichte ihm die schöne Frau einen goldenen Becher und sagte mit schmeichelndem Munde:

"Sicht, das ist der Becher des Vergessens. Trinke daraus, und du wirst glücklich sein, wie du es nie zuvor gewesen.

Zögernd blieb der Knabe stehen. Wieder hörte er eine Stimme, warnend: "Entflieh, sonst hifi verloren! " Dann aber glaubte er eine andre zu vernehmen, lockend: .Warum dich fürchten ? Greif zu und genieße die Freuden, von denen die schöne Frau gesungen.

Und er griff zu, setzte den Becher an die Lippen und trank aus vollen Zügen.

Da schien ihm, als ging ein Feuerstrom durch seinen Leib. Und wenn er sich einen Augenblick zuvor nach feinem Mütterlein, nach Hund und Herde zurückgesehnt, war das alles in ihm auf einmal wie erloschen.

Lange — die Sage spricht von zweimal sieben Jahren — lebte nun der Hirtenknabe bei der holdseligen Frau, lebte wie in einem Zaubergarten in Glanz und Glück und vergaß darüber das Heil seiner Seele.

Da war ihm einst, als er schlummernd lag, es wehe ein eisiger Wind um ihn her. Nur über sein Gesicht strich ein warmer Hauch, feuchte Lippen preßten sich auf seine Hände, und jemand rief seinen Namen. Da griff der Schlummernde nach dem Becher, der neben ihm stand und von dem die schöne Frau gesagt, daß er Wiedererinnern enthalte, und leerte ihn bis auf den Grund.

Setzt öffnete der Schläfer die Augen und schaute sich um. Und siehe, er lag auf einer Tragbahre im matt erhellten Felsenraum. Neben ihm kniete betend sein Mütterchen, und zu seinen Füßen winselte der treue Hund. Nicht lange, ward die Bahre emporgehoben,



Sagen-Oberlandes127 Flip arpa

und zwei Männer trugen ihn aus der Höhle und hinab ins Häuschen seiner Mutter.

Aus dem schönen Hirtenknaben war setzt ein blasser Mann geworden , mit müdem Gang und ergrautem Haar. Seine Schafe hütete er hinfort nicht mehr. Man sah ihn oft im Gebet versunken, sah ihn bei Armen, denen er ein Almosen, bei Kranken, denen er Arzneien brachte, und sein gütig Wesen linderte überall die Schmerzen. Und als er nach wenig Jähren starb, da lag auf seinem Gesicht ein friedlich Lächeln: die ewige Liebe Gottes hatt' ihm seine Schuld verziehen und ihn zu sich genommen.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt