Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


29. Der Kluge und der Dumme

Ein Mann wohnte neben einem Walde. Er hatte zwei Frauen, von denen war die eine sehr klug, die andere töricht. Der Mann aber war faul und gierig. Eines Tages sagte er: "Ich will die Bohnen säen." Er nahm ein Maß Bohnen, ging mit ihnen in den Wald, machte ein Feuer, kochte und aß sie, dann legte er sich hin und schlief. Abends kam er wieder heim. Am andern Tage nahm er wieder ein Maß Bohnen, ging mit ihnen in den Wald, machte ein Feuer, kochte und aß sie. Dann legte er sich hin und schlief. Abends kam er wieder heim. So machte er es alle Tage und wurde alle Tage dabei fetter.

Eines Tages sagte die kluge Frau zu der törichten: "Komm, wir wollen unserm Manne heimlich folgen und sehen, was er mit den Bohnen macht." Als der Mann mit seinem Maß Bohnen gegangen war, folgten ihm die Frauen, ohne daß er sie bemerkte. Die Frauen sahen nun, wie der Mann im Walde ein Feuer machte, die Bohnen in einen Topf tat, kochte und aß und sich dann niederlegte, um zu schlafen. Die beiden Frauen sahen das und gingen unbemerkt von ihrem Mann nach Hause. Abends kam der Mann nach Hause. Als er in das Haus kam, fragte ihn die kluge Frau: "Hast du das ganze Maß Bohnen gesät?" Der Mann sagte: "Ja, ich habe alle Bohnen gesät." Die kluge Frau sagte: "Schlage mir doch den Baumast dort klein." Der Mann wollte es tun. Er bückte sich und wollte die Axt ergreifen. Da fielen aus seiner Brusttasche einige gekochte Bohnen. Die kluge Frau sagte: "Woher kommen denn die gekochten Bohnen? Kommen sie aus deinem Bauch?" Der Mann sagte: "Du bist närrisch! Mach deine Arbeit! Die Bohnen sind nicht gekocht, sie waren nur in der heißen Sonne. Ich werde sie morgen mit den andern säen."

Als nun die andern Männer ihre Frauen aussandten, daß sie ihre Bohnenfelder hackten (häufelten und jäteten), sagte die kluge Frau zu ihrem Manne: "Wir wollen auch hingehen und die Bohnen hacken, die du gesät hast." Der Mann sagte: "Das ist bei der Art, wie ich die Bohnen gesät habe, nicht nötig. Ich habe sie gleich sehr gründlich gehäufelt." Als die Zeit kam, in der alle andern Männer ihre Frauen in ihre Bohnenfelder sandten, um die ersten (jungen) Bohnen zu pflücken, sagte die kluge Frau zu ihrem Manne: "Wir brauchen Bohnen zum kochen. Zeige uns jetzt, wo du deine Bohnen gesät hast. Wir wollen, wie die andern Frauen, junge Bohnen



Atlantis Bd_02-235 Flip arpa

pflücken." Der Mann sagte: "Laßt nur, ich will das selbst machen!" Er nahm einen Korb, ging in das Bohnenfeld seines Nachbars, pflückte die Bohnen und brachte sie heim. Um diese Zeit nun fühlten sich beide Frauen Mutter.

Die Bohnen wurden überall reif. Es kam die Zeit, in der alle Männer ihre Frauen auf ihre Bohnenfelder sandten, um die reifen Bohnen ernten zu lassen. Die kluge Frau sagte zu ihrem Manne: "Nun wollen wir zwei auch hingehen und die Bohnen ernten, die du gesät hast. Zeige uns jetzt, wo du deine Bohnen gesät hast." Der Mann sagte: "Dann nehmt den Esel und seine Tragtaschen (=asimbi; Doppelsack, von dem je eine Tasche von je einer Seite des Sattels herabhängt, aus Schilf geflochten) und ein Sieb. Reitet dort herunter. Wo das Sieb in den Bohnenstauden hängen bleibt, ohne zu Boden zu fallen, da ist mein Bohnenfeld."

Die beiden Frauen machten sich mit dem Esel und seiner Doppeltasche und dem Sieb auf den Weg und ritten durch den Wald. Sie ritten weit fort. Dann kamen sie an eine lichte Stelle, in der ein großes Bohnenfeld war. Das Bohnenfeld war so dicht, daß das Sieb nicht zu Boden fallen konnte. Dort begannen die beiden Frauen die Bohnen abzuernten und in die Doppeltasche zu füllen.

Das Bohnenfeld gehörte einer Teriel. Die Teriel sah die beiden Frauen. Die Teriel kam, ohne daß die Frauen sie bemerkten. Die Teriel ging zu dem Esel, der seitwärts in den Bohnen stand. Sie fraß den Esel auf. Sie ließ nur die beiden Ohren übrig, die steckte sie auf eine Fadengabel (= tharucha; das Gabelholz, auf dem die Frauen Wolle und Wollfaden aufspulen, und das sie, meist in den Leibgurt gesteckt, bei sich tragen). Die Ohren des Esels sahen so über die Bohnen hinweg. Dann kam die Teriel auf die zwei Frauen zu und sagte: "Wer hat euch denn dieses Bohnenfeld gezeigt? Wie seid ihr denn auf den Acker eurer Kusine (=jedesmunth) gekommen?" Die kluge Frau betrachtete die Teriel und sagte: "Meine Tante, wo ist denn unser Esel ?" Die Teriel zeigte auf die Ohren des Esels und sagte: "Sieh doch seine Ohren!"

Die Teriel sagte zu den beiden jungen Frauen: "Laßt den Esel und eure Sachen hier. Kommt mit mir in mein Haus. Ich will euch zu Abend ein gutes Essen geben. Ihr könnt bei mir schlafen und morgen dann weiter arbeiten. So spart ihr den weiten Weg!" Die kluge Frau sagte: "Das geht nicht. Unser Mann erwartet uns zu Hause und wird böse werden, wenn wir abends nicht zurückkehren.



Atlantis Bd_02-236 Flip arpa

Wir wollen uns (vielmehr) sputen, heimzukommen." Die Törichte sagte aber: "Doch! Doch! Weshalb sollen wir heute abend und morgen früh den weiten Weg unnötig machen. Wir wollen zu dir gehen, bei dir essen und schlafen."

Die Teriel führte die beiden Frauen in ihr Haus. Die Teriel machte eine gute Speise. Sie setzte den Frauen das Essen vor. Die Kluge führte die Speise bis zum Munde, warf sie aber, statt sie ZU genießen, in ihr Kleid hinein. Die Törichte aber nahm den Löffel voll und aß schnell, soviel sie konnte und bis sie satt war.

Als die beiden jungen Frauen gegessen hatten, fragte die Teriel sie: "Woran erkennt man, daß ihr schlaft?" Die Kluge fragte: "Woran erkennt man denn, daß du fest schläfst?" Die Teriel sagte: "Wenn die Frösche, Löwen und andere Tiere in meinem Bauche anfangen zu schreien, so ist es das Zeichen, daß ich fest schlafe." Die Kluge sagte: "Ob wir fest eingeschlafen sind, erkennst du daran, daß die Kresse (= gerninusch) neben der Feuerstelle (=chanun) zu sprossen beginnt." Die beiden Frauen legten sich zum Schlafen nieder. Die Teriel setzte sich neben die Feuerstelle und sah danach, ob die Kresse zu sprossen beginne. Die Kresse keimte aber nicht. Die Teriel saß lange da; es war aber nichts von Kresse zu sehen. Die Teriel wurde müde. Sie legte sich auch hin und schlief ein.

Die kluge Frau schlief nicht. Kurze Zeit, nachdem die Teriel sich niedergelegt hatte, hörte sie in ihrem Bauche die Frösche, Löwen, Esel und anderen Tiere schreien. Da weckte sie die törichte Frau und sagte: "Komm! Steh schnell auf. Wir wollen fliehen!" Die Törichte sagte: "Bist du närrisch? Wir wollen die gute Frau verlassen, ohne ihr zu danken? Wir sollen in der Nacht nach Hause gehen? Ich muß die gute Frau wecken und fragen, ob sie damit einverstanden ist." Die törichte Frau wollte die Teriel wecken. Die Kluge beruhigte sie und sagte: "Nun, sei doch still und schlafe nur ruhig weiter. Ich will ja nur einmal hinausgehen. Wenn du es nicht willst, kann ich es ja unterlassen." Die Törichte drehte sich herum und schlief wieder ein.

Als die Törichte wieder eingeschlafen war, erhob sich die Kluge, stand vorsichtig auf, schlich zur Tür, öffnete sie und ging hinaus. Nach einiger Zeit wachte aber die Törichte wieder auf. Sie sah, daß die Kluge nicht mehr neben ihr lag. Sie weckte die Teriel und sagte: "Meine Base, meine Mitfrau ist herausgegangen und kommt nicht wieder." Die Teriel stand auf. Die Teriel packte die Törichte und sagte: "Ich habe wenigstens dich noch." Die Törichte sah jetzt,



Atlantis Bd_02-237 Flip arpa

daß die Frau eine Teriel war. Die Törichte sagte: "Wenn du mich töten willst, so bedenke wenigstens, daß in meinem Leibe ein Kind ist. Nimm das Kind heraus und ernähre es mit dem Mark aus meinen Beinknochen." Die Teriel hörte es. Die Teriel tötete die Törichte. Sie ließ die Törichte liegen und lief aus dem Hause hinter der Klugen her.

Die Kluge war schon weit weg geflohen. Die Kluge kam an einen Fluß. Der Fluß war über sein Bett getreten und sehr breit. Es gab keinen Übergang. Die Kluge kam an das Ufer des Flusses und sagte: "Du Fluß von Honig (=aseph -thamend)! Laß mich hindurchschreiten!" Der Fluß trat zurück. Das Wasser trat zur Seite. Die Kluge konnte hindurchgehen. Ihre Füße blieben trocken. Das Wasser lief hinter ihr wieder zusammen.

Die Teriel kam an den Fluß. Das Wasser war wieder zusammengelaufen. Die Teriel sah, daß sie nicht über den Fluß kommen konnte. Die Teriel rief über den Fluß hinweg der Klugen zu: "Warte auf mich, meine Kusine! Warte auf mich!" Die Kluge rief zurück: "Ich habe es sehr eilig. Ich kann nicht warten!" Die Teriel rief: "So sage mir wenigstens, wie du über den Fluß gekommen bist." Die Kluge sagte: "Ich habe so viel getrunken, bis der Weg frei war." Die Teriel begann von dem Flußufer zu trinken. Die Teriel trank und trank und trank. Sie sah auf. Sie hatte nur wenig getrunken. Sie trank und trank und trank. Der Fluß wurde ärgerlich und stieg noch höher. Die Teriel sah, daß sie nicht imstande war, den Fluß weiter auszutrinken. Sie hörte auf und ging wieder nach Hause.



***
Die Teriel kam nach Hause. Sie öffnete den Leib der Törichten, wie diese es selbst gesagt hatte. Im Leibe fand sie zwei Kinder. Sie ernährte die Kinder mit dem Mark aus den Knochen ihrer Mutter. Die Kinder wuchsen sehr schnell auf. Die Teriel gewann die Kinder lieb. Die Kinder waren zwei Knaben. Der eine war klug, deshalb nannte sie ihn Uachedich (oder ohathik =klug; ein anderes Wort für klug ist: oaharisch). Der andere war töricht. Sie ,nannte ihn Unguf (unguf =dumm, töricht; gleichbedeutend ist ägun). Ein Jahr nachdem Uachedich und Unguf geboren waren, waren sie schon erwachsen.

Uachedich urd Unguf hüteten die Schafe der Teriel. Sie gingen jeden Tag auf die Weide und hüteten die Schafe. Nachts schliefen Uachedich und Unguf im Hause der Teriel. Eines Nachts wachte



Atlantis Bd_02-238 Flip arpa

Uachedich auf. Er sah die Teriel schlafen. Er hörte aus dem Bauche der Teriel die Stimmen der Esel, Frösche, Löwen und anderer Tiere. Uachedich erschrak und sagte bei sich: "Diese Frau ist nicht unsere Mutter, es ist eine Teriel."

Am andern Tage gingen Uachedich und Unguf mit der Herde auf die Weide. Uachedich ging zurück, um das Essen zu holen. Unguf hütete allein die Schafe. Unguf hatte Lesuk (eine Art Kaugummi aus einen Pflanzensaft; bei den Kabylenjungen sehr beliebt). Unguf kaute den Lesuk. Unguf war müde und schlief ein. Im Schlafe verschluckte Unguf den Lesuk. Unguf wachte auf, er fand seinen Lesuk nicht mehr. Ungut fragte: "Wer hat mir meinen Lesuk weggenommen?" Unguf sah um sich. Unguf sah ein Schaf, das lag wiederkäuend da. Unguf sagte: "Du kaust meinen Lesuk! Du hast meinen Lesuk genommen." Unguf schlug das Schaf tot. Er öffnete seinen Mund. Er fand den Lesuk nicht. Unguf sah sich weiter uni. Er sah ein anderes Schaf, das wiederkäute. Er ging hin, schlug es tot und sagte: "Dies Schaf kaut meinen Lesuk und muß ihn mir gestohlen haben." Er öffnete den Mund des Schafes. Er fand den Lesuk nicht. Unguf sah zu den andern Schafen hin. Unguf wollte sie alle töten.

Uachedich kam wieder. Uachedich sah die getöteten Schafe. Uachedich sagte zu Unguf: "Was hast du gemacht?" Unguf sagte: "Die Schafe haben mir meinen Lesuk gestohlen, als ich eingeschlafen war. Nun habe ich sie gestraft. Ich will alle Schafe, die gestohlen haben, töten, wenn sie mir meinen Lesuk nicht wiedergeben." Der Kluge sagte: "Unguf, wir müssen jetzt klug sein. Diese Frau ist nicht unsere Mutter, ich habe es diese Nacht wahrgenommen. Unsere Mutter würde die toten Schafe verzeihen. Die Teriel wird wegen der toten Schafe zornig werden und uns töten wollen." Unguf sagte: "Was, diese Frau ist eine Teriel? Ich werde zu ihr gehen und werde sie fragen." Uachedich sagte: "Sei zunächst still. Frage nichts, was wir nicht vorher besprochen haben. Wenn du schweigst, bekommst du morgen von mir sehr vielen schönen Lesuk."

Abends trieben Uachedich und Ungut die Herde nach Hause. Unguf trug zwei der getöteten Schafe, Uachedich trug eines der getöteten Schafe. Im Hause versteckten sie die getöteten Schafe. Die Teriel kam und begann die Schafe zu melken. Unguf wollte die Schafe anbinden. Uachedich sagte: "Laß das! Ich will sie unserer Mutter einzeln vorführen und beim Melken halten. Du bekommst nachher von mir auch ein Stück Fleisch." Unguf ging. Uachedich



Atlantis Bd_02-239 Flip arpa

führte nun vor die Teriel ein milchendes Schaf, als sie es fast ausgemolken hatte, führte er es weg und brachte ein zweites, dann ein drittes. Dann wartete die Teriel darauf, daß Uachedich das vierte, fünfte und sechste milchende Schaf bringen würde. Das vierte, fünfte und sechste milchende Schaf hatte aber Unguf getötet. Uachedich brachte deshalb das erste Schaf wieder. Die Teriel molk. Das Schaf gab sehr wenig Milch mehr, weil es schon vorher ausgemolken war. Die Teriel sagte: "Wie kommt es, daß dies Schaf heute so wenig Milch gibt?" Uachedich sagte: "Ich mußte heute das Essen holen. Derweilen hat Unguf gemolken, und du weißt doch, Mutter, daß Unguf sehr ungeschickt ist." Die Teriel sagte: "So ist es. Die Schafe sind sehr schlecht geweidet. Sorge, daß es morgen besser wird."

Als die Schafe gemolken waren, sagte Uachedich zur Teriel: "Mutter, wir haben lange kein Schaf mehr geschlachtet und kein Schaffleisch gegessen!" Die Teriel sagte: "So tötet ein Schaf." Uachedich ging und nahm eines von den Schafen, die Unguf getötet hatte. Er rief Unguf; beide zogen dem Schaf die Haut ab. Die Teriel kochte das Schaf. Sie bereitete ein gutes Essen. Die Teriel setzte das Essen den Brüdern vor. Die Teriel gab Uachedich zwei Stücke Fleisch und Unguf ein Stück Fleisch. Unguf sagte (erregt): "Beim Tragen muß ich zwei schleppen und Uachedich nur eines. Beim Essen bekomme ich nur eines und Uachedich zwei." Uachedich sagte leise zu seinem Bruder: "Sei still, ich gebe dir nachher alles Fleisch." Die Teriel hatte es aber gehört. Sie sagte: "Was gibt es da?" Uachedich sagte: "Es ist nur etwas unter uns Brüdern, meine Mutter." Als die Teriel sich umwandte, gab Uachedich dem Unguf alles Fleisch.

Nach dem Essen saßen sie mit der Teriel beisammen und plauderten. Uachedich sagte zur Teriel: "Meine Mutter, wir, deine Söhne, sind nun schon so groß und du hast uns noch nie deine Schätze gezeigt." Die Teriel sagte: "So komm." Sie führte Uachedich auf den Zwischenboden und öffnete ihre Krüge und die Akufin (=Speicherurnen) und sagte: "Hier ist dies. Hier ist das. Hier ist die Butter; hier ist der Honig; hier ist das Gold." Dann legten sich alle hin, um zu schlafen.



***
Uachedich schlief nicht. Uachedich wachte. Uachedich horchte. Als es Mitternacht war, begannen die Esel, die Frösche, die Löwen und andere Tiere im Bauch der Teriel zu schreien. Uachedich hörte



Atlantis Bd_02-240 Flip arpa

es. Uachedich schrie auch. Das Schreien im Bauche der Teriel hörte nicht auf. Uachedich sagte: "Sie schläft fest." Uachedich rief laut: "Meine Mutter!" Das Schreien im Bauche der Teriel hörte nicht auf, die Teriel antwortete auch nicht. Uachedich sagte: "Sie schläft also fest." Uachedich ging hin und nahm einen Topf mit Butter und einen Topf mit Honig und Datteln.

Uachedich weckte den Bruder und sagte: "Komm, wir wollen schnell fliehen, die Teriel wird uns sonst verschlingen." Unguf sagte: "Laß mich, ich bin müde." Uachedich steckte den Finger in den Honig. Er hielt ihn Unguf hin. Unguf beugte sich vor und begann an dem Finger zu lecken. Uachedich ging langsam rückwärts zur Tür und hielt Unguf immer den Finger mit Honig hin. Unguf leckte an dem Finger und folgte. Als Unguf den Finger abgeleckt hatte, steckte Uachedich den Finger wieder in den Honig, hielt ihn Unguf hin und ging langsam weiter rückwärts zur Tür. Unguf folgte, bis Uachedich an der Tür angelangt war. Er steckte den Finger nochmals in den Honig, ließ ihn Unguf ablecken und ging rückwärts zur Tür hinaus. Unguf leckte und ging hinaus.

Als die beiden Brüder das Haus der Teriel verlassen hatten, sagte Uachedich: "Nun komm, mein Bruder, schließe die Tür und folge mir. Nachher bekommst du dann noch mehr Honig." Uachedich ging weiter. Unguf trat an die Tür, riß sie heraus und nahm sie auf die Schulter. Mit der Tür auf der Schulter folgte Unguf seinem Bruder. Unguf trug die schwere Tür. Nach einiger Zeit machte dies ihn aber müde, und er begann hinter Uachedich zu stöhnen und sagte: "Die Tür wird mir zu schwer. Ich bin müde. Ich kann nicht weiter mitgehen." Uachedich sah sich um und sah, daß Unguf die schwere Türe trug. Uachedich sagte: "Bruder, ich sagte dir, du sollest die Tür zumachen. Ich sagte dir nicht, daß du sie ausreißen und mit dir nehmen sollst. Nun stelle die Tür dort gegen den großen Stein." Uachedich ging weiter.

Unguf legte die Tür auf die Erde bei dem Stein. Dann nahm er den großen Stein auf die Schulter und folgte seinem Bruder. Unguf trug den schweren Stein. Nach einiger Zeit machte ihn dies aber müde, und er begann, hinter Uachedich zu stöhnen und sagte: "Der Stein wird mir zu schwer. Ich kann nicht mehr weitergehen." Uachedich sah sich um und sah, daß Unguf den großen Stein trug. Uachedich sagte: "Bruder, ich sagte dir, du solltest die Tür gegen den Stein legen, ich sagte dir nicht, daß du den Stein mitnehmen solltest. Nun wirf den Stein weg." Uachedich ging weiter.



Atlantis Bd_02-241 Flip arpa

Unguf warf den schweren Stein gegen den hohen Baum. Der hohe Baum stürzte um. Unguf ergriff den hohen Baum und nahm ihn auf die Schulter. Unguf trug den hohen Baum. Nach einiger Zeit machte ihn dies aber müde, und er begann hinter Uachedich zu stöhnen und sagte: "Der Baum wird mir zu schwer. Ich bin müde. Ich kann nicht mehr weitergehen." Uachedich sah sich um und sah, daß Unguf den hohen Baum trug. Uachedich sagte: "Bruder, ich sagte dir, du solltest den Stein bei dem Baum hinwerfen. Ich sagte dir nicht, daß du den Baum mitnehmen solltest. Nun lege den Baum hin, und wenn du durchaus etwas tragen mußt, so nimm mir den Topf voll Honig ab." Unguf legte den Baum hin und nahm den Topf voll Honig. Uachedich ging weiter. Unguf folgte ihm mit dem Topf voll Honig.

Uachedich und Unguf gingen ein gutes Stück. Nach einiger Zeit wurde Uachedich, der am Abend sein Essen Unguf gegeben hatte, hungrig. Er wandte sich um zu Unguf und sagte: "Gib mir etwas Honig ab, denn ich bin nun sehr hungrig." Unguf sagte: "Nein, von dem Honig gebe ich dir nichts. Den Honig habe ich tragen müssen. Deshalb kann ich ihn nachher auch essen. Weshalb hast du den Honig nicht getragen?" Uachedich ging weiter. Unguf folgte ihm. Uachedich wurde immer hungriger. Uachedich wandte sich wieder zu Unguf um und sagte: "Mein Bruder, ich bin nun so hungrig, daß ich bald hinfallen und sterben werde, wenn du mir nicht etwas von dem Honig abgibst. Ich bitte dich, gib mir von dem Honig!" Unguf sagte: "Dann will ich dir etwas geben." Unguf gab Uachedich etwas von dem Honig.

Nach einiger Zeit kamen sie an einen Kreuzweg. Beide Wege führten von verschiedenen Seiten in einen großen Ort. Uachedich sagte zu Unguf: "Hier wollen wir uns trennen. Wir wollen in das Dorf dort gehen und Arbeit suchen. Wenn wir zu zweit kommen, wird es schwerer sein, Arbeit zu finden, als wenn jeder allein geht. Du bist stark und wirst leicht Arbeit finden. Ich gebe dir nur noch einen Rat. Verkehre nie mit Leuten mit blauen Augen. (Solche Leute heißen: Sing.: athermak; Plural: ithermaken; sie gelten bei den Kabylen als Leute, die dem Elend geweiht sind, als Menschen ohne Zukunft, als Menschen, die keinen Erfolg und statt dessen einen abwärtsführenden Lebensweg haben, etwa im amerikanischen Sinne des irish way.) Uachedich und Unguf trennten sich. Jeder ging seinen Weg.



Atlantis Bd_02-242 Flip arpa



***
Unguf traf nach einiger Zeit einen Mann mit blauen Augen. Der Mann sagte: "Wo gehst du hin?" Ungut sagte: "Ich will arbeiten." Der Mann sagte: "Willst du bei mir arbeiten?"Unguf dachte an den Rat seines Bruders und sagte: "Nein, bei Menschen mit blauen Augen arbeite ich nicht." Unguf ging weiter. Der Mann mit den blauen Augen ging vom Wege weg, schnitt den Weg ab und trat nach einiger Zeit wieder Unguf entgegen. Der Mann sagte: "Wo gehst du hin?" Unguf sagte: "Ich will arbeiten." Der Mann sagte: "Willst du bei mir arbeiten?" Unguf dachte an den Rat seines Bruders und sagte: "Nein, bei Menschen mit blauen Augen arbeite ich nicht." Unguf ging weiter. Der Mann mit den blauen Augen ging vom Wege weg, schnitt den Weg ab, traf ihn wieder und sagte: "Wo gehst du hin?" Unguf sagte: "Ich will arbeiten." Der Mann sagte: "Willst du bei mir arbeiten?" Ungut sagte: "Mein Bruder hat mir gesagt, ich soll nicht mit Menschen, die blaue Augen haben, verkehren. In diesem Dorfe scheinen aber nur Leute mit blauen Augen zu wohnen. Sage mir also, welchen Dienst du für mich hast."

Der Mann mit den blauen Augen sagte: "Es ist ein ganz leichter Dienst. Du brauchst tagsüber nur die Schafe zu hüten. Dabei hast du nichts weiter zu tun, als meine alte Mutter auf der Schulter zu tragen, und abends, indem du die Herde heimtreibst und meine alte Mutter heimträgst, für meine Kinder einige kleine Vögel zu fangen. Das ist alles." Ungut sagte: "Das will ich machen." Unguf ging mit dem Mann mit den blauen Augen in das Dorf. Von nun an nahm er jeden Morgen die alte Mutter des Mannes mit den blauen Augen auf die Schulter, trieb die Herde des Mannes auf die Weide und fing abends bei der Heimkehr für die Kinder des Mannes kleine Vögel. Die alte Mutter des Mannes mit den blauen Augen trug er aber stets vom Morgen bis zum Abend auf dem Rücken.

Uachedich hatte im gleichen Dorfe Dienst genommen und trieb die Herde seines Herrn auf die Weide. Eines Tages weidete Uachedich seine Herde neben Ungut auf einer Ebene. Beide erkannten sich nicht. Als es aber Abend war, begann Unguf mit der alten Mutter des Mannes mit den blauen Augen auf dem Rücken für die Kinder des Mannes kleine Vögel zu fangen. Dabei konnte er seine Schafe nicht so beaufsichtigen. Seine Herde lief in die Herde Uachedichs. Uachedich sah das und rief: "Ho! Achte auf deine Herde. Soll ich nachher die Schafe wieder auseinanderlesen?" Unguf hörte nicht darauf, sondern rannte den jungen Vögeln nach.



Atlantis Bd_02-243 Flip arpa

Uachedich ward böse. Uachedich lief auf Unguf zu und schlug ihn, so daß er mit der alten Mutter des Mannes mit den blauen Augen auf dem Rücken hinfiel. Unguf rief: "Du schlägst mich! Warte, ich werde es meinem Bruder Uachedich sagen. Der wird dich wiederschlagen." Uachedich sagte: "Was, du bist es, mein Bruder Unguf? Nun steh nur auf! Das wußte ich nicht. Was trägst du denn da auf der Schulter?" Unguf sagte: "Das ist mein Dienst. Ich habe nur tagsüber die Schafe zu hüten. Dabei habe ich nichts weiter zu tun, als die alte Mutter meines Herrn auf der Schulter zu tragen und abends, indem ich die Herde heimtreibe und die alte Mutter trage, für die Kinder meines Herrn einige kleine Vögel zu fangen. Das ist mein ganzer Dienst. Eben war ich dabei, die kleinen Vögel zu fangen. Dabei kamen unsere Herden durcheinander und du schlugst mich."

Uachedich sagte: "Das ist also dein ganzer Dienst?" Uachedich wandte sich an die Mutter des Mannes mit den blauen Augen und sagte: "Steh auf!" Die Mutter stand auf. Uachedich sagte: "Geh einmal ein Stück." Die Mutter ging ein Stück. Als Uachedich sah, daß es eine starke Frau war, nahm er sie und schlug sie und sagte: "Wie kannst du meinen Bruder so quälen?! So, nun trage du zur Strafe einmal meinen Bruder, bis ich die kleinen Vögel gesammelt habe." Die alte Mutter mußte Unguf auf die Schulter nehmen und tragen. Währenddessen ging Uachedich umher und sammelte den Sack voller Skorpione (= thärädemth). Nachdem er den Sack gefüllt hatte, kam er zurück zu seinem Bruder.

Uachedich hieß die Alte seinen Bruder zu Boden setzen und sagte zu Unguf: "Nun treibe du an meiner Stelle meine Herde nach Hause. Folge nur immer dem ersten Widder, er kennt den Weg ganz genau und geht nicht fehl." Dann sagte Uachedich zu der alten Mutter des Mannes mit den blauen Augen: "Steige auf meinen Rücken und laß dich von mir auf den Schultern tragen. Zeige mir den Weg. Wenn du deinem Sohne oder sonst jemand ein Wort von dem sagst, was hier vorgefallen ist, töte ich dich auf der Stelle." Uachedich nahm die alte Mutter des Mannes mit den blauen Augen auf die Schulter, den Sack mit den Skorpionen in die Hand und trieb die Herde nach Hause.

Uachedich gab im Hause den Beutel mit den Skorpionen ab und sagte: "Hier sind die jungen Vögel. Alle wollten die jungen Vögel sehen. Alle fuhren mit ihren Händen in den Sack. Alle wurden von den Skorpionen gebissen. Der Mann mit den blauen Augen sagte:



Atlantis Bd_02-244 Flip arpa

"Was hast du da gebracht?" Uachedich sagte: "Ich habe junge Vögel gebracht." Der Mann mit den blauen Augen sagte: "Du Narr, das sind keine jungen Vögel; das sind Skorpione." Uachedich sagte: "Ich dachte, es wären junge Vögel."

Uachedich setzte die alte Mutter des Mannes mit den blauen Augen ab. Die alte Mutter ging mit dem Sohne zur Seite und erzählte ihm alles, was sich ereignet hatte. Der Mann mit den blauen Augen sagte: "Dann werde ich diesen Mann töten." Uachedich hörte das.

Als es Nacht war, legten sie sich nieder zum Schlafen. Ungufs Platz war neben dem Brunnenschacht, der der alten Mutter des Mannes mit den blauen Augen ein wenig weiter weg. Als es Mitternacht war, stand Uachedich auf. Uachedich hörte, daß die alte Mutter schlief. Die alte Mutter schlief fest. Darauf nahm er sie und trug sie vorsichtig an seinen Platz. Er legte sich selbst an den Platz der alten Mutter des Mannes mit den blauen Augen.

Als Mitternacht vorbei war, stand der Mann mit den blauen Augen auf. Er ging vorsichtig zu der Schlafstelle Ungufs am Brunnenschacht. Er fand jemand am Brunnenschacht. Er meinte, es sei Uachedich. Er gab dem Schlafenden einen Stoß. Der Schlafende fiel, schrie und schlug: plumps, im Wasser auf. Er ertrank. Der Mann mit den blauen Augen rief: "Ich habe den starken Schafhirten getötet." Die andern erwachten und schrien: "Der starke Schafhirt ist getötet." Uachedich sagte: "Nein, ich lebe, Ihr habt nur Eure alte Mutter getötet. Sie hat es verdient, denn ich hatte ihr vorher gesagt, daß sie getötet werden würde, wenn sie nicht schwiege. Da Ihr mich aber töten wolltet, werde ich nun dafür Eure Schafe mit mir nehmen." Damit machte er die Türe auf, trieb die Schafe heraus, trieb sie an dem Hause, in dem sein Bruder schlief, vorbei, weckte und rief seinen Bruder und zog mit ihm und der Schafherde weiter.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt