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Kapitel 

Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Das Hardermannli

Vom Städtchen Unterseen weg bis wett hinaus über Ringgenberg zieht sich ein mächtiger Gebirgsstock den blauen Fluten des Brienzersees entlang. Es ist der Harder. Er ist über und über mit Wald bedeckt. Einzig auf der gegen Interlaken zugekehrten Seite befindet sich eine kahle Felswand, die aus dem schwarzen Nahmen der Tannen und Arven wie eine Gedenktafel hervortritt.

Auf dieser Tafel nun entdeckt der Beobachter, wenn er genau hinsieht, ein aus Vorsprüngen geformtes Menschengesicht, das se nach dem Standort, den er wählt, einen verschiedenartigen Ausdruck annimmt. Von unterseen aus betrachtet, erscheint das Antlitz finster und traurig; vom Kloster Interlaken aus gesehen, schaut es dagegen mit höhnischem Lächeln nieder auf den frühern Wohnsitz der Mönche.

Dieses Menschengesicht heißt das Hardermannli. Wie es entstanden, erzählt uns die folgende Sage.

Seit alten Zeiten war das Kloster Interlaken eine Stätte des Segens für die ganze Umgegend. Ein feder, der Nat oder Trost suchte, ging hin zu den guten Mönchen und war sicher, bei ihnen zu finden, was er bedurfte.

Das änderte sich, als einst dem Kloster aus Rom ein neuer Vorsteher gesandt ward. Er hieß Leonhardus, wurde aber von den Leuten kurzweg der Harder genannt. Der sah nun nicht gerade wie ein Mönch aus. Er war derb und breitschultrig gewachsen und von gewaltiger Körperkraft. Auf dem dicken Halse saß ein Raubvogelkopf mit zwei grauen Augen, die aus tiefen Höhlen lauernd hervorblickten, mit langer Hakennase und schwülstigen Lippen, um die ab und zu ein böses Lächeln zuckte. Und wie das Aeußere eines Menschen nur das Spiegelbild seines Innern ist, also konnte auch das Denken und Sinnen dieses Mannes nicht von rechter Art sein.

Seitdem der Harder seine Stelle im Kloster angetreten, durfte den Armen kein Almosen mehr verabreicht werden und kein Mönch das Haus verlassen, den Kranken Hilfe zu bringen. Mit Strenge



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wurden die Zinse eingefordert, und der geizige Mann sann nur darauf, den Leuten immer neue Abgaben aufzubürden. Um so mehr wurde jetzt im Kloster gebetet und gesungen, und morgens und abends donnerte der geistliche Herr seine Strafpredigten in die Ohren der erschrockenen Gottesleute.

Indessen raunte man sich bald allerhand Geschichten zu. Der hohe Herr, hieß es, verstehe es sehr wohl, den Leuten ihre Sünden vorzuhalten er selber aber führe nichts weniger als ein frommes Leben und tue im geheimen Dinge, die er vor Gott und den Menschen niemals verantworten könne. Und dem war auch wirklich also. Wer aber hätte es gewagt, dem Gewaltigen seine Fehler zu rügen ?

Nun wohnte zu jener Zeit in Ringgenberg ein Fischer mit seiner Frau und einem Töchterlein von achtzehn Jahren. Das war ein liebliches Menschenkind, schön wie eine Blume im Mai und voll frohen Sinns, und war also der Stolz von Vater und Mutter.

Ach, ihr Glück sollte nur von kurzer Dauer sein!

Wie die andern Mägdlein des Dorfes, also besuchte auch das Fischerliseli, wie es genannt ward, ab und zu die Messe Kloster zu Interlaken. Und wenn der Harder anfänglich auch ihr gegenüber sein strenges Gesicht zur Schau trug, so wurde er nach und nach freundlicher, erkundigte sich liebevoll nach dem Befinden von Vater und Mutter, erzählte ihr vom schönen Italien, von Roms Kirchen und Palästen, vom ewig blauen Himmel des Südens, von Blumen und goldnen Früchten. Mit jeder Woche mehr schmeichelte er sich in das Herz des schönen Mägdleins ein, das ihm am Ende völlig vertraute und ihn wie einen zweiten Vater verehrte.

Das änderte sich aber, als der geistliche Herr von Dingen zu sprechen anhub, die den reinen Sinn des Kindes verletzten. Das Vertrauen schwand, sie besuchte die Messe seltener und ging zuletzt gar nicht mehr hin. Sie verlor auch über all dem ihr fröhlich Wesen, ward still und verschlossen, und die guten Eltern zerbrachen sich umsonst den Kopf, wie denn das gekommen.

Als der Harder merkte, wie das Mägdlein seinen Händen entglitt,



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geriet er darüber in Wut. Er gebot einem Mönch, das Kind zu Hause zu beobachten und zu sehen, was es treibe. Und als ihm der Mönch einmal berichtete, es sammle in diesen Tagen Holz hoch oben am Berg, da stellte ihm der höfe Mann nach, tat als ob er lustwandelte, und stieß auch wirklich im Walde droben auf die ahnungslose



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Holzsammlerin. Beim Anblick des wüsten Gesellen, der jetzt gleich einem wilden Tier auf das Mägdlein zugerannt kam, sprang dieses in seiner Herzensangst den Waldweg hinunter und, ohne mehr zu wissen, was es tat, hinaus über eine steile Wand, an deren Fuß es zerschmettert liegenblieb.

Einen Augenblick blieb der Verfolger stehen, mit höhnischem Lächeln den Hang hinabschauend. Da löste sich plötzlich aus der Wand ein Hagel von Steinen und Blöcken und fuhr donnernd nieder. Und als sich der Staub verzogen, da war der Mann selber wie vom Erdboden gefegt, sein höhnisches Gesicht aber mit seiner Habichtnase in Stein verwandelt und verflucht, von nun an Jahrhunderte und Jahrtausende auf die Stelle seiner Verbrechen niederzuschauen.

Von der Zeit an nannten die Leute den Höhenzug den Harder und das steinerne Wandbild das Hardermannli.

In dem Gebirgsstock aber waltet der finstre Geist des Mönches weiter bis auf den heutigen Tag. Fast jedes Jahr geschieht es, daß sich dort oben irgendein Unfall ereignet, oder daß ein blühendes Menschenkind , das am Morgen noch voll Lebensfreude die waldigen Hänge hinanstieg, am Abend als Leiche zu Tal getragen wird.


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