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Kapitel 

Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Die weiße Gemse

Im Frutigtal lebte vor langen Jahren ein Gemsjäger, der Nieggi genannt. Dem ging die Jagd über alles. Tage- und wochenlang streifte er im Gebirg umher, und selbst am Sonntag frönte er seiner Lust. Kein Berg war ihm zu hoch, kein Grat zu steil. Mochte das Wetter noch so stürmisch sein, mochten Nacht und Nebel ihn inmitten himmelhoher Felswände überraschen, er trotzte allen Gefahren, und wo der Mann je eine Gemse wußte, da ruhte er nicht, bis sie erlegt war. Dabei schonte er auch nicht die Gemsgeiß, also daß ihre Jungen elend verhungern mußten. Eindringlich dat ihn seine Mutter, es doch nicht so arg zu treiben; die Leute warnten. Umsonst. Nieggi schlug ihre Ratschläge in den Wind und jagte wie und wann er wollte.

Schon hatte er neunundneunzig Gemsen erlegt.

"Gib jetzt acht", sagte ein alter Freund zu ihm. Die hundertste, die dir begegnet, wird ein weißes Tier sein, und wehe, wenn du es töten solltest.

"Und mag sie zehnmal weiß sein ", lachte der Sager, "so werd ich doch nicht rasten, bis auch diese zur Strecke gebracht ist.

Nicht lange danach ging der Nieggi auf die Jagd. Sein Weg führte ihn diesmal hinauf ins Gsür — dem mächtigen Gebirgsstock zwischen St. Stephan und Adelboden, der zu jener Zeit als geheiligter Zufluchtsort der Tiere galt, wo diese nicht verfolgt werden durften. Dem Rieggi aber war kein Berg heilig.

Wie nun der Jäger hoch in den Felsen ein bißchen ausruhte, gewahrte er plötzlich einen gewaltigen Gemsbock, der auf einem Fluhband friedlich äste. Doch war der Bock nicht braun wie ein gewöhnlich Tier, er war schneeweiß, also wie es ihm sein alter Freund geweissagt hatte.

Einen Augenblick stutte der Mann. Dann aber sprang er auf, schlich auf Seitenpfaden an das Fluhband heran, duckte sich nieder und feuerte. Wie ein Donnerschlag hallte der Schuß durch die Berge. Als sich aber der Rauch verzogen, da sah er, wie das Tier in ungeftümen



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Sätzen davonsprang, den weiß glänzenden Kopf mit dem starken Gehörn hoch in der Luft.

Betroffen blickte ihm der Sager nach.

"Wie sonderbar ", murmelte er. "Ich hatte ihn doch scharf aufs Korn gefaßt und hätte meinen Kopf geweitet, er würde fallen. Was tuis! Noch ist nichts verloren, und ein zweites Mal werde ich ihn sicher nicht verfehlen.

Er hing sein Gewehr um und folgte hastig den Spuren des flüchtigen Wildes, die ihn höher und höher führten — hoch über die Alpenrosen, wo auf Fluhbändern nur mehr das Edelweiß sein einsam Dasein fristet. Ab und zu kam ihm das Grattier wieder zu Gesicht, doch immer nur für Augenblicke. ES sauste etwa über eine Felsenkante, in zwanzig Fuß langen Sätzen, kaum daß die Läufer den Boden berührten, den weißen Kopf in unbändigem Stolz in die Höhe geworfen. Dann riß der Jäger seine Waffe an die Wange. Zum Schusse aber kam er nicht, denn windschnell war das herrliche Tier verschwunden.

Und immer wilder ward die Gegend, zerrissener das Gestein. Den Nieggi aber schreckte das nicht. Rastlos ragelte *) er weiter den Felsbändern entlang, die Steilhänge hinan, wie besessen vom bösen Geist, der ihm zuflüsterte, der seltene Vock müsse ihm werden um jeden Preis.

Er sollte es nicht. Denn auf einmal — was war das ? Der Rieggi konnte nicht mehr weiter, nicht einen Schritt. Das Felsband, dem er entlang geklettert, brach jählings vor ihm ab. Da versuchte er, den Weg zurückzugehen. Unmöglich, kaum daß es ihm gelang, auf dem fußbreiten Gesimse sich ein wenig zu drehen und seinen Rücken an die Wand zu stemmen. Unter seinen Füssen schoß die Wand senkrecht nieder , und in der Tiefe dämmerten die grünen Gletscher.

Dem Sager graute. Eine Weile noch mühte er sich ab, einen neuen Griff, einen neuen Halt zu erlangen, um sich seiner Lage zu



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entwinden. Umsonst. Da schrie er stundenlang um Hilfe. Doch ward ihm keine Antwort als seine eigne Stimme, die kalt und fast tonlos von den Wänden zurückhallte.

Mählich erlahmten seine Kräfte. Seine Hände, mit denen er sich bisher links und rechts an den Felsen geklammert, fielen ab, seine Beine zitterten. Und plötzlich war ihm, als fingen die Bergspitzen



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ringsherum zu laufen an, schnell und immer schneller, und er hörte über sich die Stimme des Berggeistes:

"Warum verfolgtest du meine Gemsen, die mich mit Milch und Käse versorgen ? Nimm setzt den Hut vor deinen Kopf, Nieggi, auf daß du nicht siehst, wie tief du fallen wirst!

Da ward ihm dunkel vor den Augen. Er breitete seine Arme aus und fiel lautlos in die Tiefe.

Die ungangbare Stelle aber, wohin sich der verwegene Gemsjäger einst verstiegen, nennen die Bergleute noch heute den Rieggis Pfad.


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