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Kapitel 

Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Das Alphorn

Wenn der Wandrer Meiringen verläßt, um über die Große Scheidegg nach Grindelwald zu gehen, bieten sich seinem Auge zwei schöne Alpweiden dar: zu seiner Rechten die Kaltbrunnenalp, zu seiner Linken die Reichenbachalp.

Vor langen Jahren hütete auf der Kaltbrunnenalp ein junger Hirte seine Kühe.

Er war von schöner Gestalt, blonde Locken umrahmten sein Gesicht, und träumerisch blickten die Augen. Singen und jauchzen wie die andern Sennen tat der Hirte nicht. Dafür vertrieb er sich seine einsamen Stunden damit, aus dem feinen Holz der Rottanne Schalmeien *) zu verfertigen, auf denen der seltsame Mensch lieblich zu spielen verstand.

Eines Tages nun, wie er an einer neuen Schalmei bastelte, siehe, da ward aus dem begonnenen Werk ein mächtig langes Nohr, das gegen das eine Ende hin sich mehr und mehr erweiterte. Und wie der Hirte setzt hineinblies, entquollen dem Rohre eigen dumpfe Töne, die sich in die Ferne fortpflanzten und dann von allen Flühen hallend wiederkehrten.

Das war das erste Alphorn.

Es liebte aber der Hirt ein Mägdlein, das drüben auf der Reichenbachalp seine Herde hütete. Er lehrte sie auf seiner neuen Schalmei ein paar Lieder, schenkte ihr das Horn und baute für sich ein neues.

Setzt begann zwischen den beiden ein eigenartiges Liebesspiel.

Frühmorgens, wenn die Firnen sich zu röten begannen, trieb der Hirte seine Kühe auf die Weide, setzte sich ins Gras oder lehnte feinen Rücken gegen einen Felsen und hub zu blasen an. Dann erschien auf der Alp gegenüber das Mägdlein und gab auf ihrem Horne Antwort, wie er es sie gelehrt hatte.



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Sie bliesen bald eins nach dem andern, in anmutigem Wechsel; dann wieder vereinigten sich die Klänge zur zweistimmigen Weise. Sie neckten einander in heitrem Spiel und Gegenspiel; waren aber ihre Herzen bekümmert, erklangen die Töne schwer und lang und hallten auch wie klagend von den Wänden zurück.

So unterhielten sich die Liebenden manche Stunde, ihre Herzen verbanden sich noch inniger, und im Herbst, ehe sie zu Tale zogen, ein jegliches nach einer andern Talseite, gelobten sich die beiden, einander übers Jahr ganz anzugehören.

Der Frühling kam ins Land gezogen. Unter dem warmen Strahl der Sonne buben Gras und Blumen zu sprießen an. Da verließ der Hirte das Tal, stieg mit feinen Kühen auf die Alp und blies voll freudigen Erwartens den Lenzesgruß zur Weide der Liebsten hinüber.

Doch keine Antwort erfolgte, wie verlassen lag die Weide. Da blies er wieder und dann ein drittes Mal. Und immer lauter, immer stürmischer erklangen feine Töne.

Wie er nun gespannt hinüberhorchte, da war dem Hirten, als vernehme er eine Stimme, die sich mühsam einem Alphorn entringe, und deutlich unterschied jetzt der Lauschende die wehmütig gesprochnen Worte:

Im Frithof han myn Platz ich g'non,
O möchtist bald doch zu mir chan! "

Da ließ der Hirte, zu Tode betrübt, fein Horn auf den Nasen niedergleiten und wankte feiner Hütte zu.

Gegen Abend kam ein Senne des jenseitigen Tales auf die Weide gestiegen und bestätigte dem Unglücklichen, was ihm das Alphorn der Toten am Morgen geklagt.

Jetzt ergriff der Hirte in wildem Schmerze sein Horn und zerschmetterte es an einem Felsen. In jener Nacht aber verließ er seine Herde und stieg in die Berge hinauf. Niemand hat ihn wieder gesehen.



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Noch lange Zeit nachher, wenn der Frühling über Berg und Tal wanderte und die frohen Sennen ihre Herden wieder auf die Weide getrieben, hörte man fast jeden Morgen auf den beiden Alpen die Töne zweier Hörner, die sich in lieblicher Zwiesprache Red und Antwort gaben. Später aber verstummten sie, und nur ab und zu, also berichtet die Sage, hätten die Leute von den Flühen her ein Weinen und Schluchzen vernommen.


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