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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Schillingsdorf

Im Tale der schwarzen Lütschine, dort wo sich heute das Dörfchen Burglauenen befindet, stand vor langer Zeit ein Ort namens Schillingsdorf.

Viele Jahre lebten die Schillingsdorfer schlecht und recht dahin, bebauten den Acker, weideten das Vieh und waren dabei glücklich und zufrieden. Da entdeckten sie eines Tages eine Schwefelquelle, die in ihrer Nähe der Tiefe des Berges entströmte. Das Wasser enthielt heilende Kräfte, und nun kamen reiche Leute von allen Seiten hergereist, das Wasser zu gebrauchen und wieder gesund zu werden. Durch diesen Zustrom fremder Gäste wurden die Schillingsdorfer mit der Zeit recht wohlhabend. Je besser es ihnen indessen erging, desto mehr verhärteten sich ihre Herzen. Sie wurden hochmütig, ließen es sich wohl sein und wiesen mitleidslos den Armen von der Tür, der um eine Gabe anklopfte. Da ward ihrem Treiben mit einemmal ein Ende gemacht.

Es war an einem schwülen Sommerabend, als über dem Tal ein Gewitter heraufzog.

Am schwarzen Himmel begann es zu wetterleuchten. In gelbem Feuer zuckten die Blitze, erst leis, dann laut und drohend murrte der Donner nach. Bald folgten sich in saher Schnelle Strahl und Schlag, in blendender Lohe flammten die Wolken, es rollten und grollten die Berge. Dann öffneten sich plötzlich die Schleusen des Himmels, und in Strömen prasselte der Regen hernieder. Im Augenblick verwandelte sich die Lütschine in ein Wildwasser, brauste schäumend daher mit hochgetürmten Wellen, sprang hier und dort gar über die Ufer und fuhr haltlos über Weg und Steg. Solch ein Unwetter hatten die Schillingsdorfer noch nie erlebt. Erschrocken trieben sie ihr Vieh in die Ställe und schlossen in aller Eile Tür und Fenster ihrer Häuser, um sich, so gut es ging, vor dem Sturme zu schützen. Auch war es auf einmal recht dunkel geworden, fast wie in der Nacht.

Da stieg ein Zwerglein von den Bergen hernieder und eilte dem



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Dorfe zu. Es war pudelnaß, und aus dem langen Barte floß der Negen wie aus einer Dachtraufe. Dennoch guckte das Männchen recht freundlich unter seiner Zipfelmütze hervor. Gleich beim ersten Hause hielt es an, schüttelte das Wasser aus Rock und Kappe und klopfte mit seinem Stecken bescheiden an die Tür.

Eine Frau schaute zum Fenster heraus und fragte barsch, was es denn bei diesem Wetter in Schillingsdorf zu tun hätte.

"Hab mich verlaufen ", antwortete das Männchen bescheiden, ,und möcht euch um ein Obdach bitten, bis das Unwetter vorüber ist. Die Frau aber fuhr ihn an:

"Scher dich nur fort. Haben keinen Platz für solch ein Gesindel wie Ihr seid.

Und klirrend flog das Fenster zu.



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Das Zwerglein sagte kein Wort und trippelte weiter zum zweiten Hause. Doch auch hier wiesen es die Leute ab. Ebenso erging es ihm beim dritten, beim vierten und allen andern: überall bekam der Kleine nichts als Scheltworte zu hören, und bei einem Hause gar trieb es ein Mann mit Schlägen fort.

Unten am Ende des Dorfes stand ein ärmliches Häuschen. Anfangs wollte das Zwerglein gar nicht anklopfen und gleich weitergehn, weil es meinte, die Leute da drinnen wären nicht imstande, selbst wenn sie es wollten, ihm ein ordentlich Nachtlager anzubieten. Nach einigem Besinnen aber pochte es dennoch an die Tür.

Ein altes Mütterlein trippelte heraus. Das hieß das Männchen freundlich eintreten und führte es in die Stube. Hier saß der Mann der guten Frau, und der hieß das nasse Kerlchen gleichfalls herzlich willkommen. Das Mütterchen gab ihm ein trockenes Gewand — es war das Kleidchen ihres längst verstorbenen Bübleins — sein nasses aber hing sie an den Ofen zum Trocknen. Dann stellte die Frau Brot und Milch auf den Tisch und machte ihm einen warmen Laubfack zurecht . Das Zwerglein ass und trank, dann aber sprang es plötzlich auf, sagte ein Vergeltsgott, öffnete die Tür und verschwand.

Iesi eilte das Männchen durch die grausige Nacht den Weg durch das Dorf zurück und rief bald hier, bald dort mit durchdringender Stimme:

"Die Burg ) ist gespalten,
Sie wird nimmer halten.
Schillingsdorf muß untergehn!

Die Schillingsdorfer hörten die Worte wohl, doch glaubten sie ihnen nicht. Droben in der Burg aber wurde es setzt mit einem Male lebendig wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Hunderte von Bergmännchen schlüpften aus Höhlen und Klüften hervor, krabbelten auf das Felsenhorn, das die Burg krönte, und begannen hier mit rasender Hast zu pickeln und zu hämmern, daß die Funken sprühten.



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Auf einmal ging ein Donnern und Krachen durch die sturmbewegte Luft, die Erde erbebte, und gellend widerhallten die Flühe. Der Felszahn hoch oben hatte sich gelöst und fuhr jetzt unter dem Jauchzen der Bergmännchen durch Nacht und Graus als Steinlawine zu Tal — voran mit polternden Sätzen hausgroße Felsblöcke, hinter ihnen her ein reißender Strom von Geröll und Schutt, der Schillingsdorf und seine Bewohner im Augenblick unter sich begrub.

Als der Morgen dämmerte, war der Sturm vorüber, und heller Sonnenschein leuchtete über den Bergen. An der Stelle aber, wo am vorigen Tage noch ein blühendes Dorf gestanden, lagerte setzt ein ödes Schutt- und Schlammfeld. Daraus ragte hier und dort der Kopf eines Felsblockes, und am obern Nande staute sich die Lütschine zu einem kleinen See. Häuser und Menschen, Ställe und Vieh: alles war verschwunden. Ein einziges Häuschen nur stand noch unversehrt: es war das der beiden Leutchen, die den kleinen Fremdling am Abend vorher so gastfreundlich aufgenommen. Das dankbare Zwerglein hatte sich nämlich gleich bei Beginn des Felssturzes auf einen gewaltigen Block gesetzt und diesen in der Weise hinter das Häuschen geleitet, daß die nachstürzenden Massen links und rechts niederglitten und also dem Hüttchen nichts antun konnten.

Seither ist Schillingsdorf vergessen. Auf seinen Trümmern aber entstand später das Dörfchen Burglauenen, das mit seinem Namen noch heute an den Untergang des frühern Ortes erinnert.


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