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Kapitel 

Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Die vornehme Mailänderin

Auf einer Alp in der Nähe der Grimsel, dort wo die Berge des Bernerlandes und des Wallis sich scheiden, hütete vor Zeiten ein junger Senne seine Herde.

Eines Tages bemerkte er, daß ihm ein Rind fehlte. Als guter Hirte machte er sich sogleich auf, es zu suchen, verirrte sich aber dabei mehr und mehr und geriet endlich in eine wilde Gegend, wo nur Fels und Gletscher zu sehen waren. Darüber hing ein trüber Himmel, und es dauerte auch nicht lange, da hub es gelinde zu regnen an.

Wie er nun weiterschritt, mit scharfen Augen überall nach seinem verlornen Rinde spähend, gewahrte er nicht gar weit vor sich eine Gestalt, die langsam dem Gletscher zu wandelte. Es war eine Frau, das sah er gleich. Was aber hatte die in dieser weltverlassnen Gegend zu schaffen ?

Der Senne beschleunigte seine Schritte, und wie er jetzt der Gestalt nahe kam, befiel ihn fast ein Gefühl von Scheu und Furcht. Das war keine jener einfachen Frauen aus den Bergen, wie er sie zu sehen pflegte, das war vielmehr eine vornehme Dame, die Gott weiß woher kommen mochte.

Sie schritt barhäuptig und barfuß dahin. schwarzen Locken fiel das Haar weit über ihre Schultern hernieder. Um den schneeweißen Hals trug sie eine goldene Kette, die mit roten Edelsteinen verziert war, und ihren schlanken Leib umspannte ein kostbarer Gürtel. An den Armen glänzten goldene Reifen, und wie Tautropfen in der Gonne, also blitzten die Diamanten an ihren schmalen Fingern. Mit der einen Hand zog die Dame sorglich das seidene Kleid ein wenig in die Höhe, um besser gehen zu können; in der andern hielt sie einen langen Reisestock. Das edle Gesicht war blaß. An den großen Augen schimmerten Tränen, die feinen Lippen schienen zu beten. Die zarten Füße aber, die vor Kälte und Nässe gerötet waren, mieden sorgsam jeden spitzen Stein, um sich nicht daran zu verletzen.

Ein Weilchen schritt der Senne bald hinter, bald neben der feltsamen



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Erscheinung her, immer hoffend, sie werde sich ihm zuwenden. Als dies nicht geschah, faßte er sich ein Herz, legte seine Hand auf ihre Schulter und redete sie an.

"So saget mir doch, liebe Frau ", sprach er endlich, "was suchet Ihr denn in dieser wilden Gegend und bei solchem Wetter ? Ihr habt wohl eure Leute verloren und euch verirrt, oder nicht ? Wo aber sind sie ? Sprecht! Ich werde euch zu ihnen zurückbegleiten.

Die Frau war stehengeblieben. Als sie die Worte des Hirten hörte, glitt ein müdes Lächeln über ihr bleiches Gesicht, sie öffnete den Mund und sprach mit leiser Stimme:

"Mein guter Junge, mach dir meinetwegen keine Sorgen. habe mich nicht verirrt und habe auch keine Leute, die mich erwarten. Höre mich an. Ich war das einzige Kind meiner Eltern und wohnte mit ihnen in einem glänzenden Palaste in Mailand. Vor zwei Tagen bin ich gestorben, und mein Leib liegt setzt noch zu Hause auf dem Totenbette, das Vater und Mutter mit ihren Tränen benetzen. Nun hat Gott die Seele von meinem Leibe gelöst und mich verurteilt, hier auf diesem Gletscher zu büßen. Bei meinen Lebzeiten bin ich nämlich ein gar verzärtelt Kind gewesen. trat nur selten auf die bloße Erde, ich fuhr immer in der Kutsche. Nie fiel ein Tropfen Negen auf mein Haupt, ich wich jedem kalten Lüftchen aus und verließ im Winter das Haus überhaupt nicht, um mich sa nicht zu erkälten. Ich tat alles, was mir beliebte, doch durfte es nicht etwas sein, das mir Mühe machte. Zur Strafe dafür muß ich jetzt, wie du siehst, in dieser Wildnis barfuß gehen, muß mich dem Negen und der Kälte aussetzen und über Fels und Gletscher wandern bei Tag und bei Nacht.

Kaum hatte die Frau diese Worte gesprochen, fuhr ein dichter, fast schwarzer Redel daher und hüllte die beiden ein. Als sich aber nach einem Augenblicke der Nebel verzogen, war die anmutige Gestalt wie vom Erdboden verschwunden.

Nun dachte der junge Hirte, Gott habe ihm wohl die Frau erscheinen lassen, auf daß er sie erlöse. Also hub er denn nach ihr zu rufen an, rief laut und immer lauter und ging auch gar über den



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Gletscher und blickte in die Spalten hinab. Doch die schöne Mailänderin ließ sich für heute nicht mehr sehen, und traurig kehrte er in seine Hütte zurück.

Von da an zog es den Hirten noch manches Mal hin in sene wilde Gegend, besonders dann, wenn Wind und Negen ihn an die seltsame Stunde gemahnten. Die herrliche Gestalt wollte ihm nicht mehr aus dem Sinn und er meinte, sie müsse ihm noch einmal erscheinen. Umsonst. Schwermütig rauschte der Bach, durch die Gletscherspalten ging ein Knirschen und Krachen, seltsame Nebelgestalten tauchten auf und verschwanden — die verwunschene Frau hat er nie wieder gesehen.


Copyright: arpa, 2015.

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