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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


28. Die sieben Schwestern

Ein Mann hatte sieben Töchter, von denen die jüngste schwache Füße hatte. Sie saß meistens am Frauenplatz. Dafür hatte sie aber die Verschlagenheit der Frauen (=lacharaja-lachales). Der Mann wohnte in einer Farm. In der Farm waren sieben Brunnen. Um die Farm war eine Mauer gezogen.

Eines Tages wollte der Mann eine lange Reise beginnen. Er ließ sich Essen und Trinken besorgen. Er ließ die Mädchen alles im Hause zusammentragen, was sie für ein Jahr brauchten. Er rief sie zusammen und sagte zu der ältesten Tochter: "Meine Tochter, ich werde für ein Jahr verreisen. Hüte du das Haus und paß auf deine jüngste Schwester auf." Nachdem er das gesagt hatte, reiste er ab.



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Ein Jahr lang sorgte die älteste Schwester, daß alle stets im Hause blieben. Die Schwestern lebten sparsam und kamen mit dem aus, was der Vater ihnen zurückgelassen hatte. Die Schwestern verließen nicht das Haus. Eines Tages begoß sich die jüngste Schwester, als sie in der Wiege (=duach) lag. Das Wasser lief herab und gerade in das Feuerloch. Das Feuer verlosch ein wenig. Das Mädchen nahm ein Sieb und spritzte noch mehr Wasser in das Feuer. Das Feuer verlosch vollkommen. Die sieben Mädchen hatten nun kein Feuer mehr zum Kochen im Hause.

Die älteste Schwester sagte: "Ich will Feuer von auswärts holen." Sie ging aus dem Hause. Das Mädchen lief weit hin. Sie sah in der Ferne ein Licht. Die Älteste lief auf das Licht zu. Sie kam an ein Haus. In dem Hause wohnte eine Teriel. Die Älteste klopfte an das Haus und rief: "Imajida! (= Mutter)." Die Teriel rief von innen: "Was willst du, meine Tochter?" Die Älteste antwortete: "Ich bitte um Feuer; unser Feuer ist ausgegangen!" Die Teriel rief zurück und fragte: "Willst du einen Kamm (=thimeschat)?" Die Teriel steckte Nadeln (= thithinessina) in die Türschwelle (= ämenar). Die Älteste antwortete: "Nein, ich will keinen Kamm, ich bitte um Feuer!" Die Teriel fragte: "Willst du einen Webekamm (=imschott; zum Festschlagen der Webstoffe von den Weberinnen benutzt) ?" Dabei steckte die Teriel immer mehr Nadeln in die Türschwelle. Die Älteste antwortete: "Nein, ich will keinen Webekamm; ich bitte um Feuer." Die Teriel sagte: "Ach, Feuer willst du, komm nur herein!" Sie öffnete die Tür.

Die Teriel sagte zu der Ältesten: "Nimm nur von dem Feuer. Wo willst du in das Haus hineinkommen? Willst du durch die Tür (=thaburth) oder durch die Stallgosse (=thäthulkht; die Gosse, die den Mist aus dem Viehstall =adä[e]inin abführt) hereinkommen ?" Die Älteste sah, daß die Frau eine Teriel war und sagte: "Ich will durch die Stallgosse hereinkommen." Die Älteste kroch durch die Stallgosse herein und zerriß und beschmutzte sich dabei die Kleider.

Als die Älteste im Hause war, sagte die Teriel: "Willst du einen Kuchen (Kuchenfladen =aghaun) von Weizen (=irthen) oder einen von Asche?" Das Mädchen fürchtete, daß in dem Weizenkuchen Salz sein könne und der Weizenfladen sie nachher im Laufen hindern könne. Die Älteste sagte: "Gib mir einen Kuchen von Asche." Die Älteste führte die Brocken zum Munde. Sie aß sie aber nicht, sondern ließ sie in das Unterkleid fallen.



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Die Teriel sagte dann zu der Ältesten: "Nun nimm das Feuer." Die Älteste nahm einen Feuerbrand. Die Älteste sagte: "Ich danke dir. Ich wohne mit meinen sechs Schwestern zusammen. Ich werde dich einladen, zu uns zu kommen, meine Mutter, und bei uns zu essen." Die Teriel sagte bei sich: "Dort kann ich also sieben Menschen verschlingen." Die Teriel schenkte der Ältesten Weizen als Geschenk. Die Älteste nahm den Weizen und bedankte sich.

Die Älteste ging mit dem Feuerbrand und dem Weizen zu dem Hause heraus. Sie ging über die Türschwelle. Sie trat auf die Türschwelle und die Nadeln, die die Teriel hineingesteckt hatte. Ihre Fußsohlen bluteten. Als die Älteste den Weg zu dem Hause ihres Vaters zurücklief, trat sie überall blutige Flecken in den Sand. Der kleine Vogel Thabunthegeraist flog hinter der Ältesten her, hüpfte auf ihren Spuren hin und bedeckte die Blutflecken mit Sand. Einmal pickte der kleine Thabunthegeraist aber die Älteste in den Fuß. Die Älteste sagte: "Geh! Du kleiner Böser!" Der kleine Thabunthegeraist sagte: "Für das Gute, das ich dir getan habe, tust du mir Böses." Thabunthegeraist hüpfte zurück und deckte alle roten Blutspuren auf dem Wege wieder auf.

Die Älteste kam mit dem Feuerbrande heim. Die Schwestern zündeten ein neues Feuer an und konnten nun wieder ihr Essen kochen.

Am andern Tage machte sich die Teriel auf den Weg und folgte den Blutspuren, die die Älteste mit den blutenden Nadelstichen auf dem Wege hinterlassen hatte. Die Teriel kam an das Haus der sieben Schwestern. Die Schwestern waren im Hause. Die Teriel klopfte an die Tür. Die Jüngste sah zum Fenster hinaus und sah die Teriel. Die Jüngste sagte: "Warte, meine Mutter, ich werde sogleich die Tür öffnen." Die Jüngste ging hin und öffnete die Tür. Im Hause war aber eine Hündin, die stets anschlug (=athigleph), wenn ein Fremder kam. Die Hündin schlug an. Die Jüngste sagte zur Teriel: "Meine Mutter, komme herein." Die Teriel sagte: "Die Tür ist zwar offen, aber der Hund ängstigt mich. Den Hund mußt du töten. Ich komme mit meinen Geschenken nicht eher wieder, als bis nicht der Hund getötet ist." Die Teriel wandte sich um und ging wieder heim.

Als es Nacht war, stieg die Jüngste von ihrem Bett herunter und schnitt der Hündin den Hals durch. Am andern Tage folgte die Teriel wieder den Blutspuren und kam an das Haus der sieben Schwestern. Die Schwestern waren wieder daheim. Die Teriel klopfte an die Türe. Die Jüngste sah zum Fenster heraus und sah die Teriel. Die Jüngste sagte: "Warte, meine Mutter, ich werde sogleich



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die Türe öffnen, die Hündin habe ich getötet." Die jüngste ging hin und öffnete die Türe. Als die Teriel aber an die Tür trat, schlug das Blut des toten Hundes an und bellte. Die Jüngste sagte zur Teriel: "Meine Mutter, komm herein, es ist nur das Blut der toten Hündin, welches bellt." Die Teriel sagte: "Die Tür ist zwar offen und die Hündin getötet. Aber das behende Blut ängstigt mich' Die tote Hündin und das Blut mußt du wegschaffen. Ich komme mit meinen Geschenken nicht eher wieder, als bis nicht alle Reste der Hündin in den Wald geschafft sind." Die Teriel wandte sich um und ging wieder heim.

Am andern Morgen sagte die Jüngste zu ihren Schwestern: "Tragt doch die Hundeleiche weg und bringt sie weit fort in den Wald' Dort begrabt sie. Der Hund ist daran schuld, daß wir noch nicht verheiratet sind. Nur der Hündin wegen wagen die Männer sich nicht in unsere Nähe und in unser Haus." Die Älteste sagte: "Laßt das, lebt die Hündin auch nicht mehr, so bellt doch ihr Blut, und Wir bleiben so allein, wie es der Vater befohlen hat." Die fünf Schwestern aber sagten: "Die Jüngste hat recht." Die fünf Schwestern nahmen die Hundeleiche und das Blut, trugen alles in den Wald und vergruben es.

Als es Abend war, folgte die Teriel wieder den Blutspuren und kam an das Haus der Schwestern. Die Schwestern waren daheim. Die Teriel klopfte an die Tür. Die Jüngste sah zum Fenster hinaus und sah die Teriel. Die Jüngste sagte: "Warte, meine Mutter, ich werde sogleich die Tür öffnen, die Leiche und das Blut der Hündin sind im Walde begraben." Die Jüngste ging hin und öffnete die Tür. Die Jüngste sah nun, daß die Frau eine Teriel war. Sie sagte: "Komm herein und setze dich, ich will schnell Wasser holen." Die Jüngste ging hinaus und lief von dannen. Die Älteste erkannte die Teriel und sagte: "Komm, meine Mutter und setze dich. Ich will nur meiner jüngsten Schwester nachrufen, daß sie sich beeilt." Die Älteste ging zur Tür heraus und lief fort. Die Teriel verschloß hinter der Ältesten die Türe und verschlang alle fünf Schwestern, die noch im Hause waren.

Die jüngste Schwester lief schnell von dannen und kam an das Haus eines Agelith. Bei dem blieb sie. Die älteste Schwester lief in den Wald. Sie lief zu der Stelle, an der die Schwestern die Hündin begraben hatten. Als sie an die Stelle kam, bellte das Blut. Sie grub die Stelle auf, nahm einiges von dem Blut in ihr Tuch und verbarg es im Unterkleid. Nun war die Älteste stets von Bellen begleitet



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und niemand wagte, ihr etwas anzuhaben. Die Älteste lief nun durch den Wald weiter.

Eines Tages schlief sie ermüdet im Walde ein. Ein Jäger kam durch den Wald. Als er näher kam, bellte das Blut der Hündin im Unterkleid der Ältesten. Der Jäger kam dennoch näher und fragte sie: "Wer bist du?" Die Älteste sagte: "Ich bin ein Mensch wie du." Der Jäger kam noch näher. Er sah, wie schön sie war. Er sagte: "Komm mit auf meinen Maulesel." Die Älteste folgte. Sie ritt mit dem Jäger. Sie heiratete den Jäger. Der Jäger und die Älteste hatten nach zwei Jahren zwei Knaben.

Inzwischen kam der Vater von seiner Reise zurück. Er kam an sein Haus. Er fand sein Haus mit Gras und Büschen bewachsen. Er fand seine Töchter nicht mehr. Der Vater wurde traurig. Er ging zu dem Agelith. Bei dem Agelith traf er seine jüngste Tochter. Er fragte: "Was ist geschehen?" Die jüngste Tochter sagte: "'Mein Vater, nach deiner Abreise wurde dein Haus nicht mehr geachtet. Jeden Tag war Tanz. Alle jungen Männer kamen jeden Abend zum Tanz. Eines Abends schliefen meine sechs Schwestern, vom Tanzen ermüdet. Da kam eine Teriel. Sie verschlang die fünf Schwestern. Nur meine älteste Schwester und ich konnten uns retten." Der Vater sprach: "Wo ist deine älteste Schwester?" Die Jüngste sagte: "Das weiß ich nicht."

Die älteste Schwester hörte eines Tages von der Heimkehr ihres Vaters. Sie nahm ihre zwei Kinder und ging mit ihrem Mann hin, um den Vater zu begrüßen. Der Vater sagte: "Sage auch du mir, wie deine fünf Schwestern ums Leben gekommen sind!" Die älteste Schwester sagte alles, wie es war. Die Jüngste sagte: "Meine älteste Schwester lügt. Ich habe die Wahrheit gesagt." Die älteste Schwester sagte: "Vater, komm mit in den Wald und höre selbst die Stimme des Hundes."

Der Vater ging mit den beiden Schwestern in den Wald. Die Älteste zeigte ihm die Stelle, an der die Hundeleiche begraben war. Der Vater hackte den Boden auf. Als er an die Leiche kam, bellte das Blut. Da sah der Vater, daß seine älteste Tochter die Wahrheit gesprochen und daß die Jüngste den Anlaß zum Tode der andern fünf Schwestern gegeben hatte. Er tötete seine jüngste Tochter. Der Ältesten und ihrem Mann gab er aber ein Fest.

Einer der Erzähler sagte am Schluß höhnisch: "Das kommt von der Verschlagenheit der Frauen."


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