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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Der Strahler

In einem Dörfchen des Haslitales wohnte vor Zeiten ein Mann namens Günter.

Er war arm, hatte eine große Familie und bestellte anfänglich, sie zu erhalten, sein kleines Stück Land. Mit den Jahren aber behagte dies seinem unruhigen Blute nicht mehr. Viel lieber stieg er in die Berge, die Gemsen zu jagen, oder legte wohl auch das Gewehr beiseite und suchte nach den glänzenden Kristallen, um sie im Tale drunten an durchreisende Fremde zu verhandeln. Indessen gelangte der Mann auch damit nicht weit. Die Arbeit war mühsam und gefährlich, und es verstrichen oft Monate, ehe er einen ordentlichen Fund tat. Also verarmte der Strahler, wie ihn die Leute nannten, mehr und mehr. Am Ende blieb ihm nichts übrig, als auch die Ziege, das letzte Stück seines Viehstandes, zu verkaufen: unter Tränen gab sie die Hausfrau einem Händler, der gerade des Weges kam, für wenig Geld hin.

In jener Nacht tat der Unglückliche kaum ein Auge zu. Was sollte er nun beginnen, seine Familie zu ernähren ?

Gegen Morgen endlich überkam ihn ein leichter Schlummer, und da hatte er einen seltsamen Traum.

Er sah sich droben am Zinkenstock, auf der Grimsel, mit dem Hammer gegen den Felsen schlagend, wie er das früher so oft, doch vergeblich , getan. Jetzt aber öffnete sich plötzlich der Berg, er trat in ein Gewölbe und gewahrte in der Tiefe dieses Gewölbes ein grünschimmerndes Lichtlein, das wie von Geisterhand gehalten an den Wänden hin und her irrte.

Der Mann erwachte. Das Traumbild aber beschäftigte ihn den ganzen Tag, und da es ihm in den folgenden Nächten ein zweites, dann ein drittes Mal erschien, war er überzeugt, daß das geheimnisvolle Licht ein Glücksstern bedeute, dem man zu folgen habe.

Er packte also Hammer, Pickel und Steigeisen, auch Speis und Trank, zusammen, begab sich mit einem Begleiter auf die Grimsel



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und kletterte über Stein und Gletscher zu der Stelle hinan, die er im Traume gesehen.

Drei Wochen mühten sie sich im Schweiße des Angesichts, immer hoffend, nimmer verzagend, der Günter beseelt von der Kraft, die die Sorge um Weib und Kind dem Manne verleiht, der andre im treuen Glauben an seinen Gefährten. Der Schacht ward groß und größer, immer tiefer drangen sie ins Erdreich hinein, reichlicher sickerte aus der Tiefe das Wasser.

Da — es war am Anfang der vierten Woche — klang es auf einmal hohl unter dem Pickel der Männer, und ihnen war, als rolle ein Stück des Gesteins nach hinten in hallende Weite. Voll frohen Erwartens arbeiteten sie fort. Immer schneller sauste das Eisen nieder , immer hohler tönte der Schlag, wie im Fieber flogen die Pulse. Endlich war die Scheidewand gesprengt, und wie jetzt Günter erst seine Hand mit der Lampe, dann seinen Kopf durch die Höhlung streckte, da sah er vor sich eine Schatzkammer, wie sie noch keines Strahlers Auge erschaut.

In Säulen und Spitzen, neben- und hintereinander ragend, tauchten die Kristalle aus dem Halbdunkel empor, vom kleinen weg, den ein Kind zu heben vermag, bis zum zentnerschweren, alle frei .von Nebel und Schnee und rein wie des Diamanten herrlich Gebilde. Und wie aus ihnen ein tausendfältig Licht erglänzte, da ward das bescheidene Lämpchen, das Günter in seiner Hand hielt, zum strahlenden Sterne.

Der Mann vermochte das Wunder kaum zu fassen. Schüchtern zog er endlich den Kopf aus der Kristallkluft zurück, um gleich darauf die funkelnde Pracht noch einmal zu erschauen, weil es ihm undenkbar erschien, daß sie nicht trügend davonschwand. Der Schatz war noch da.

Jetzt war alle Not des armen Günter zu Ende. Der Berg hatte ihn zum reichen Manne gemacht, und Händler aus fremden Ländern betraten seine Hütte an der Grimsel, um sich hier das frisch gebrochene Strahlgut zu erwerben.


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