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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Die Milchriemen

In einem Dörfchen des Haslitales lebte vor Zeiten eine alte Frau. Die konnte, wie die Leute sagten, am Milchriemen ziehen. Damit verhielt es sich also:

Die Frau hatte jahrelang eine Kuh besessen — ein gutes Tier, das ihr reichlich Milch gab. Eines Tages aber erkrankte die Kuh und starb dahin. Die Frau ward darüber sehr betrübt, weil sie kein Geld hatte, eine andre zu kaufen, wußte sich aber zu helfen. Sie ging auch setzt noch jeden Morgen in den Stall. Statt nun aber, wie bisher, ihre Kuh zu melken, zog sie durch die Barrenlöcher zwei Niemen und stellte den Milcheimer unter die vier Enden. Nannte sodann den Namen irgendeines wohlhabenden Nachbars und sprach die Worte:

"Meister oder Knecht mir geben soll
Von jeder Kuh zwei Löffel voll.

Setzte sich hernach auf das Stühlchen, ergriff die Niemenenden, als ob es die Sitzen ihrer Kuh wären und hub zu melken an.

Und siehe da! Aus den rundlich geformten Lederspitzen zischten zwei scharfe Strählchen in den Eimer nieder, der sich nach und nach bis zum Rande füllte. Dann aber versiegte plötzlich der Quell bis zum nächsten Morgen. Für heute indessen hatte die Frau Milch genug , sa mehr, als sie für ihren eignen Bedarf gebrauchte. Sie war aber von gutherziger Art und brachte den größern Teil den armen Leuten, so daß die beiden wundersamen Niemen auch andern zum Segen gereichten.

Es lebte im Dörfchen um sene Zeit ein junger Bursche, der lieber auf der faulen Haut lag als arbeitete. Dafür steckte er seine Nase gerne in die Sachen andrer Leute und gab auf alles acht, was etwa vorging. An das, was man ihm von der alten Frau erzählte, glaubte er nicht. Das sei dummes Zeug, meinte er. Wie sollte denn aus einem Niemen Milch fließen können! Freilich, daß die Frau mit der Milch so verschwenderisch umgehen konnte, obschon sie sa keine Kuh



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besaß, erschien ihm doch sonderbar, und also beschloß er, zu sehen, was denn an der Sache wäre.

Er versteckte sich eines Morgens früh im Stall der Frau. Und wirklich! Da kam sie herein, sagte ihr Sprüchlein her, und der Eimer füllte sich am trocknen Barren. Setzt war er überzeugt, daß die Leute wahrgesprochen.

Voll Freude lief der Bursche heim in seinen Stall und bereitete gleich alles her, zu sehen, ob auch andern als bloß der Frau das Kunststück gelingen würde. Den Spruch hatte er sich wohl gemerkt. Zwei Löffel genügten ihm indessen nicht, er sprach:

"Meister oder Knecht mir geben soll
Von feder Kuh zwei Kübel voll.

Und, o Wunder! Aus den Niemen begann die Milch zu fließen und füllte in kurzem die beiden mächtigen Kübel, die er daruntergestellt . Da ließ er, mit dem Erfolg zufrieden, die Niemen fahren. Zu seinem Erstaunen aber floß die Milch weiter und sprudelte jetzt aus den vier Niemenenden hervor, als ob es Dachtraufen wären. Sie bedeckte erst den Boden des Stalles, stieg dann in unheimlicher Schnelle die Wände hinan und hinauf, und ehe sich der erschrockene Bursche klar ward, was denn geschehe, stand er bis zum Halse mitten in einem Milchmeer. Vergeblich schrie er um Hilfe. Im nächsten Augenblick wuchs ihm die Flut über den Kopf, also daß der Mann elendiglich ertrinken mußte.

Von da an hütete man sich wohl, die gute Frau noch weiter in ihrem Tun zu stören.


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