Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


27. Die Elternlose (Wahre Terielgeschichte)

E in Mann war verheiratet und hatte vier Töchter. Der Mann wohnte im Walde. Er war sehr arm und ging deshalb täglich mit seiner Frau aus, um Holz zu sammeln, das er im Orte verkaufte. Eines Tages war er mit seiner Frau wieder in den Wald gegangen. Er hatte seiner Frau am Abhang eine Last Holz gesammelt und ging dann, um auch sich eine Last aufzusuchen. Die Frau kam. Sie wollte die Last auf den Rücken nehmen. Die Last war aber sehr schwer. Die Frau glitt am Abhang aus. Das Holz stürzte über sie. Die Frau überschlug sich und stürzte den tiefen Abhang hinab. Sie zerschlug am Bachrande und war sogleich tot. — Die Schakale kamen an der Leiche zusammen und riefen untereinander: "Heute abend werden wir Fleisch fressen! Heute abend werden wir Fleisch fressen!"

Der Mann hatte inzwischen seine Holzlast zusammen und rief seine Frau. Seine Frau antwortete nicht. Der Mann rief wieder und wieder. Eine Teriel hörte es. Die Teriel antwortete statt der Frau. Der Mann ging in der Richtung, aus der die Teriel rief. Als er zu



Atlantis Bd_02-228 Flip arpa

ihr kam, sah er, daß dies nicht seine Frau war. Die Teriel aber fragte ihn: "Woraus besteht dein Haus?" Der Mann sagte: "Ich habe eine Frau und vier Töchter. Meine älteste Tochter ist sehr klug. Sie kann aus der Hand wahrsagen (= hchar deg'füssis)." Die Teriel fragte: "Wo ist dein Haus?" Der Mann sagte der Teriel, wo sein Haus sei. Darauf verschlang die Teriel den Mann.

Dann wartete die Teriel den Abend ab und machte sich auf den Weg zu dem Hause des Mannes, um nun auch noch dessen vier Töchter zu verschlingen. Inzwischen betrachtete die Tochter daheim ihre Hand. Sie erschrak. Sie rief ihre Schwestern und sagte: "Meine Schwestern; unsere Mutter ist tot in den Abgrund gestürzt und wird von den Schakalen gefressen. Unser Vater ist einer Teriel nachgegangen und von ihr verschlungen worden. Die Teriel hat sich auf den Weg gemacht; sie kommt zu unserm Hause und wird uns verschlingen. Laßt uns also so schnell wie möglich fliehen!" Die drei Schwestern sagten: "Weshalb sollen wir fliehen! Laßt uns die Tür gut verschließen." Die drei Schwestern setzten ihren Willen durch.

Als es Nacht war, kam die Teriel an das Haus. Sie klopfte an die Tür und rief: "Meine Töchter, macht auf. Eure Eltern wollen in das Haus." Die Jüngste erhob sich sogleich und ging zur Tür, sie zu öffnen. Die Älteste sprang auch auf und versteckte sich hinter der Tür. Als die Tür offen war, trat die Teriel herein. Die älteste Tochter entschlüpfte aber unbemerkt ins Freie. Die Teriel schloß dann wieder die Tür hinter sich. Sie verschlang in dieser Nacht die jüngste Tochter, in der folgenden die dritte Tochter, in der dritten die zweite Tochter. Dann verließ die Teriel das Haus, ließ die Tür offen und kehrte an ihren Ort im Walde zurück.

Die älteste Tochter lief inzwischen, so schnell sie konnte, aus dem Walde. Sie kam in einen Ort. Sie lief zum Hause des Agelith, legte sich auf die Türschwelle (= emmenär) nieder und schlief da ein. Der Agelith öffnete am andern Tage die Tür. Er sah das Mädchen, das sehr schön war und fragte: "Was führt dich hierher?" Das Mädchen sagte: "Der Zufall (=l'ua'd)." Danach sprach das Mädchen nicht mehr. Von dem Tage an war sie taubstumm. (Ein Tauber = arsoj; Plural: arsowen. Ein Stummer = agoun; Plural: eargunen.)

Der Agelith hatte aber das schöne Mädchen so gerne, daß er es heiratete. Die junge Frau blieb aber taub und stumm. Der Agelith fragte weise Leute danach, was man gegen diese Krankheit tun



Atlantis Bd_02-229 Flip arpa

könne. Die weisen Leute sagten ihm: "Deine junge Frau ist weder taub noch stumm. Sie ist nur tief betrübt. Warte es ab. Es wird eine Zeit kommen, wo die junge Frau wieder sprechen wird."

Nach zwei Jahren hatte die junge Frau zwei Söhne. Die kleinen Knaben begannen zu sprechen. Eines Tages sagte die junge Frau plötzlich zu ihrem Sohne: "Geh zu deinem Vater und frage ihn, ob ihr das Haus eurer Großeltern sehen dürft." Der kleine Knabe lief zu seinem Vater und sagte: "Dürfen wir mit unserer Mutter gehen und das Haus der Eltern unserer Mutter sehen?" Der Agelith sagte: "Deine Mutter hat keine Eltern; ich habe deine Mutter seinerzeit auf der Türschwelle gefunden."

Am andern Tage bereitete die junge Frau aber gutes Essen. Sie steckte es in einen Beutel und machte sich dann mit den Kindern auf den Weg. Der Agelith folgte unbemerkt in einiger Entfernung. Die junge Frau kam an das Haus ihrer Eltern. Auf allen Seiten waren Kräuter und Büsche um das Haus und auf den Mauern. Nur ein schmaler Weg führte zwischen den Büschen hin; es war der Weg, den die wilden Tiere benutzten, die jetzt in dem Hause wohnten. Die junge Frau weinte und sagte zu ihren Kindern: "Das ist das Haus meines Vaters, der von der Teriel verschlungen wurde."

Der Agelith hörte es. Er hörte seine junge Frau sprechen. Er kam hervor. Er sagte: "Ich werde das alte Haus hier abbrechen, aber an seiner Stelle ein neues bauen lassen; darin werden wir wohnen." Die junge Frau weinte und sagte: "Ich danke dir." Von da an hörte und sprach die junge Frau wieder.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt