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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Adelboden

Hoch oben an der Küste der Nordsee wohnte in alten Zeiten ein kriegerisch Volk, die Friesen.

Es brach aber unter ihnen eine Hungersnot aus. Da verließen viele ihre Heimat, wanderten den Rhein aufwärts und gelangten in die grünen Täler unsres Landes. Hier, zu Füßen der hohen Berge, bauten sie ihre Hütten, hirteten ihre Herden und trieben die wilden Tiere in die Wälder zurück.

Also hatte sich ein Teil von ihnen auch im Frutigtale niedergelassen und dort, wo heute das schöne Dorf Frutigen steht, seine Wohnstätten aufgeschlagen.

Einst hütete in gener Gegend ein Friesenjunge mit blondem Schopf und blauen Augen seine Ziegen.

Eines Abends, wie er die Herde zu Tale treiben wollte, schien es ihm, als seien nicht mehr alle beisammen. Er hub sie also zu zählen an und stellte auch wirklich fest, daß einige fehlten. Als guter Hirte, dem ein jegliches Tier ans Herz gewachsen und der auch nicht ein einziges von ihnen preisgeben will, suchte er nach ihnen auf der ganzen Weide. Doch keins der Verlornen ließ sich blicken. Da sperrte er kurz entschlossen alles, was da war, in die Bergstatt und machte sich auf den Weg, auch an abgelegenen Stellen nach ihnen zu spähen.

Er eilte hin durch Wald und Schlucht, rief, lockte oder blies in sein Horn, daß es weit hinaustönte in die Stille des sinkenden Abends. All sein Mühen aber war umsonst, und da es inzwischen völlig dunkel geworden und der arme Bub sich todmüde gelaufen, legte er sich endlich unter eine Tanne und schlief ein.

Da träumte ihm, ein lieblich Glockengeläute klinge von einer fernen Höhe an sein Ohr. Er geht flinken Schrittes darauf zu, steigt über Hang und Hügel und gelangt endlich in ein schönes Tal, wo inmitten grüner Auen ein Kirchlein steht.

Als der Knabe erwachte, war der Tag angebrochen und es schon recht hell im schattendunklen Walde. Da sprang er auf, ergriff seinen



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Hirtenstab und eilte weiter, immer hoffend, seine Ziegen zu finden, immer auch das schöne Bild vor Augen, das er im Traume gesehn.

Er stieg über Hang und Hügel, kletterte über Fels und Geröll. Heiß brannte die Sonne hernieder, der Schweiß troff ihm von der Stirn, der trockne Mund lechzte nach einem Trunk Wasser.

Da öffnete sich plötzlich vor ihm ein weites Tal mit herrlichem Wiesengrund und hohen Bergen ringsherum: es war das Tal, das er im Traume geschaut. Aber kein Kirchlein war weit und breit zu sehen, keines Menschen Spur zu entdecken. Dafür gewahrte der junge Hirte mitten im Wiesengründe seine verlornen Ziegen, die sich an einer Quelle gütlich taten. Da lief er freudig hin, begrüßte die Wiedergefundenen und liebkoste sie, kniete dann nieder und trank nun selber in vollen Zügen von dem köstlichen Labsal, nach dem er sich so lange gesehnt hatte. Als aber der Knabe aufstand, erquickt an Leib und Seele, und niederschaute auf das Wässerlein, das frisch und munter aus dem Boden sprudelte, da jubelte er:

"Du lieber Quell, wie dank ich dir, daß du meinen Durst gestillt hast! Und auch dafür, daß du meine Tiere zu du gelockt, auf daß ich sie wieder finden möge! Doch sag, wie heißest denn ? Hast wohl noch gar keinen Namen. Wart, ich werd dir einen geben: Geißbrunnen sollst von nun an heißen, und die Leute im Tale drunten werden kommen und aus dir trinken.

Dann trieb er seine wiedergefundenen Ziegen heimwärts und brachte die frohe Kunde den Seinen. Hierauf beschlossen die Väter, das Frutigland zu verlassen, zogen mit Weib und Kind hinauf in das hohe Alpental und siedelten sich hier an. Auch sie hießen den Quell, dem Buben zuliebe, Geißbrunnen, und dieser Name ist der Stelle geblieben bis auf den heutigen Tag. Den ganzen Talgrund aber nannten die Leute Adelboden, weil er über und über mit den edlen Gräsern und Blumen der Alpen bedeckt war.

Das Kirchlein jedoch, das der Geißbub im Traume gesehn, ward erst viel hundert Jahre später erbaut.


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