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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Die Sagenkinder


Die Fischerleute

In alten Zeiten sah es in unsrer Heimat anders aus als heute. Die Berge waren wilder, die Winde rauher, die Flüsse breiter. Schwarze Wälder bedeckten das Land, und nur hier und dort guckten daraus die Giebel und Türmchen eines Dorfes oder einer Stadt. Es gab auch viel, viel weniger Menschen als heute dafür hausten in der Erde, in der Luft und im Wasser allerlei Wesen, denen man bald Gutes, bald aber auch Böses nachsagte. Die guten liebte man, den bösen gingen die Leute soviel wie möglich aus dem Weg.

Zu diesen Wesen gehörten zuerst die kleinen Leutchen, die in die Erde hinabstiegen, Gänge bauten und nach Gold und Silber gruben. Man nannte sie Erdmännchen oder Zwerglein. Dann gab es auch schöne Männer und Frauen in wehenden Gewändern, die des Nachts, wenn der Mond schien, über den Wäldern Ringelreihen tanzten. Wasser endlich wohnten die Wasserfrauen oder Nixen, die durch ihren schönen Gesang die Menschen ans Ufer lockten, um sie in die Tiefe zu ziehen und zu verderben.

Still und einsam war es in jenen Zeiten an den Gestaden der beiden Seen, durch welche die Aare ihre Fluten ergoß, und statt eines Kranzes freundlicher Dörfer gewahrte man nur kleine Gruppen ärmlicher Hütten, die um so seltener wurden, se weiter man seeaufwärts ging. Das oberste Hüttchen aber, das lag nicht mehr am See, das lag bereits im Tale droben, am Ufer der Aare, die damals schon dort gar breit und mächtig daherrauschte.

In diesem Häuschen wohnte ein armer Fischer mit seiner Frau und seinen beiden Kindern, einem Knaben und einem Mägdlein. Der Knabe hieß Ibert, sein Schwesterchen Rautendelein. Das waren nun zwei so herzige Geschöpfchen, als ob sie frisch vom Himmel gefallen, beide blondhaarig, blauäugig und feingliedrig gewachsen, dazu immer lustig und voll harmlosen Uebermuts. Das hinderte sie aber nicht,



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den Eltern überall an die Hand zu gehen und eifrig zuzugreifen, soweit es ihre kleinen Kräfte erlaubten.

So half das Büblein dem Vater beim Fischen, fuhr mit ihm auch ab und zu flußabwärts und über den See, und am Abend eines solchen Tages wußte es dann jeweilen gar viel zu erzählen. Das Mägdlein dagegen wirbelte mehr um die Mutter herum, half ihr im Hauswesen oder beim Ausbessern der Fischernetze, oder sie gingen wohl zusammen in den Wald, sammelten Holz, pflückten Beeren und suchten Kräuter, um damit einen wohlriechenden Tee zu bereiten. Waren die Kinder nicht bei den Eltern beschäftigt, dann vertrieben sie sich die Zeit am Flusse, tummelten sich im Walde, oder sie weideten auf der Alp droben die beiden Ziegen, die den armen Leuten die nötige Milch lieferten.


Am Flusse

So wenig wie ihre Eltern, konnten auch die Kinder weder lesen noch schreiben und kannten von der ganzen weiten Welt nichts als ihr winzig Stückchen Heimat. Doch sahen und erlebten sie hier gar manches, und der Dinge gab es genug, an denen sich ihr einfach Herz erfreuen konnte.

Da war der Fluß, der im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz, mit mächtigen Wellen dahersprang, Baumstämme und Felstrümmer mit sich riß und oft gar über die Ufer trat und das Land überschwemmte . Dann war die Not groß bei den armen Fischerleuten, und der Vater hatte alle Hände voll zu tun, auf daß ihr Häuschen von



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den Fluten nicht fortgetragen wurde. In der übrigen Zeit aber war der Bösewicht ein gar friedliebender Geselle, mit dem man sich recht vergnügt unterhalten konnte.

Im Sommer und Herbst nämlich, wenn es warm war, übten sich die Kinder im Schwimmen und brachten es darin bald so weit, daß sie es wie die Fischlein konnten, die im blanken Wasser hin- und herzogen . Waren die beiden des Schwimmens müde, dann legten sie sich auf den Sand und ließen ihre Körperchen von der Sonne braun werden , also daß das Büblein und das Mägdlein im Herbste aussahen wie zwei Negerlein.

Ab und zu ergötzten sich die Kinder auch damit, daß sie aalglatte Kieselsteinchen über die Wasserfläche trieben. Der Zunge besonders war hierin gar gewandt, und seine Steinchen glitten in flitzenden Sprüngen fast bis zum Inselchen hinüber, das mitten aus dem Flusse hervorguckte. Das Mägdlein dagegen mühte sich umsonst ab, es ihm gleichzutun, renkte sich das Aermchen aus oder fiel wohl gar aufs Näschen, was das Büblein jeweilen über alle Maßen belustigte.

Und wiederum kauerten die Kinder stundenlang am Strande, bauten ein Häuschen aus Steinchen und machten ein Feuerlein hinein, daß die blauen Nauchwölkchen hoch in die Luft wirbelten. Oder sie leiteten ein Bächlein ab und formten darinnen mächtige Seen, in die sachte sachte die kleinen Fischlein der Aare hineinhuschten. Weiter unten mußte sodann das Wasser des Bächleins über einen Felsen stürzen und also ein Wasserfall werden, wie das Bübchen einen gesehen hatte weit droben im Tale. Und über den Wasserfall wurde ein Brücklein gebaut; darunter aber ließen die Fischerkinder ein Schifflein aus Rinde lustig in die Tiefe stürzen, daß es umkippte und alle Leute ertranken.

Im Winter aber, wenn es kalt war und der Fluß bis weit hinaus gefroren, dann schlitterten das Büblein und das Mägdlein, sich an den Händen haltend, über das spiegelblanke Eis, oder sie schauten wohl auch von hier aus den Scharen von Fischlein zu, die man setzt in dem still fließenden Wasser gar deutlich erkennen konnte.



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Im Walde

Und wie lustig war doch das Leben im grünen Wald!

Frühmorgens, wenn die Sternlein verblichen und die Berge ihre goldenen Heimchen aufsetzten, neuen die Kinder die Ziegen aus dem Stall, hüpfen über die Miese, die hinter dem Häuschen liegt, und betreten auf weichem Teppich den hohen Tannenfaal.

Und alsogleich hebt ein Raunen an.
Ein Finklein, sich auf einem Aestchen wiegend, entdeckt sie zuerst.
"Zi düi, zi dai ? " wißt ohr s schon ;
"Fuid, fuid ?" " was denn ? fragt das Rotkehlchen.
"Zididi, zididi! die Sagenkinder kommen!
Und wie ein Lauffeuer geht es setzt durch den Wald.

Das Rotkehlchen erzählt es dem Meislein, das Meislein pfetft's dem Zeislein, das Zeislein jubelt s dem Hänfling, der Hänfling trillert's der Amsel. Die aber, wie sie vernimmt, schüttelt den Tau von ihrem schwarzglänzenden Gefieder und wetzt den Schnabel am Gezweig. Dann schaut sie sich um, schwingt sich auf den Gipfel der Lärche, die einsam mitten im Walde hoch über die Tannen ragt, und schmettert die frohe Botschaft:

"Tüi, tüi, tüi! " die Sagenkinder kommen!
in den hellen Sommermorgen hinaus.

Da schauert's dem listigen Füchslein im Herzensgrunde. Es zieht sein Schwänzchen tief zwischen die Veine, stiehlt sich ums nächste Gebüsch und verschwindet in seiner Höhlt. Der Marder steigt verdrossen wieder in sein Rest hinauf, und du Eule, der Freßsack, verzieht sich seufzend in die dickästige Krone einer alten Kiefer.

Unter den andern Tieren aber hebt setzt ein munter Leben an, und alle, ein jegliches auf seine Art, machen sich noch ein wenig zu schaffen.

Das Fröschlein am Weiher wiederholt geschwind das hübsche Liedchen, das es erst gestern gelernt, das Häschen am Waldrand seinen neuen Luftsprung. Das Eidechschen schwänzelt gar hurtig auf einen



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bemoosten Felsen hinauf, weil es von dort aus den Aufzug besser zu übersehen erhofft. Auf einem Stämmchen ihm gegenüber putzt sich ein Eichkätzchen sein Näschen blank, und im Gezweige droben werden Schnäbelchen geschliffen, Federröcklein geglättet und an die Nesthäkchen eindringliche Ermahnungen erteilt, wie sie sich während des voraussichtlich ganztägigen Fernseins von Vater und Mutter zu verhalten hätten.

Endlich kommen die Gäste lärmend angezogen. Sie lachen und scherzen, sie singen und springen, sie locken oder wehren den Ziegen, wenn sich diese zu fehr in des Waldes Wildnis einlassen wollen, wo doch so gar kein Weg, kein Steg und kein Bänklein zu finden ist. Und um sie her tanzt und flattert und hüpft jetzt das vor Freude trunkene Völklein der Tiere.

Ach, für heute wenigstens ist alle Furcht aus diesen Geschöpfchen verschwunden, wissen sie doch, daß wenn die beiden Kinder durch den Wald ziehen, sich kein einziger ihrer Feinde an sie heranwagt. Und daß die Kinder selber es gut mit ihnen meinen und keinem, selbst nicht den Kleinen und Unansehnlichen, se ein Leid angetan, das war einem jeden von ihnen wohlbekannt.

Sie fingen, also erzählten sich die Tierchen untereinander, keine Fliege, kein Mücklein ab, um sie zu zerdrücken. Sie halfen dem Spinnlein sein Netzchen flicken. Kroch ein Würmchen über den Weg, hastete ein grünes Käferchen eilfertig daher, dann setzten sie ihre Füße sorgsam auf den Boden, um das Tierchen sa nicht zu zertreten. Fiel ein Bögelchen aus seinem Nest, gleich hoben sie es auf und suchten so lange, bis seine Wohnung gefunden war. Suchten sie aber vergeblich, dann nahmen die mitleidigen Kinder das zarte Geschöpfchen gleich nach Hause und pflegten es dort, bis es fliegen und vielleicht im Walde seine Eltern wiederfinden konnte. Und erst im Winter, wie sie da um all die Tierchen besorgt waren! Sie sprangen mit dem schönfarbigen Pfiffolterlin und der blauschimmernden Wasserjungfrau um die Wette, taten ihnen aber nichts.

Eben hat das Rautendelchen eine Handvoll Beeren gepflückt, und



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alsogleich drängen sich auch die lieben Vögelchen um sie her. Ein paar klammern sich rings um das geöffnete Händchen und beginnen die roten und schwarzen Früchtchen zu picken. Andre wieder lassen sich auf seine Schultern nieder, und eins, ein Goldhähnchen, setzt sich gar auf sein Köpfchen und hebt aus Leibeskräften zu piepen an. Noch andre flattern um sie her, berühren im Fluge die Wange des guten Kindes, oder sie halten sich einen Augenblick vor ihr in der Luft, die zarten Füßchen an den Leib gezogen und unaufhörlich mit den Flügelchen schlagend.

ES ist ein gar lieblich Bild zu schauen. Inmitten all des Jubels und Gezwitschers ringsumher vergißt aber das Nautendelein auch sein Schnäbelchen nicht. Es lobt die Artigen, ermuntert die Furchtsamen, schilt dafür die, welche zu lange auf seinen Händchen verweilen und den andern nicht Platz machen wollen, oder auch die auf seinen Schultern , welche sein Ohrläppchen für ein Erdbeerchen halten und zu eifrig daran herumpicken.

Und lärmend geht der Zug weiter, bald durch geheimnisvoll dunklen Tannenwald, wo die Sonne nur schmale Goldstreifen über den Boden wirft, bald über lichtgekringelten Nasen unter dem freundlichen Blätterdache der Buchen, bald wieder neben hohen Eichen vorbei, wo wischen den Kronen der Himmel blaut. Und überall sudeln ihnen die Vöglein entgegen, singt die Amsel, lockt der Kuckuck, summen die goldgrünen Fliegen, schwirren die Wasserjungfrauen, tanzt das Pfiffolterlin.

Ab und zu sagt ein Reh oder gar ein Hirsch mit zackigem Geweih an ihnen vorüber. Wie jedoch das Tier die Kinder gewahrt, bleibt es stehen, tritt sorglos auf sie zu, läßt sich streicheln und schreitet, die Lauscher schüttelnd, gemächlich von dannen.

Auf einmal aber kracht es im Dickicht, und heraus windet sich, mit mächtigen Pranken die Zweige niedertretend, ein großes braunes Tier, wie sie noch keins gesehn. Es ist gar dick und rund und zottig und kommt auch gleich brummend auf die beiden zugewackelt. Ein Weilchen schnuppert es erst am Büblein, dann am Mägdlein herum,



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setzt sich vor diesem plötzlich auf die Hinterbeine und beginnt mit feinen Tatzen recht freundlich zu bitten.

"Ach, wie herzig!" schreit jetzt das Rautendelein. Aber was willst denn von uns ? Wir haben nichts zu fressen für dein großes Maul.



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Da läßt sich das gewaltige Tier wieder auf seine Vorderfüße fallen, schaut die beiden nochmals fragend an und trottet von dannen.

Gegen Mittag lagern sich die Kinder mit ihren Ziegen an einem Bächlein, essen ihr Stücklein Brot und ein paar Beeren und trinken aus dem klaren Wässerlein. Dann schlendern sie weiter.

Gegend Abend aber, wenn die Sonne ihre goldnen Netze über die Berge spannt, treiben sie heimwärts zu Vater und Mutter, die die Kinder beseligt in ihre Arme schließen. Sind sie doch ihr Alles auf Erden!


Auf der Alp

Und schweigend standen rings die Berge.

Hier hinauf gingen ab und zu nur der Vater und das Büblein, um seltene Blumen zu pflücken oder nach den schönen Steinen zu suchen, die in der Sonne funkelten und von denen einige die Wände und das Fenstergesims des Stübchens schmückten.

Von den Bergen hernieder brauste im Frühjahr der heiße Wind. Dann flogen am Himmel die fahlen Wolken in Fetzen auseinander, dann donnerten die Lawinen, und die Lärchen im Hochwald stürzten krachend zusammen. Im Fischerhäuschen aber wurde das Feuer gelöscht , und während der Sturm die Hütte schüttelte und rüttelte, als ob er sie gleich mitnehmen wollte, lagen drinnen vier Menschen auf den Knien und beteten zu Gott, daß er sie vor solchem bewahren möge.

Im Sommer und Herbst aber war es anders. Da trieben die Kinder die Ziegen auf die Alp, die nicht allzuhoch über dem Wald auf freier Höhe lag und wohin selbst das zarte Mägdlein, wenn auch mit etwelcher Mühe, zu gehen vermochte.

Schön war es besonders im Herbst, wenn bei ihrem Aufbruch am Morgen noch der Nebel im Tale lag und sie hoffen durften, auf der Alp droben die Sonne zu begrüßen. Dann gingen die Kinder eilig durch den Wald, und die Hänge hinauf kletterte sich das Mägdlein fast außer Atem für das Büblein und die Geißen aber war das alles eitel Lust und Freude. Endlich aber lichteten sich wohl die Nebel,



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es blitzte und funkelte in den Lüften, es blaute der Himmel, und während klein Rautendelchen noch mühsam an einer mächtigen Baumwurzel herumkrabbelte, stand der Junge mit seinen Geißen schon hoch oben auf einer Felsenecke und jubelte aus voller Kehle :

"Die Sonne!

Dann leuchteten der Kinder Augen vor Stolz und Entzücken, und sie konnten sich nicht satt sehen an all den Wundern, die sich Setzt vor ihnen auftaten.

Dicht unter ihren Füßen lag das hellschimmernde Nebelmeer. Eingebettet zwischen die schwarzen Hänge der Berge, breitete es sich weit über das ganze Tal bis hinunter zum See. Gleich wie beim Flusse, nur langsamer, fluteten auch hier die Wellen lustig auf und nieder- und die blitzenden Sonnenstrahlen trieben mit ihnen ein muntres Spiel. Begraben und ertrunken waren jetzt der Wald und das Fischerhäuschen; nur hier und dort streckte ein neugieriger Fels feine Nase in die Höhe, und der runde Rücken des Höhenzuges, der dort drüben aus dem Meere ragte, erschien den Kindern wie der Rücken eines gewaltigen Fisches. Ringsherum standen leuchtend die Berge, und wie eine blaue Glocke wölbte sich der Himmel über dem wundersamen Bilde.

Den Ziegen freilich lag wenig an der schönen Aussicht. Die fanden mehr Geschmack an einem Büschel saftigen Alpengrases, und se weiter oben sie solches suchen mußten, desto schmackhafter erschien es ihnen. Also kam es, daß die Tiere verschwunden waren, als sich du Kinder endlich nach ihnen umschauten. Doch war das flinke Büblein den Ausreißern gar bald auf der Spur und trieb sie zurück auf den gewohnten Weideplatz.

Nun sammelten die Kinder Holz und zündeten ein Feuerlein an. Dann legten sie sich nieder, stützten das Köpfchen auf den Arm und buben zu plaudern an, derweilen ihre Aeuglein unverwandt über das weite Nebelmeer schweiften.

Wie still war es jetzt hier oben! Kein Lüftlein regte sich, kein Laut drang an ihre ewig wachen Oehrchen. Auch den Fluß hörten sie



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nun nicht mehr lärmen, den Wald nicht mehr rauschen, solange der Nebel über dem Tale lagerte.

Plötzlich aber gellte ein Pfiff.

"Die Murmelchen! " flüsterte das Büblein.

Sie wandten sich um und, die Aermchen auf den Boden gestemmt, äugten die beiden scharf hinüber nach dem kleinen Bergsee, wo sie die Tiere zu sehen gewohnt waren.

Und wirklich, da begannen sie wieder ihr Spiel, die drolligen Geschöpfe mit dem Etchhörnchenkopf, den stumpfen Ohren und dem langen Schnurrbart, ihrer drei, vier, fünf und mehr, dort drüben am Wässerlein, wo soviel große und kleine Felsblöcke beisammenlagen.

Und heute schienen sie auch gar übermütig zu sein. Sie hüpften wie närrisch über Stein und Halde, sie richteten sich kerzengerade in die Höhe, die Aeuglein spähend nach allen Seiten gewendet, sie trieben Versteckens rings um die Felsen oder legten sich einen Augenblick hin, sich zu sonnen. Und als sich erst noch ein paar Junge zu ihnen gesellten, jene läppischen Dingerchen, die aussahen wie große Mäuse, und nun ein herzig Spielen und Fangen anhub, da konnte das Rautendelein nicht anders: es sprang auf und tat einen Freudenschrei.

Da ertönte wieder ein Pfiff, dann ein zweiter, ein dritter, und husch husch husch! verschwanden die Tiere in ihren Löchern, um bald darauf das Spiel von neuem zu beginnen.

Und wie die Tierchen, taten setzt auch die Kinder. Sie sprangen plötzlich auf, faßten sich an den Händen und wirbelten in tollem Tanze um das Feuerchen. Dann ließen sie die Hände fahren und jagten einander über Stock und Stein, um Baum und Fels und den Hang hinauf und hinunter, bis sie sich, müde geworden, wieder ums Feuer setzten.

Und wieder erspähten die scharfen Aeuglein des Jungen drei Gemsen, die hoch oben auf einem Felsgesimse sich neckten und mkr den Hörnern hinunterzustoßen suchten. Plötzlich aber, eine Gefahr witternd , hoben alle drei die Köpfe, blickten gespannt nach einer Richtung hin und sagten dann in hellem Laufe den Hang hinunter.



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Das Nebelmeer sank tiefer und tiefer. Endlich zerstoben auch die letzten Fetzen in alle Winde, und das ganze Tal mit dem Walde und dem lieben Fischerhäuschen erglänzte wie frisch gewaschen im Strahl der Mittagssonne.

Am Nachmittag, wenn es recht warm war wie im Sommer, da ließen es sich die Kinder wohl sein. Sie legten sich rücklings auf den Boden und bliesen die Flöte, die das Büblein aus langstieligem Nohr zu schneiden verstand. Oder sie hörten den Käferchen zu, die umherfchwirrten, und schauten dabei aus runden Aeuglein in den blauen Himmel hinauf. Mit Entzücken folgten sie dem Fluge der Vögel mit den mächtigen Schwingen, und ihr Blick ruhte träumend auf den lichtweißen Wolken, die sich in der Ferne wie Burgen und Schlösser auftürmten .

Gegen Abend aber, wenn es kühler zu werden begann und die Nebel schon wieder an den Verggehängen herumkröchen, da trieben die Kinder ihre kleine Herde jauchzend zu Tal.


Die Mutter

Ja, wo konnte es auch schöner sein auf der Welt als hier im Tale mit dem rauschenden Flusse, dem stillen Walde und den hohen Bergen! Und dann waren die Kinder sa auch nicht allein, hatten sie doch einen guten Vater und eine gute Mutter, denen ihr Wohl gar sehr am Herzen lag.

Den Vater, freilich, bekamen sie oft tagelang nicht zu sehen. Der war weit im Tale droben, dort wo das Wasser gar hoch über den Felsen stürzte, oder dann drunten auf dem See, wo er die Fische verkaufte oder gegen Waren umtauschte. Die Mutter dagegen, die hatten sie, wenn sie wollten, den ganzen Tag um sich, und zu ihr sprangen die Kinder denn auch immer, wenn ihnen dies, wenn ihnen jenes fehlte, oder wenn die kleinen Köpfchen etwas nicht begreifen konnten.

Ja, die Mutter! Die half immer! Die wußte alles!



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Die lehrte sie die lustigen Liedchen, du die beiden so gerne sangen, wenn sie hinter dem Hause Ringelreihen tanzten oder mit den Geißen auf die Weide zogen. Die gab all den zarten Blümchen einen Namen, die ihnen auf Schritt und Tritt entgegenlächelten, und auch den hohen Bäumen im luftigen Waldesgarten. Und von jedem Pflänzchen wußte sie etwas Besonderes zu erzählen, wie die Würzlein Wasser trinken, wie die Blättchen atmen, wie es wächst und blüht und stirbt — gleich wie du Menschen wachsen, blühen und sterben.

Das aber wollte nun nicht so recht in des Mägdleins Köpfchen.

"Was sagst du da?" unterbrach es hier die Mutter. "Müssen denn auch wir einmal sterben ?"

"Gewiß, mein Kind."

"Aber ich will nicht sterben ", schmollte das Mündchen. "Und ich werde ganz gewiß nicht sterben. Und Ib auch nicht. Und du nicht. Und der Vater nicht.

Dann lächelte du Mutter geheimnisvoll, schlang den Arm um das lebenshungrige Mägdlein, zog es an sich und sagte:

"Du hast recht. Der Vater und die Mutter freilich, die müssen nun einmal sterben, ob sie wollen oder nicht. Ib und mein Rautendelchen aber werden niemals sterben, solange noch ein Sternlein am Himmel funkelt.

Da war das Kind zufrieden.

Und wiederum wußte sie gar viel zu sagen von den Tieren im Walde, von ihren Freuden und von ihren Leiden.

"Und das sind alles Geschöpfchen pflegte sie dann immer hinzuzufügen, die der liebe Gott geschaffen hat, auf daß wir sie in Ehren halten und sie nicht plagen oder gar töten. Wir müssen ihnen vielmehr helfen, wenn sie in Not sind und sich nicht mehr selber helfen können.

Und an den langen Winterabenden, wenn draußen der Schneesturm um die Hütte fegte und es drinnen im Scheine des Holzfeuers so wohlig warm war, erzählte die Mutter wohl auch aus ihren frühern Jahren, als sie noch weit drunten in einer Stadt bei fremden



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Leuten arbeiten mußte. Dann begannen die vier runden Aeuglein zu leuchten, und weit schöner als es die Mutter zu sagen vermochte, erschauten die Kinder in der Ferne die prächtigen Häuser und Schlösser, wo die Menschen nichts als Kuchen aßen und in seidenen Kleidern schlafen gingen . . .


Ab und Rautendelein

Und am Ende hatten die Kinder auch sich selber. Und die beiden liebten einander um so mehr, als sie ihr Herz nicht mit andern Spielgefährten teilen mußten.

Sie waren unzertrennlich vom Morgen bis zum Abend, vom Abend bis zum Morgen. Sie löffelten die Milch miteinander, sie spielten, sangen und wanderten zusammen, sie schliefen, eng umschlungen , zusammen im gleichen Bettchen. Waren sie nur ein Weilchen auseinander, gleich schien einem jeden etwas zu fehlen.

Allein nicht nur äußerlich, auch innerlich fühlten sich die beiden Kinder eng verbunden. Was das eine gerne wollte, das war auch dem andern recht, und also stritten sie nie miteinander.

Sie dachten auch nichts Böses oder Häßliches, sa sie ahnten nicht einmal, daß es solches überhaupt geben könne. Ihre Herzen waren so rein wie der blaue Himmel, der sich über ihnen spannte, und die ganze Welt um sie her mit all ihren Geschöpfen erschien ihnen wunderbar.

Sie liebten alles.

Für sie waren nicht allein die Tiere, für sie waren auch die Pflanzen , sa die toten Dinge lebendige Wesen, mit denen die beiden verkehrten wie mit Vater und Mutter. Und es war seltsam, wie auch diese Wesen den Hauch der Liebe zu verspüren schienen. Begegnete das Nautendelein einem Blümchen, das sein Köpfchen hängen ließ, gleich beugte es sich nieder und hub mit ihm zu plaudern an, tröstete es und sprach ihm Mut zu. Und es geschah wohl alsdann, daß das Köpfchen sich wider aufrichtete, wenn auch nur ein klein wenig, und



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die müden Blättchen sich entfalteten. Rief aber das Mägdlein gar einen Sonnenstrahl zu Hilfe, dann lebte das Pflänzchen erst recht wieder auf. Das kranke Tännchen im Walde setzte neue Nädelchen an, das träge Bächlein floß muntrer, und selbst das Lüftchen blies nicht mehr so rauh, sobald sie die freundlich zusprechenden Worte des Kindes vernahmen.

Sie liebten alle Jahreszeiten und jedes Wetter. Sie liebten den Frühling und seine Tollheiten, die ruhigen Tage des Sommers und die schönen Nächte mit den leuchtenden Sternen, den leise plätschernden Herbstregen und den Wirbeltanz der Flocken im Winter. An jedem neuen Tag entdeckten die ewig staunenden Aeuglein ein neues Wunder, und in den seligen Träumen der Nacht erlebten sie das Wunder zum zweiten Male.

Wie einfach sie lebten!

Sie nährten sich von Brot und den Früchten und Beeren des Waldes. Sie tranken, frisch vom Euter weg, die Milch der Ziegen oder aus hohler Hand das schäumende Wasser des Wildbaches. Sie atmeten Tag und Nacht die reine Luft des Waldes und der Berge, und die Sonne durchstrahlte ihre Körperchen mit dem Lichte des Himmels.

Und wie sie dabei gediehen!

Schön war das Büblein mit seinem fein geschnittenen Gesicht, den blitzenden Augen und dem leichtfüßigen Gang; ein Märchenwunder aber war das Nautendelein. An Höhe freilich reichte es seinem Brüderchen nur bis zum Ohrläppchen; doch war es schlank und zierlich gewachsen wie ein Bäumchen im Wald und trug das holde Köpfchen gar anmutig wie ein Prinzeßlein. Auf dem schmalen Gesichtchen leuchteten die zarten Farben der Apfelblüte, aus den vergißmeinnichtblauen Aeuglein aber strahlte der ewige Frühling, und über die aus Himmelsluft und Sonnenglanz gewobene Gestalt floß in Fülle das golden schimmernde Haar.

Und wirklich wie ein Wunder erschien das liebreizende Kind gar oft



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auch dem Knaben, wenn er es mit wehenden Haaren und behenden Füßchen, einem Elfchen gleich, über Stock und Stein hin fliegen sah. Und er tat ihm alles zuliebe, was in seinen Kräften lag.

Von seinen Fahrten mit dem Vater brachte er ihm oft schön schillernde Fischchen heim, die er in den kleinen Teich setzte, der hinter dem Hause lag. Auch baute er ihm dort eine niedliche Grotte aus Muscheln und bunten Steinen. Im warmen Sommer kletterte er ab und zu in die sähen Felsen hinauf und pflückte für das Schwesterchen ein Sträußchen. Und wenn er dann heimkehrte, da sprang es ihm wohl jauchzend entgegen und rief schon von weitem:

"Hast auch etwas für mich, Ib?"

"Nein! " rief da wohl das Büblein zurück, und machte ein ernstes Gesicht. "Diesmal nicht.

Da verstummte das Kind, legte das Köpfchen schief und schaute betrübt zu Boden.

Im nächsten Augenblick aber zauberte das schalkhafte Büblein ein blühendes Sträußchen vor ihr Gesichtchen, also daß das betrübte Mägdlein jählings einen Freudenschrei tat und dem guten Brüderlein an den Hals flog.

Und alsogleich wand es jeweils all die himmelblauen und die blutroten und die silberweißen Pflänzchen mit den samtweichen Sternen zu einem Kränzchen, das es sich aufs liebliche Köpfchen setzte, legte sich ein aus Buchenzweigen geflochtenes Laubgewind um die Lenden und tänzelte nun wie ein närrisch gewordener Schmetterling um den staunenden Knaben herum, indem es hiebei mit seinem glockenreinen Stimmchen fang:

"Bin ich nicht das Rautendelein,
Das schöne Wald- und Bergmaidlein ?"

Dann klatschte wohl der Knabe vor Vergnügen in die Hände und rief:

"Ja, ja, das bist du. Doch sag, wer holte dir die Blümlein vom Berge herunter ?"



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Und die kleine Tänzerin fang:

"Ich hab ein Brüderlein gar fein,
Holt mir die schönen Vergblümelein.
Ich schmück mir damit mein golden Haar,
Nun bin ich ein Prinzeßlein gar.

"Nein, ein Herlegen bist! " rief alsdann das Büblein, ergriff das Hexlein schnell bet der Hand und sagte mit ihm wie der Wind dem Häuschen zu und zur Mutter, auf daß auch sie sich ihr bekränztes Kind anschauen möge.


Ein Rehlein wird gefunden

Eines Abends kehrte das Büblein nach Hause mit einem Rehlein auf den Armen. Wie er so durch den Wald gegangen war, hatte er plötzlich ein kläglich Blöken vernommen und am Fuße einer Tanne, unter Nadeln und Laubwerk halb vergraben, das arme Tierchen entdeckt , das wohl seine Mutter verloren.

Als Rautendelein das liebliche Geschöpf erblickte, war es ganz außer sich. ES schrie vor Freude und weinte aus Erbarmen, trug den Pflegling alsogleich in ihr Bettchen, wo er auch, eingenestelt zwischen den beiden Kindern, die ganze Nacht zubringen mußte. Das gute Pflegemütterchen tat fast kein Auge zu, so sehr bekümmert war es um das Wohl des Gastes, und als kaum der Morgen graute, hämmerte auch schon der kleine Pflegevater gar eifrig an einem Beschlage herum , in dem das Rehlein künftig untergebracht werden sollte.

Von nun an hatten die Kinder wochenlang alle Hände voll zu tun, um das Tierchen zu ernähren und aufzuziehen. Da es aber damals noch keine Milchflaschen gab, so behalf sich der findige Zunge mit dem dicken Stück eines Holunderastes, aus dem er das Mark trieb, dann das eine Ende verschloß und am andern Ende ein Saugröhrchen anbrachte. mer- oder fünfmal am Tage füllte er nun dieses seltsame Gefäßchen mit Milch, und das Rehlein erhielt zu trinken.

Das aber besorgte setzt das Schwesterchen, dem dieses Geschäft



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lein immer einen Augenblick hoher Freude gewährte. Sie setzte sich auf das niedre Bänklein vor dem Hause, nahm das hellbraune Geschöpfchen auf ihren Schoß, also wie eine Mutter ihr Kindchen, und führte das Röhrchen behutsam in sein Mäulchen. Beseligt schaute sie ihm dann zu, wie es begierig trank, streichelte es, gab ihm tausend zärtliche Namen und küßte es ab und zu auf sein Schnäuzchen. Gar oft setzte der Pflegling das Trinken für ein Weilchen aus, um zu husten oder zu erniesen dann wartete das Mägdlein geduldig, bis der Anfall vorüber war. Oder er nagte und zupfte wohl auch an des Kindes Ohrläppchen und schaute es dabei aus braunen Augen treuherzig an, als ob er fragte: So, bist du also mein neues Mütterchen ?"

Endlich aber konnte das Rehlein die Milch selber trinken. Es fraß auch Gras und Heu und übte sich fleißig im Springen. Und wenn es hiebei noch oft hinfiel, gleich waren die Kinder zur Hand und stellten es wieder auf du Veine.

Und dann kam die Zeit, wo es mit ihnen ums Haus und im Walde herumhüpfen konnte, zur großen Freude der kleinen Pflegeltern, die das lebhafte Tierchen mit all seinen drolligen Einfällen keinen Augenblick aus den Augen verloren.

So verstrich ein Tag nach dem andern, und die beiden jungen Menschenkinder im stillen Tale droben lebten recht vergnügt und glücklich.


Das geheimnisvolle Inselchen

Dem Hause gerade gegenüber ragte aus der Mitte des breiten Flusses ein liebliches Inselchen, das über und über mit hohen Tannen bewachsen war und also aussah wie ein schwimmendes Wäldchen. Rings um die Tannen schlang sich noch allerhand Erlen- und Weidengebüsch , so daß man von außen nicht merken konnte, wie das Innere des Eilandes beschaffen war.

Für die Fischerleute war dieses Inselchen eine Stätte, die keins



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von ihnen se betrat. Nie fuhr der Vater hinüber, dort seine Netze auszuwerfen, und oft bemerkten die Kinder, wie er nachdenklich auf das stille Wäldchen blickte. Auch der Mutter Auge ruhte manchmal versonnen auf jener Stelle. Doch sprach weder sie noch der Vater je ein Wort davon.

Die Kinder spürten wohl, daß es dort drüben uschi ganz geheuer sein müsse, und hüteten sich, hinüberzufahren oder hfnüberzuschwimmen. Auch wagten sie nicht, die Eltern darüber zu befragen, und also blieb das Eiland für die Kleinen lange ein Geheimnis. Sie sprachen davon fast jeden Tag. Oft, wenn die beiden beim Zunachten hinter dem Hause Fang mich! spielten, standen sie jählings still und schauten aus erschrockenen Augen zum Wäldchen hinüber, weil sie vermeinten, von dort her ein gar seltsam Singen und Klingen vernommen zu haben. Und am Abend, ehe die zwei ins Bett schlüpften, standen sie noch lange am Fenster und betrachteten die hohen Tannen, deren Wipfel sich leise im Winde bewegten und über denen die Sterne des Himmels zu funkeln begannen.

An einem Herbstabend erzählte das Büblein:

"Vater, da hab ich heut, wie ich den Fluß entlang ging, einen großen schneeweißen Vogel mit langem Hals und rotem Schnabel auf dem Wasser schwimmen sehen. bin ihm am Ufer nachgegangen, und setzt ist er auf der Insel drüben gelandet und hinter den Bäumen verschwunden. Sag, was ist das für ein Vogel und was tut er auf der Insel ?"

"Das ist ein Schwan ", antwortete der Vater. .Er dient den Zwerglein, wenn diese auf die Insel zu gehen wünschen. Die Neugier der Kinder wuchs.

"Zwerglein, sagst du? drängte der Knabe. ,Sind denn das Menschen ?"

"Ja, aber nur ganz kleine. Sie sind nicht größer als Ihr zwei. Sie haben einen langen Bart und tragen ein braunes Röcklein mit einer Kappe, du sie sich über den Kopf ziehen.

Und was tun sie?



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"Sie arbeiten im Innern der Erde, in weiten Hallen. Hier hämmern sie das Gold von den Wänden herunter und schmelzen es in großen Oefen. Und aus dem geschmolzenen Golde erstellen die geschickten Leute gar schöne Sachen.

"Ja, und wann gehen sie denn auf die Inseln

"Wenn sie müde sind und sich ausruhen wollen, oder ein Fest feiern. Dann steigen die Bergmännchen durch schmale Gänge ans Licht herauf, und die Schwäne tragen sie vom Ufer auf die Insel.

"Dann muß wohl drüben eine Höhle sein, damit sie darinnen wohnen können ;

"Ich weiß es nicht. Ich bin noch nie drüben gewesen.

"Und warum nichts Sind denn die Zwerglein höfe ? Und würden sie dir etwas zuleide tun, wenn sie dich sähen ?"

"Vielleicht. Die Zwerglein sind zwar gute Leute und tun sonst keinem Menschen etwas an. Doch haben sie nicht gern, wenn man sie belauscht oder neckt.

"Deswegen also gehst du nie nach dem Inselchen hinüber?"

Ja, deswegen. Und Ihr solli es auch nicht tun. Nie. Leicht daß es euch sonst schlimm ergehen könnte.

"Das werden wir sa auch nwt, Vater.

Ein Weilchen blieb es still in der Stube. Da fragte das Rautendelein:

"Vater, gibts noch andere kleine Leute auf der Welt so wie diese Zwerglein ?

"Kleine nicht, Kind. Aber große, wie erwachsene Menschen. Man nennt sie Elfen und Sien.

"Elfen, Vater ? Was sind denn das ?

"Das sind Wesen, du in der Luft wohnen und die des Nachts, wenn der Mond scheint und die weißen Nebel über die Wälder ziehen, die Hände reichen und Ringelreihen tanzen.

Und die Nixen, Vater ?

"Die Nixen leben im Wasser. Das sind schöne Frauen mit blondem Haar, mit grünen Augen und blendend weißer Haut. Vor denen



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— und der Vater lächelte schalkhaft — müssen besonders du kleinen Mägdlein auf der Hut sein. Denn wenn sie ein solches erblicken und es kommt nahe ans Ufer, schlingen sie ihre langen Haare um seine Füße und ziehen es zu sich in die dunkle Tiefe hinab.

Dem Mägdlein gruselte.

"Brr! " machte es und schüttelte seinen Schopf. "Von nun an, Vater, will ich immer gut achtgeben, wenn ich am Wasser bin, damit sie mich nicht erwischen können.

"Du hast recht, Kind. Freilich, wer ein gut Gewissen hat und nichts Böses tut, der braucht sich weder vor Zwergen, noch vor Elfen und Nixen zu fürchten. Dem tun sie schwerlich etwas zuleide.


Am Herdfeuer wird etwas beschlossen

Am folgenden Morgen sprangen die Kinder schon früh aus ihrem Bettchen, tranken ihr Näpflein Milch und trieben die Ziegen durch den Wald und hinauf gegen die Weide. Das Rehlein hüpfte munter um sie her.

Als die beiden auf der Weide anlangten, suchten sie Reisig und trockene Aeste zusammen, zündeten ein Feuerlein an und setzten sich drum herum. Die Ziegen grasten friedlich in ihrer Nähe ; das Rehlein aber bettete sich das Mägdlein sorgsam auf ihren Schoß.



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Ein Weilchen betrachteten die Kinder die Rauchwölklein, die lustig in die herbstlich klare Luft stiegen. Plötzlich aber, fast wit auf ein Zeichen, drehten sich ihre Köpfchen dem Inselchen zu, das ihnen von hier aus, da es so gar tief im Tale drunten lag, nur wie ein Pünktlein erschien. Und alsogleich öffnete das Mägdlein seinen Mund und hub an:

"Es nimmt mich nur wunder, was es denn auf dem Inselchen zu sehen gibt. Da muß ganz gewiß ein Häuschen sein.

"Ein Häuschen ?" rief das Büblein, und machte große Augen. "Du glaubst also, daß du Zwerglein in einem Häuschen wohnen wie wir ?

"Ei freilich ", eiferte das Mägdlein. "Nur, da sie nicht größer sind als wir, so wird auch ihr Häuschen kleiner sein als das unsrige. Und wie niedlich wird es darinnen aussehn! Da wird gewiß alles ganz klein sein: Tische, Stühle, Teller, Gabeln, Löffel, Messer — alles, alles, alles! Ach, das möchte ich ums Leben gern einmal sehen. Und du ?

"Ich auch."

Die Mündchen verstummten für eine Weile. Dafür schauten die Augen um so sehnsüchtiger hinab nach dem geheimnisvollen Eiland. Plötzlich flüsterte das Mägdlein:

"Was meinst, Ib, wenn wir einmal hinübergingen ?"

"Wir? " rief der Knabe erschrocken. "Das dürfen wir nicht. Der Vater hat es ja verboten.

"Freilich ", meinte das Mägdlein, "doch seh ich dabei nichts so Schlimmes. Wir fahren einfach hinüber, gucken ein bißchen durch die Bäume und kehren geschwind wieder um.

"Aber der Vater hat doch gesagt, es könnte uns leicht etwas geschehen.

"Etwas geschehen ? Ich wüßte auch nicht was. Ach, , sei doch mein liebes Brüderchen und tu mir den Gefallen. Uebrigens werd ich dem Vater alles sagen, aber erst, wenn wir einmal drüben gewesen



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sind. Und auch der Mutter will ich's sagen. glaube nicht, daß sie uns böse sein werden.

Der gute Junge ließ sich überreden, und den ganzen Tag hüpfte das Rautendelerin ihrer Vorfreude wie toll auf der Weide umher.


Das Abenteuer

An einem der folgenden Nachmittage, als die Sonne gar warm schien wie Sommer und die Eltern draußen im Walde zu tun hatten, eilten die abenteuerlustigen Kinder zum Ufer des Flusses, um auf des Vaters Schifflein zum Inselchen hinüberzusteuern. Doch siehe da! Das Schifflein war so fest angebunden, daß die vier flinken Händchen sich vergeblich mühten, die Stricke zu lösen. Dem Mägdlein standen schon fast die Tränen in den Augen, da ihm nun sein sehnlicher Wunsch nicht erfüllt werden sollte, als es plötzlich rief:

"Jetzt weiß ich was wir tun, Ib. Wir schwimmen einfach hinüber.

Das gefiel auch dem Büblein, und beide eilten alsogleich Hand in Hand flußaufwärts zu einer Stelle, von wo aus sie die Insel schwimmend zu erreichen hofften.

Hier angekommen, warfen sie ihre Hüllen ab, Ib sein Fellhöschen, Rautendelein ihr Schürzchen, und sprangen kopfüber ins Wasser. Emsig ruderten die vier Aermchen, um ja nicht zu weit flußabwärts getrieben zu werden, und die beiden Flachsköpfchen schaukelten auf den Wellen gar lustig auf und nieder. Einen Herzschlag lang vermeinte das Rautendelein, seine Veine wären in die Haare einer Wasserfrau geraten ; doch war es nur ein Wirbelchen gewesen. Und als sie ihrem Ziele schon gar nahe waren, da schnellte gerade vor seinem Kopf ein großer Fisch in die Höhe, daß es jählings einen Schrei tat und beinahe das Schwimmen vergessen hätte. Endlich aber fühlten sie festen Grund unter ihren Füßen, die Hände haschten gierig nach dem Schilf- und Seerosengeflecht, und im nächsten Augenblick standen die beiden Nixenkinder glücklich auf dem Ufer des lang ersehnten Eilandes.

Das Mägdlein schüttelte das Wasser aus seinem Schöpfchen und schnappte nach Luft; dann aber faßte es gleich des Brüderleins Hand,



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denn ihm war mit einem Male so gar schwül ums Herz. Auch dem Büblein lief es plötzlich recht kalt über den Rücken, obwohl die Sonne ordentlich warm auf sie herniederfchien. Die beiden mochten wohl fühlen, daß es halt doch ein gar gefährlich Unternehmen war, das sie sich da in ihren Köpfchen ausgeheckt, und konnten sich erst nach längerm Zögern entschließen, nun ihre Entdeckungsreise zu beginnen.

Furchtsam trippelten die Kinder, die Händchen fest ineinander verschlungen, dem Ufer entlang, schauten bald nieder auf das glänzende Wasser, das sie eben durchschwommen, oder hinauf zu den geheimnisvollen Tannen, die über dem gelblichen Gezweig der Erlen und Weiden in die Höhe ragten. Fiel ein Blättlein vor ihnen nieder, raschelte ein Eidechschen durchs Laub, oder flog ein Vögelchen über sie hin, so standen die zwei erschrocken still, oder wollten gleich entfliehen. Ein Eichkätzchen, das auf dem Aste einer Tanne saß und an einer Haselnuß knusperte, schaute die ungefiederten Gäste aus klugen Aeuglein verwundert an. Dann warf es die Nuß von sich, die dem Mägdlein gerade vor die Füßchen fiel.

Endlich aber faßten sich die Kinder ein Herz und drangen gegen das Innere des Inselreiches vor. Behutsam arbeiteten sie sich durch das Gezweig, taten auch ein paar Schrittchen unter den Tannen, die sich mehr und mehr lichteten, und setzt sahen sie mit einem Male etwas, das sie weder im Wachen noch im Traume se zu sehen erhofft hatten.

Ihnen gerade gegenüber erhob sich, in einen Felsen eingebaut, ein dunkelblau schimmerndes Schlößchen nitt goldnen Erkerchen und Türmchen und mit in Gold gefaßten Fensterchen und Türchen. Ein breites Treppchen führte zum Schlößchen hinan. Davor lag ein zierlich angelegtes Gärtlein mit gar seltsamen Blumen und Blattpflanzen, mit Weglein, grünen Bänklein und Grotten und mit einem Wässerlein in der Mitte, wo ein glitzernder Strahl hoch in die Luft stieg und ein leuchtend weißer Schwan langsam hin und her ruderte. Und rings um dieses entzückende Bild standen wie Wächter die hohen Tannen der Insel.



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Das Strafgericht

Wie Bildsäulen standen die Kinder. Mit weit aufgesperrten Augen und halboffnem Mund, die nackten Körper vornüber gebeugt und die Hände fest verkrampft, starrten sie hinüber auf das Märchenwunder und vergaßen in wonnigem Erschauern alles um sich her und die ganze Welt.

Da öffnete sich plötzlich eins der goldumrahmten Fensterchen, und die beiden erblickten Kopf und Bart eines Zwergleins, das sie einen Augenblick aus schwarzen Augen anfunkelte, um gleich darauf zu verschwinden und unter der Türe zu erscheinen.

Jetzt fuhr ein jäher Schrecken durch ihre Glieder. Die Hände lösten sich, sie wandten sich um und rannten über Kopf und Hals, das Büblein voran, durch das Dickicht zurück und den Weg entlang, den sie gekommen, das Zwerglein — sie spürten es deutlich — in hellen Sätzen hinter ihnen her.

In seiner Hast strauchelte das Büblein an einer Baumwurzel und stürzte zu Boden. Das Mägdlein tat einen Schrei und purzelte über sein Brüderchen hin. Im Schwick aber standen sie wieder auf den Füßen und wollten nun kopfüber ins Wasser springen, um so schnell wie möglich das jenseitige Ufer zu erreichen.

Gerade in diesem Augenblick aber holte sie das Wichtelmännchen ein, erhaschte mit flinken Händen die beiden Fröschlein am Fußknöchel und zerrte sie trotz ihrem Geschrei und Gezappel zum Ufer zurück.

Da standen nun die Kinder, die Aermchen an die Stirn gepreßt, und schluchzten herzbrechend, also daß ihre Brust zuckend auf und nieder wogte und ihnen die Tränen stromweise über die Wangen liefen.

"Wißt Ihr nicht ", herrschte sie setzt das Zwerglein mit böser Stimme an, daß man uns nicht belauschen soll?

"Doch ", jammerte das Büblein. "Der Vater — hat es — uns gesagt —

"Warum habt Ihr es dennoch getan ?"



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"Weil — weil — wir gerne — gewußt hätten — wie es — bei euch — aussehe —"

"Wollt Ihr es nicht wieder tun ?"

"Nie — nie wieder ", kam es wie erlösend über die Lippen der beiden.

Das Zwerglein fragte nicht weiter. Und als die Kinder nach einer Weile ihre Aermchen von der Stirne zogen und sich scheu umblickten, da war es verschwunden.

Am Abend erzählten sie ihren Eltern bleich und zitternd, was sie angestellt hatten und wie es ihnen auf dem Inselchen ergangen war. Der Vater hielt die Kleinen für genug gestraft und ermahnte sie nur, seine Gebote künftig genau zu beachten und nicht um Fingerbreite davon abzuweichen. Die Kinder versprachen es unter Tränen, und mählich kehrten Glück und Freude in ihre Herzen zurück.

Das blaue Schlößchen aber mit den goldenen Türmchen und dem wundersamen Gärtlein wollte ihnen nicht mehr aus dem Sinn.


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