Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


26. M'chetisch und die Teriel

Ein Mann namens M'chetisch wohnte in der Nachbarschaft einer Teriel (= menschenfressende Frau), die ungeheuer reich war. M'chetisch nahm sich vor, sich einiges von dem Reichtum anzueignen.

Eines Tages hängte die Teriel ihren Schlafteppich in die Sonne. M'chetisch sah ihn tagsüber hängen, betrachtete ihn, fand, daß es ein sehr schöner Teppich war und ging in sein Haus zurück. Er kam mit einer guten Handvoll Nadeln zurück; die steckte er an vielen Stellen in den Teppich und ging dann wieder in sein Haus. Abends kam die Teriel, ergriff ihren Teppich, trug ihn hinein und legte ihn auf ihre Schlafstatt. Dann streckte sie sich auf den Teppich aus, um zu schlafen. Sie sprang aber sogleich wieder auf, denn die Nadeln stachen sie. Sie legte den Teppich anders herum, sprang aber sogleich wieder empor, denn die Nadeln stachen abermals. Sie drehte und wendete sich auf dem Teppich. Sie mochte sich aber legen, wie sie wollte, überall stachen sie die Nadeln. Darüber wurde sie zuletzt



Atlantis Bd_02-217 Flip arpa

so zornig, daß sie den Teppich zum Fenster hinauswarf, sich auf die glatte Matte legte und ohne Teppich schlief. — M'chetisch hatte aber auf alles wohl acht gegeben. Sobald die Teriel den Teppich hinausgeworfen hatte, schlich er sich heran und holte ihn sich. Er trug den Teppich in sein Haus, zog die Nadeln heraus und sagte: "Du mein lieber, guter, glatter Teppich!"

Die Teriel hatte eine sehr schöne Steinmühle (= tissirt). M'chetisch sagte: "Diese Mühle möchte ich sehr gerne haben. Sollte es nicht eine Möglichkeit geben, diese Mühle zu erhalten? Weshalb sollte mir das nicht gelingen?" Als die Teriel eines Tages auf dem Acker war, stieg M'chetisch zu ihrem Fenster empor und sah sich die Lage der Mühle an. Die Mühle stand in dem Torhaus, nicht weit von der Tür; in der Tür war ein Schlitz. M'chetisch suchte sich einen gekrümmten Stock, mit dem er durch den Schlitz in der Tür langen und den Griff der Steinmühle ergreifen konnte. Er versteckte seinen Stock und ging nach Hause. Abends kam die Teriel nach Hause und streckte sich auf ihrem Lager aus. Die Teriel schlief ein und M'chetisch kam herangeschlichen, nahm den Stock, führte ihn durch den Türschlitz und hakte ihn in den Griffstock des Mühlsteines. Dann drehte er die Mühle, die so laut knarrte, daß die Teriel sofort aufwachte. Die Teriel erwachte und schrie sogleich: "Tissirt sei still! Du hast nachts nichts zu mahlen." M'chetisch hielt inne und wartete einige Zeit, so lange, bis die Teriel wieder eingeschlafen war. Dann aber begann er von neuem zu drehen, so daß die Teriel wieder erwachte und noch zorniger der Mühle verbot, zu mahlen. Kaum war die Teriel aber eingeschlafen, so fing er von neuem an, die Mühle in Bewegung zu setzen und zwar diesmal noch schneller und somit lauter. Die Teriel fuhr daraufhin voller Wut aus dem Schlafe und aus dem Bett empor und auf die Mühle zu. M'chetisch zog schnell seinen Hakenstock weg. Die Teriel aber ergriff in äußerstem Grimme die Mühle und warf die beiden Steine zum Fenster hinaus. Dann legte sie sich wieder zum Schlafen nieder. — M'chetisch wartete, bis die Teriel fest eingeschlafen war, dann schlich er sich zu dem Platze, wo die Mühlsteine lagen und trug sie hocherfreut in sein Haus. Er stellte sie in seinem eigenen Torhause auf, mauerte den Mühlstein in die Lehmwand ein und sagte: "Du meine liebe Mühle, ich danke dir, daß du zu mir gekommen bist."

Die Teriel hatte eine sehr große und fette Henne. Im ganzen Lande hatte kein Mensch eine so fette Henne wie die Teriel. Die Henne war bekannt im ganzen Lande, und jeder beneidete die Teriel



Atlantis Bd_02-218 Flip arpa

um die Henne. Mancher hatte sich schon angeboten, viel für die Henne zu zahlen. Die Teriel sagte aber stets: "Weshalb soll ich die fette Henne verkaufen? Ich bin reicher als ihr alle." M'chetisch kannte die Henne. Er hörte, wie die Teriel das sagte, und er dachte bei sich: "Weshalb soll die Teriel für die fette Henne auch so viel Geld bekommen, wenn sie schon genug davon hat. Und wenn die Henne schon doch einmal gegessen werden wird, so ist es für mich besser, ich esse sie, als die Teriel. Ich werde mir also die fette Henne schenken lassen." Am andern Morgen ging die Teriel wie immer auf ihren Acker zur Arbeit. M'chetisch ging hin und fing die fette Henne. Er band der Henne unter dem Schwanze zwei Federn so fest zusammen, daß die fette Henne Schmerzen empfand. Dann setzte er sie wieder in das Haus der Teriel. Abends kam die Teriel vom Acker nach Hause. Die fette Henne flatterte unruhig von einer Ecke zur andern. Die Teriel achtete erst nicht darauf. Sie legte sich zum Schlafen nieder. Die fette Henne flatterte aber immerfort umher, so daß sie mit ihrem Gackern und Flattern die Teriel nicht zur Ruhe kommen ließ. Die Teriel erhob sich nach einiger Zeit, unruhig, zündete das Licht wieder an und sah, was die fette Henne habe. Sie sah, wie die fette Henne flatterte, gackernd von einer Stelle zur andern flog und von Zeit zu Zeit mit dem Schnabel an den Federn unter dem Schwanz zerrte. Die Teriel ergriff die fette Henne und sagte: "Zeige doch einmal, was du da machst." Die Teriel betrachtete die fette Henne und sagte: "Du törichtes Vieh, was ist es für eine neue Sache, daß du dir die Federn unter dem Schwanz zusammenbindest. Tu das nicht wieder!" Sie riß die zusammengebundenen Federn auseinander, ließ die fette Henne fliegen und legte sich wieder zum Schlafen nieder, und die von dem Schmerz befreite Henne störte sie nicht mehr. —Als die Teriel aber am andern Tage wieder auf dem Acker war, fing M'chetisch die fette Henne wieder und band wieder zwei ihrer Federn unter dem Schwanz zusammen, so daß sie die Teriel am Abend ebenso sehr störte wie tags zuvor. Die Teriel erhob sich infolgedessen auch an diesem Abend nochmals vom Lager, ergriff die fette Henne, besichtigte sie und sagte: "Du ungezogenes Tier, hast dir ja schon wieder die Federn unter dem Schwanze zusammengebunden. Wenn du es jetzt noch einmal tust, werde ich dich töten." Sie löste die Federn der fetten Henne und legte sich wieder nieder. Als sie am andern Tage aber wieder auf dem Acker war, band M'chetisch abermals die Schwanzfedern der fetten Henne zusammen, und als das



Atlantis Bd_02-219 Flip arpa

Tier am Abend die Teriel wiederum durch Flattern und Gackern am Einschlafen hinderte, war der Zorn der Teriel bis zum äußersten gereizt. Sie ergriff die fette Henne, betrachtete sie und sah, daß die Federn wieder zusammengebunden waren. Sie sagte: "Was, du törichtes Tier, wagst es, solche Gewohnheiten anzunehmen? Nun werde ich dir den Kopf an dem Felsen zerschlagen." Damit warf sie die fette Henne zum Fenster hinaus. Draußen stand aber M'chetisch und fing die Henne auf. Er sagte: "Weshalb soll die fette Henne denn erst auf den Felsen fallen. Ich kann sie auch so töten." Dann drehte er ihr den Hals ab und trug sie in sein Haus, wo er sie sogleich rupfte und ausnahm. Die Teriel horchte noch einen Augenblick. Sie hörte die fette Henne draußen nicht mehr und sagte bei sich: "Sie ist also mit dem Kopf auf den Felsen gefallen und tot. Morgen früh werde ich sie holen und zubereiten." Die Teriel schlief ein. M'chetisch verzehrte die fette Henne. Am andern Morgen kam die Teriel heraus und suchte die tote fette Henne. Sie fand aber die fette Henne nicht. Darauf wurde sie sehr böse und sagte: "Sollte etwa mein Nachbar, der M'chetisch, die tote Henne gefunden und an sich genommen haben?"



***
Es kam die Zeit, daß die Feigen reif wurden, und die Feigen im Garten der Teriel waren viel schöner als die irgendeiner andern Farm in der Gegend. Wenn M'chetisch zu seinem Acker ging, kam er an dem Feigenbaum der Teriel vorüber, und jedesmal zog er einen Zweig herunter und sah, wie groß sie seien und ob sie bald reif sein würden. M'chetisch sagte dazu stets: "Das sind Feigen, wie man sie im ganzen Lande nicht wieder findet. Das sind die Feigen, wie sie einem klugen Manne zukommen." Eines Tages, als er die Feigen wieder untersucht hatte, sagte er: "Morgen sind sie gut für mich. Nun will ich doch einmal sehen, wie lange die Teriel dazu nötig hat, mich zu erwischen und in ihr Haus zu bringen." Am andern Tage kam er mit einem Korb und pflückte den ganzen Korb voll Feigen der Teriel. Am zweiten Tage stahl er ebensoviele Feigen. Am dritten Tage wiederholte er das Geschäft, und an diesem Abend sah die Teriel, daß ein guter Teil ihrer Feigen gestohlen war. Die Teriel sagte: "Den Dieb, der das getan hat, will ich schon greifen. Ich werde mich morgen im Gebüsch verstecken."

Am andern Tage kam die Teriel ganz früh mit einer Girba (also Hammelfellsack; im Kabylischen = tailut oder taschuleut) und versteckte sich im Gebüsch. Wenig später kam M'chetisch mit



Atlantis Bd_02-220 Flip arpa

seinem Korbe, stieg auf einen Baum und begann Feigen zu stehlen. Er war aber noch nicht lange bei der Arbeit, da kam die Teriel herangeschlichen und ergriff ihn bei den Beinen. Sie zog ihn herunter und sagte: "Also du, mein lieber Nachbar, bist der Dieb meiner Feigen! Ich habe mir schon lange gedacht, daß du schon meine fette Henne von dem Felsen weggestohlen hast. Wenn du nun durch meine Henne und meine Feigen dich fett genug gemacht hast, dann kann ich dich ja auch verspeisen. Komm also in die Tailut." Damit steckte sie ihn in den Ledersack, warf diesen über die Schulter und ging mit ihm nach Hause.

Unterwegs sagte M'chetisch: "Es ist wahr, daß ich mich durch die Schönheit deiner Feigen habe verleiten lassen, deine Feigen zu stehlen, daß ich aber deine fette Henne gestohlen habe, ist nicht wahr. Deine fette Henne lebt noch!" Die Teriel sagte: "So, meine fette Henne lebt also noch. Nun, wo ist denn meine fette Henne?" M'chetisch sagte: "Wenn du den Weg an der Quelle vorüber nimmst, wirst du deine fette Henne wiederfinden, denn sie lebt noch und ist nur gestohlen." Die Teriel schlug also den Weg an der Quelle entlang ein. Als sie nahe der Quelle angekommen war, begann M'chetisch das Gackern der fetten Henne nachzuahmen, und da er dabei die Hand vor den Mund nahm und außerdem in dem Ledersack eingebunden war, so klang es für die Teriel, als gackere die fette Henne weit entfernt im Busch. Die Teriel begann zu laufen. Der Ledersack mit M'chetisch wurde ihr schwer. M'chetisch rief: "So leg doch den Ledersack an der Quelle ab und lauf dem Gackern nach. Du kannst mich ja nachher wieder abholen." Die Teriel sagte: "Du bist gar nicht so dumm. Dieses Mal hast du recht." Die Teriel legte den Ledersack mit M'chetisch auf die Erde und lief fort, um die fette Henne in dem benachbarten Gehöft zu suchen.

Kaum war die Teriel fortgegangen, so zog M'chetisch sein Messer aus der Scheide und begann die Fäden, mit denen der Ledersack zugebunden war, aufzuschneiden. Er kroch aus dem Ledersack heraus und trug eilig große Steine zusammen, die er in den Leder. sack füllte. Dann band er ihn wieder zu und lief, so schnell er konnte, von dannen. Inzwischen stritt die Teriel sich mit den Leuten im benachbarten Dorfe herum. Die Leute erklärten, von der fetten Henne nichts zu wissen; zuletzt mußte die Teriel unverrichteter Sache wieder zur Quelle zurückkehren.

Die Teriel kam zur Quelle und hob den Ledersack auf. Sie



Atlantis Bd_02-221 Flip arpa

sagte: "Jetzt möchte ich nur wissen, ob du mir mit der fetten Henne etwas vorgelogen hast oder nicht." Die Teriel wartete einige Zeit und sagte dann: "Du scheinst nicht mehr reden zu wollen, Nachbar M'chetisch! Du wirst im Kochtopf aber genau so gut schmoren, ob du vorher stumm bist oder ob du lügst."

Die Teriel trug den Ledersack ein Stück weit. Nach einiger Zeit begannen aber die harten Steine sie auf dem Rücken zu drücken. Die Teriel sagte: "Nimm einmal deine Knie etwas zur Seite, sonst hacke ich sie dir zu Hause ab." Als im Sack sich nichts rührte, sagte, die Teriel: "Der Nachbar M'chetisch spricht nicht mehr, er nimmt die Knie nicht zur Seite; wird anscheinend immer schwerer. Er ist vielleicht gar im Ledersack gestorben. Ich werde ihn zu Hause gleich mit dem Ledersack in den Kochtopf werfen." Die Teriel eilte, so schnell es ihr die Steinlast, die sie schleppte, erlaubte, nach Hause.

In ihrem Hause rief die Teriel ihre Tochter herbei und sagte: "Schüre sogleich das Feuer und setze den großen Kochtopf auf. Ich habe den M'chetisch hier im Ledersack gefangen und will ihn gleich heute zubereiten." Die Tochter der Teriel schürte das Feuer. Sie setzte den großen Kochtopf auf und dann warf die alte Teriel den Ledersack wie er war in den Kochtopf. Die Steine waren aber zu schwer, und sogleich zerbrach der Topf, so daß der Ledersack durch die Scherben ins Feuer fiel. Das Feuer fraß aber sogleich das Leder, und nun fielen die Steine, die M'chetisch gesammelt hatte, nach allen Seiten auseinander. Die Teriel erkannte nun, daß M'chetisch gar nicht mehr im Ledersack gewesen war. Sie sah, daß ihr M'chetisch entgangen war und wurde über die Maßen zornig. Die Teriel schwor: "Wenn ich diesen M'chetisch wieder irgendwo treffe, so soll er mir nicht wieder aus den Händen kommen, ich werde ihn dann verschlingen."



***
M'chetisch lief nach Hause, setzte sich hin und sagte: "Dieses Mal hat die alte Teriel mich noch nicht bis in ihr Haus getragen. Ich bin sehr neugierig darauf, wieweit sie mich das nächste Mal bringen wird. Morgen werde ich jedenfalls wieder einige ihrer ausgezeichneten Feigen stehlen." Am andern Tage ging M'chetisch wieder mit einem Korbe in die Farm der Teriel und stahl Feigen. Am zweiten Tage stahl er eine noch größere Menge. Am vierten Tage stahl er soviele, daß die Teriel es merkte und am Abend, als sie durch ihre Farm nach Hause ging, bei sich sagte: "Es scheint



Atlantis Bd_02-222 Flip arpa

mir, als ob so gut wie gar keine Feigen mehr an den Bäumen sind, und da ich selbst noch keine gegessen habe, so meine ich, es müßte doch wohl einmal wieder ein Dieb bei der Arbeit sein. Vielleicht ist dieser Dieb mein alter Freund M'chetisch. Ich werde mich morgen im Gebüsch verstecken und will sehen, ob der Dieb klüger ist oder die alte Teriel."

Am andern Morgen versteckte die alte Teriel sich mit ihrem Ledersack im Gebüsch. Sie wartete noch nicht sehr lange, da kam auch schon M'chetisch mit seinem Korbe an und stieg auf einen Feigenbaum. Die alte Teriel sprang herzu und packte ihn an einem Bein. M'chetisch sagte: "Da bist du ja wieder, alte Freundin! Du bist zu ungeduldig, ich tue schon alles, was ich kann, um mich fett zu machen und so zu einer würdigen Speise für dich und deine Schwestern zu werden. Du siehst, ich esse zu diesem Zweck so viele Feigen, als ich vermag. Du aber störst und erschreckst mich immer, so daß ich statt fetter zu werden immer mehr abmagere. Jeder vernünftige Mensch mästet aber sein Huhn, ehe er es schlachtet." Die Teriel sagte: "Für meinen Kochtopf bist du wohl fett genug. Das können wir aber feststellen, wenn wir bei mir zu Hause sind." Damit nahm sie ihn und steckte ihn in ihren Ledersack.

Die alte Teriel trug den über die Schulter geworfenen Ledersack mit M'chetisch darin von dannen und ging mit der Last geradeswegs auf ihr Haus zu. Als sie in der Nähe der Quelle war, gackerte M'chetisch wie das erstemal aus dem Sack heraus. Die alte Teriel schüttelte aber den Kopf und sagte: "Noch einmal werde ich mich mit dem Bauer in dem Gehöft da nicht zanken. Erst gehe ich nun einmal nach Hause!" Sie trug M'chetisch in dem Ledersack bis in ihr Gehöft und nahm ihn dann herunter.

Daheim angekommen, rief die alte Teriel ihre Tochter und sagte: "Nun habe ich den Nachbar M'chetisch wieder eingefangen, und ich will ihn nicht wieder entlaufen lassen. Mache also erst die Hoftür gut zu und höre dann mit an, was der Mann mir sagt." Die Tochter schloß die Hoftür und kam zurück. Die Teriel öffnete den Leder.. sack ein wenig und sagte: "Nun, Nachbar M'chetisch, wiederhole noch einmal, was du vorhin vom mageren oder fetten Fleisch gesagt hast. Da du ein kluger Kerl bist, ist vielleicht etwas Wahres daran."

M'chetisch sagte: "Natürlich ist das wahr, was ich sage, und deine Tochter, die doch ein gutes Teil Klugheit von dir geerbt hat, wird mir recht geben, wenn ich sage, daß man ein gutes Huhn, wenn es



Atlantis Bd_02-223 Flip arpa

abgemagert ist, erst mästet, ehe man es schlachtet. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mich, den Nachbar M'chetisch, erst für einige Zeit in eine Akufin (= große Speicherurne) setzen und da ordentlich füttern, so daß er fett wird, und würde erst, wenn er ordentlich gemästet ist, ihn kochen und deinen Schwestern, den Teriel,-vorsetzen." Die alte Teriel sagte: "Was meinst du dazu, meine Tochter?" Die Tochter sagte: "Es scheint mir kein schlechter Vorschlag. Auch braucht man den Akufin nur immer gut zuzudecken, um es zu verhindern, daß der M'chetisch uns entschlüpft." Die alte Teriel sagte: "Ich bin damit einverstanden."

M'chetisch wurde nun in einen großen Akufin gesteckt. Dann deckte die Tochter die Speicherurne mit einem schweren Steine zu. M'chetisch sagte: "Bis in ihr Haus hat die alte Teriel mich jetzt gebracht. Auch hat sie mich hier im Akufin ganz dicht am Zwischenboden hingesetzt, so daß ich nur den Deckelstein über mir etwas zur Seite schieben zu lassen brauche, um gleich auf dem Zwischenboden zu sein. Und auf dem Zwischenboden wird sie ja wohl all die Schätze haben, von denen ich beim Abschied von der alten Teriel mir nur einen Teil mitzunehmen brauche, um in Zukunft in einem andern Lande sorgenlos leben zu können. Erst soll die Alte mich nun einmal nach meinem Geschmack eine Zeitlang ernähren."

M'chetisch saß in dem Akufin, der oben mit einem Steine geschlossen war und bekam täglich sein Essen hereingeschoben. M'chetisch ließ sich das geben, was ihm zusagte. Bekam er etwas, was er nicht mochte, so sagte er: "Davon werde ich nicht fett. Ich muß dies und das haben, um fett zu werden." Wollte die alte Teriel oder ihre Tochter etwas dagegen einwenden, so sagte er: "Ich muß doch zuletzt am besten wissen, wovon ich fett werde." Nach einigen Tagen fragte die alte Teriel: "Bist du denn noch nicht fetter?" M'chetisch sagte: "So schnell geht das nicht. Ich bin noch recht abgemagert!" Die alte Teriel sagte: "So stecke einmal einen Finger heraus." Darauf steckte M'chetisch den Griff eines hölzernen Breilöffels heraus und sagte: "So überzeuge dich selbst!" Die alte Teriel sagte: "Es ist wahr, der Finger ist noch recht mager. Man muß ihm mehr Fleisch geben. Was ist deine Meinung, meine Tochter?" Die Tochter befühlte auch den hölzernen Griff des Löffels und sagte: "Hier ist noch nichts von Fett zu spüren. Wir wollen einige Hühner schlachten. Bist du denn der Meinung, daß du von Hühnern fetter werden wirst?" M'chetisch sagte: "Ich



Atlantis Bd_02-224 Flip arpa

denke ja, aber erst braucht es einige Zeit, und dann kommt das Fett eines Tages ganz von selbst. Es ist mir recht, schlachtet mir zunächst nur jeden Tag ein Huhn, im übrigen werde ich immer selbst sagen, was meinem Fett am zuträglichsten ist."

M'chetisch saß in seinem Akufin, ließ sich die beste Nahrung geben und zeigte von Zeit zu Zeit seinen Holzlöffelstiel als Zeichen noch ungenügender Ernährung, bis er sich eines Tages sagte: "Nun wird mir der Aufenthalt in dem Akufin allmählich langweilig. Nun will ich mich langsam zum Abschied vorbereiten." Als die alte Teriel an diesem Abend nach Hause kam, rief er sie an und sagte: "Nachbarin Teriel, komm einmal näher heran. Ich habe dir eine fröhliche Botschaft zu berichten." Die alte Teriel trat heran und sagte: "Was gibt es denn?" M'chetisch sagte: "Faß einmal heute meinen Finger an! He! Ist er nicht schon bedeutend fetter?" Dabei reichte er seinen wirklichen Finger heraus. Die alte Teriel befühlte den Finger und rief: "Ah! du hast recht! Meine Tochter, komm nur selbst einmal her und befühle den Finger. Er ist viel fetter!" Die Tochter kam, befühlte und sagte: "Es ist wahr! M'chetisch ist schon ganz gut gemästet." M'chetisch sagte: "Seht ihr, wie recht ich hatte, als ich euch immer meine Ratschläge gab? Seht ihr, wie ich zugenommen habe. Nun gilt es, mich für die letzte Zeit sehr sorgfältig und abwechslungsreich weiterzupflegen."

Die alte Teriel sagte: "Was muß man denn nun vor allem tun, um dein Fettwerden zu beschleunigen? Sollen wir noch einige Hühner schlachten?" M'chetisch sagte: "Nein, meine Nachbarin Teriel, Hühner tun es jetzt nicht. Von jetzt ab gebt mir Tauben. Dazu brauche ich vor allen Dingen mehr frische Luft, denn eine gute Mästung muß eine gute Ausdünstung haben. Deshalb schiebt jeden Tag für einige Stunden den Steindeckel beiseite. Wenn ihr. ihn nur bis zur Hälfte wegschiebt, kann ich nicht heraus, weil ich schon zu fett bin. Verfährt in dieser Weise, und ich werde in wenigen Tagen soweit sein, von diesem Leben Abschied zu nehmen." Die alte Teriel sagte zu ihrer Tochter: "Was meinst du hierzu?" Die Tochter sagte: "Tauben können wir ja leicht bei Nachbarn kaufen, da wir in der linken Ecke hinten im Zwischen.. boden einen Sack voll Gold haben. Und daß dem M'chetisch jetzt etwas frische Luft gut tut, will ich auch gerne glauben." Die alte Teriel sagte: "So tue es so, wie M'chetisch es angeordnet hat. Er ist nicht dumm und weiß wirklich am besten, was ihm gut ist."

M'chetisch erhielt nun vor allen Dingen das Fleisch junger Tauben.



Atlantis Bd_02-225 Flip arpa

Außerdem schob die Tochter jeden Tag für einige Stunden den Steindeckel erst ein wenig, dann alle Tage ein wenig mehr beiseite, ganz nach den Anordnungen M'chetisch. Wenn zu der Zeit, da der Deckel beiseite geschoben war, die Tochter das Haus gerade für mehrere Stunden verließ, so kroch M'chetisch aus dem Akufin, stieg auf den Zwischenboden und betrachtete da alle Schätze, die die alte reiche Teriel aufgespeichert hatte. Er suchte sich von alledem das Wertvollste und soviel heraus, als ein Mann leicht tragen konnte und band das zu einem Bündel, das er sich recht bequem erreichbar hinlegte. Sobald er aber hörte, daß die Tochter der Teriel zurückkam, schlüpfte er schnell wieder in seinen Akufin.

Nachdem er alles so gut geordnet hatte, rief er eines Abends die alte Teriel an und sagte: "Nachbarin Teriel, komm einmal her. Ich habe dir etwas Angenehmes mitzuteilen." Die alte Teriel trat heran und fragte: "Was gibt es denn?" M'chetisch sagte: "Ich werde dir jetzt meinen Finger herausstecken, damit du ihn einmal befühlst. Du wirst sehen, daß ich jetzt nicht fetter werde, vielmehr, wenn man jetzt zögert, wieder magerer werden kann. Also laufe morgen früh schnell zu deinen Schwestern und lade sie für morgen abend zum Essen ein. Deine Tochter mag morgen früh das Feuer anzünden, den Topf aufsetzen, mich schlachten und kochen. Wenn ihr dann abends nach Hause kommt, werdet ihr, deine Schwestern und du, einen Topf mit gekochtem Fleisch vorfinden, das schwöre ich euch. So, nun fasse meinen Finger an und sieh, ob er nicht fett ist!" M'chetisch steckte aber nicht seinen Finger heraus. Er hatte sich vom Essen eine gekochte Taube aufgehoben, der hatte er die seine und Flügel abgeschnitten, und die steckte er, mit dem Sterz voran, heraus. Die alte Teriel befühlte die Taube. Sie schrie auf. Sie schrie: "Hooo! Meine Tochter, komm schnell herbei und befühl einmal diesen Finger. Solchen Finger habe ich noch niemals gefühlt. Er ist so weich, fett und zart anzufassen, als wäre er schon gekocht!" Die Tochter befühlte den Finger. Sie sagte: "Meine Mutter, wir werden morgen ein ausgezeichnetes Essen haben und müssen M'chetisch für die Ratschläge, die er uns gegeben hat, unsern Dank sagen." Die alte Teriel sagte: "Du hast recht, befolge nur morgen genau alle seine Anordnungen. Denn du siehst, er ist klug und weiß selbst am besten, wie wir mit ihm verfahren müssen." Die Tochter versprach es.

Am andern Morgen brach die alte Teriel früh auf und ging von dannen, um alle ihre Schwestern zum Abendessen einzuladen.



Atlantis Bd_02-226 Flip arpa

Nachdem die Mutter einige Zeit fort war, rief M'chetisch die Tochter an und sagte: "Tochter meiner Nachbarin, komm einmal heran!" Die Tochter der alten Teriel trat heran. M'chetisch sagte: "Nun höre und merke genau auf! Es hat keinen Wert, daß wir mit dem Schlachten nun noch lange warten. Wir wollen das gleich erledigen. Mach also Feuer, setze den Kochtopf auf und nimm mich dann aus dem Akufin. Allerdings wirst du mir beim Heraussteigen helfen müssen, denn ich bin vom Fett so schwerfällig geworden, daß ich kaum noch die Arme und Füße heben kann. Ehe du mich herausnimmst, schließe aber die Kammertür. Das erschwert dir infolge der Dunkelheit ja etwas die Arbeit, erleichtert mir aber den Abschied. Denn du kannst dir denken, daß es besser für mich ist, wenn ich nicht mehr die Welt draußen sehe und so noch zu guterletzt wieder in eine Sehnsucht verfalle, die ich augenblicklich nicht habe, die aber wieder aufleben könnte. Schließe also lieber die Tür und stecke den Schlüssel in deine Tasche."

Die Tochter der Teriel tat, wie ihr M'chetisch geraten hatte. Sie schürte das Feuer. Sie setzte den großen Kochtopf auf. Sie schloß die Tür und steckte den Schlüssel zu sich. Danach schob sie den Steindeckel von dem Akufin und half M'chetisch, der sich in viele Kleider gewickelt hatte, die er auf dem Zwischenboden aufgesammelt hatte, heraus. Die Tochter stützte M'chetisch, bis er auf der Erde stand und sagte: "Du bist allerdings fürchterlich fett geworden." M'chetisch sagte: "So ist es. Die Fettschicht ist so stark, daß du ein sehr scharfes Messer haben mußt, um sie zu zertrennen. Zeig einmal dein Messer." Die Tochter der Teriel gab ihm das Messer. M'chetisch versuchte das Messer auf dem Handrücken und sagte: "Das muß noch ein wenig geschärft werden." Er ging zum Schleifstein, wetzte das Messer und versuchte es noch einmal. Er sagte: "So, das Messer wäre nun scharf genug. Nun können wir anfangen. Hast du Feuer und Topf in Ordnung?" M'chetisch prüfte, ob alles gut vorbereitet war.

Dann sagte M'chetisch: "Dies ist alles gut vorbereitet und ich bin zufrieden. Nun sage mir nur, ob du schon einmal einen Menschen geschlachtet hast, sonst will ich es dir genau zeigen." Die Teriel sagte: "Nein, ich habe noch nie einen Menschen geschlachtet. Das hat bisher immer meine Mutter gemacht." M'chetisch sagte: "Dann werde ich es dir einmal vormachen. Lege dich einmal lang auf den Boden." Die Teriel legte sich auf den Boden. M'chetisch sagte: "Nun kreuze die Hände, damit ich dir zeige, wie man sie zusammenbindet."



Atlantis Bd_02-227 Flip arpa

Die Tochter der Teriel kreuzte die Hände. M'chetisch band sie zusammen. M'chetisch sagte: "Nun lege die Füße zusammen, damit ich sie zusammenbinde." Die Tochter der Teriel legte die Füße zusammen, und M'chetisch band sie zusammen.

M'chetisch sagte: "Hast du das alles gut verstanden?" Die Tochter der Teriel sagte: "Ja, das habe ich verstanden. Nun binde mich wieder los." M'chetisch sagte: "Hooo! Nicht so schnell. Jetzt kommt ja erst die Hauptsache! Wie kannst du so ungeduldig sein. Ich habe seit Wochen in dem Akufin gesessen ohne ungeduldig zu werden. Nun kannst du nicht einmal einige Handgriffe abwarten. Paß also auf. Jetzt kommt das eigentliche Schlachten. Paß gut auf, damit du es gleich das erstemal lernst."

Damit schnitt M'chetisch der Tochter der Teriel den Kopf ab und warf das ganze Mädchen in den Kochtopf. Er sagte: "Ich habe der alten Teriel geschworen, daß sie und ihre Schwestern heute abend einen Topf mit gekochtem Fleisch vorfinden. Hier ist er." Dann nahm M'chetisch das Bündel mit Kostbarkeiten, das er sich auf dem Zwischenboden zurechtgelegt hatte, öffnete die Tür und ging von dannen in ein anderes Land.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt