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VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


25. Tamaschahut Bischr »Die Erzählung Fingernagels (=Bischr)»

Ein Mann heiratete, und als die Zeit gekommen war, schenkte seine Frau ihm eine Tochter. Er war ärgerlich, denn er wollte einen Sohn haben. Das nächste Kind, das seine Frau gebar, war aber wieder ein Mädchen. Und so ging es weiter. Jedes Jahr vermehrte sich die Zahl seiner Töchter. Aber der Sohn blieb aus. Endlich geschah es auch noch, daß eine der Töchter starb und daß ihr sehr bald nicht nur eine zweite, sondern die ganze Reihe der Schwestern folgte. Da ließ der Mann sich von seiner Frau scheiden.

Der Mann heiratete nun eine andere junge Frau und hoffte bald Vater eines Sohnes zu werden. Die Zeit verstrich aber, ohne daß seine Frau Mutter wurde. Und wenn die erste Frau nur Mädchen geboren hatte, so schien es, als ob die zweite nicht einmal solche hervorbringen könne. Das blieb drei Jahre lang so. Nun wandte der Vater sich in seiner Traurigkeit mit einer innigen Bitte an Gott und betete: "Laß mich doch Vater eines Sohnes werden, und wenn der Sohn nur so groß ist wie ein Fingernagel (=Bischr)." Da wurde die Frau des Mannes Mutter, und als das Kind geboren wurde, war es denn auch nicht größer als ein Fingernagel. Deshalb nannte der Vater seinen Sohn Bischr.

Bischr wuchs heran; aber er blieb klein. Er blieb so klein! Aber



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so klein wie er war, so klug war er auch. Kein Altersgenosse vermochte ihn zu überlisten; dagegen war er an Schlauheit gar bald allen erwachsenen Leuten überlegen, so daß sein Vater sehr stolz auf ihn war.

Als er älter geworden war, liebte es Bischr, Tag und Nacht in der Nachbarschaft und auch in der weiteren Umgebung umherzustreifen. Eines Tages war er auf einem solchen Streifzüge, da begegnete er einigen Dieben (Dieb ämächur; Plural: imichuren), die gerade daran gegangen waren, ein Haus zu erbrechen, um eine Kuh zu stehlen. Bischr trat zu ihnen und sagte: "Ich will euch behilflich sein." Der erste Dieb antwortete: "Wir können dich nicht gebrauchen, weil du zu klein bist." Bischr sagte: "Du irrst dich! Gerade weil ich klein bin, kann ich um so leichter hineingelangen. Um mich hineingelangen zu lassen, braucht ihr nur einen Stein aus der Mauer zu nehmen." Der zweite Dieb sagte: "Bischr hat recht. Wir wollen ihn durch ein kleines Loch hineinlassen. Er soll uns von innen die Tür öffnen." Sie nahmen also aus der Rückwand des Hauses einen Stein heraus und Bischr schlüpfte hinein.

Bischr kroch zunächst in das Ohr einer Kuh (=thefünäst) und schrie von da aus: "Rechts (= thäifust) oder links (= thaselmast)! Wacht auf!" Bei dem Schreien wachte der Besitzer der Hütte auf, leuchtete überall im Hause umher, konnte aber nichts finden und legte sich wieder zum Schlafen nieder. Die Leute beruhigten sich untereinander und sagten: "Das muß der geheime Wächter des Hauses gewesen (= arsess uchan) sein." Die Leute schliefen wieder ein.

Nach einiger Zeit kam Bischr aus dem Ohr der Kuh heraus, ging zur Mutter des Hauses, die mit weitgeöffnetem Munde schlief und schlüpfte da hinein. Aus dem Innern der Hausmütter schrie Bischr dann ganz laut: "Wacht auf, die Diebe sind im Haus!" Die Leute erwachten wieder, sprangen auf, suchten überall herum, fanden aber nichts und sagten endlich untereinander: "Es kam aus dem Feuerloch (= Khänun)." Ein Kind sagte: "Ja, es war der Herr der Feuerstelle (= schir Khänun, d. i. die Grille)." Damit beruhigten sie sich, legten sich wieder auf ihre Lager und schliefen ein.

Nun kam Bischr wieder aus dem Munde der Hausmütter heraus, öffnete von innen die Tür und ließ die Diebe so hereinkommen. Sie banden die Kuh los und trieben sie mit sich fort. Nachdem sie mit der Kuh ein gutes Stück gegangen waren, sagten die Diebe: "Wir



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wollen die Kuh dort unten im Tale schlachten." Bischr dachte bei sich: "Dort unten im einsamen Tal komme ich um meinen Teil." Bischr sagte zu den Dieben: "Wir wollen die Kuh lieber auf dem Hügel schlachten. Dort sind wir am Wege und können das Fleisch schneller fortschaffen." Darauf gingen die Diebe und Bischr mit der Kuh auf den Hügel und schlachteten sie. Als sie dann teilten, sagte Bischr: "Behaltet ihr nur alles Fleisch und gebt mir die Eingeweide." Die Diebe taten es.

Bischr nahm seine Eingeweide, verabschiedete sich und ging von dannen. Er ging aber nicht weit fort, sondern nur bis zum wenige Schritte entfernten Wege. Dort blies er die Eingeweide (=ajrdän) auf, schlüpfte hinein und schrie: "Kommt schnell, kommt schnell, die Diebe eurer Kuh sind hier im Gebüsch. Ich kann sie vom Wege aus sehen." Die Diebe erschraken. Sie sahen durch die Zweige die aufgeblasenen Gedärme. Sie glaubten, daß der frühere Besitzer der Kuh sie verfolge und flohen so schnell sie nur konnten von dannen, ohne sich weiter um das schöne Fleisch zu kümmern. Sobald Bischr sah, daß die Diebe entflohen waren, kam er heran, packte alles Fleisch in die Kuhhaut und legte es unter die Zweige. Dann kehrte er zum Wege zurück.

Auf dem Wege kam mittlerweile ein Mann mit einem Maulesel daher. Der Mann streichelte den Hals seines Maultieres, klopfte ihm die Lenden und sagte: "Gott hat mir einen guten, willigen Maulesel gegeben, hätte er mich strafen wollen, so wärst du ein störrischer." Bischr hörte das. Er sprang dem Maulesel in das Ohr, machte es sich darin bequem und schrie hinein: "Sch! Schi Schtan!" (kabylischer Anruf zum Stehenbleiben). Sogleich blieb der Maulesel stehen. Der Reiter schlug und sagte: "Soeben habe ich dich noch gelobt, und nun wirst du störrisch!" Der Mann schlug und Bischr rief: "Sch! Sch! Schtan!" Der Maulesel stand. Der Mann holte weit zum Schlage aus, traf den Maulesel stark und schrie: "Nun vorwärts, wenn es nicht eine Strafe Gottes ist!" Bischr schrie wieder: "Sch! Sch! Schtan!" Der Maulesel stand. Der Reiter des Maulesels erschrak.

Der Reiter des Maulesels erschrak sehr und schrie laut: "Sollte das doch eine Strafe Gottes sein?" Da schrie Bischr so laut er konnte: "Ja." Der Reiter sprang empor. Der Reiter schrie: "Gott spricht aus dem Maulesel." Der Reiter fiel vor Schreck vom Maulesel, er raffte sich auf und lief so schnell er konnte von dannen, ohne sich weiter nach dem Maulesel umzusehen. Der Maulesel blieb auf



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der Straße stehen. Er wandte seinen Kopf nur um und sah seinem Herrn nach.

Als der Besitzer des Maulesels weggelaufen war, kam Bischr aus dem Ohr des Maulesels hervor und sprang auf die Erde. Er führte das Tier zu der Stelle, an der er das Kuhfleisch in eine Haut eingewickelt unter Blättern verborgen hatte, belud den Maulesel, schwang sich oben auf und ritt heim. Daheim hatten der Vater und die Mutter inzwischen in allen Winkeln und auf allen Straßen nach Bischr geschaut und geschrien. Der Vater war schon ganz traurig, daß der einzige, winzige Sohn, den Gott ihm geschenkt hatte, abhanden gekommen war, als Bischr auf seinem Maulesel mit seiner Ladung Fleisch angeritten kam. Der Vater war über alle Maßen glücklich. Bischr zeigte ihm, was er mitgebracht hatte. Er sagte: "Sieh, mein Vater, welchen schönen Maulesel und wieviel gutes Fleisch ich euch mitgebracht habe!" Der Vater aber sagte: "Ich freue mich über dich mehr als über den Maulesel und das Fleisch!"



***
Der Vater hatte große Angst, daß Bischr doch wieder fortlaufen und durch allerhand Streiche sein Leben in Gefahr bringen könne. Er wollte Bischr deshalb festbinden, denn er liebte seinen Sohn über alles. Bischr sagte jedoch: "Laß mich nur gehen, mein Vater, ich bin zwar klein, aber ich bin ein Mann; um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen."

Eine Nacht blieb Bischr daheim. Am andern Tage nahm er sich Essen, packte das Nötige ein und begab sich wieder auf die Wanderschaft. Diesmal lief er weit, weit fort, bis er in ein ganz anderes Land kam. Es war da überall eine ausgezeichnete Weide, aber nirgends auch nur ein Schaf zu sehen, trotzdem inmitten der Ebene ein großes Gehöft war. Bischr ging auf das Gehöft zu. Er fand eine einzige Frau darin. Er begrüßte sie und bat sie um eine Schale Milch und Brot. Die Frau ging hin, molk einige Schafe und reichte ihm die Schale.

Bischr blickte in das Gefäß und rief: "Die Milch ist ja ganz schwarz! (schwarze Milch =aizki). Die Frau sagte: "Natürlich ist die Milch ganz schwarz. Ich füttere meine Schafe nur mit Kohle." Bischr sagte: "Wieso das! Draußen ist doch weit und breit die schönste Weide und nirgends ein Schaf zu sehen! Warum läßt du die Schafe nicht draußen weiden?" Die Frau lachte und sagte: "Ich möchte die Schafe schon draußen weiden lassen. Über das Feld sind aber ein Rabe, ein Igel, ein Hase (=aussul), ein Rebhuhn



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und eine Teriel Herr. Die erlauben mir nicht, daß ich meine Schafe im Freien weide, und die Teriel hätte mich überhaupt schon lange verschlungen, wenn sie nicht eine Wunde im Rücken hätte, die sie hindert, aufrechtzugehen. Und da ich meine Schafe nicht draußen weiden lassen kann, bin ich gezwungen, sie mit Kohle zu füttern."

Bischr hörte das und sagte: "Bereite mir für morgen eine Schlagkeule (=debits), ein Messer (=taschenuits) und einen Ziegenhautsack (=thascholett). Ich will morgen deine Schafe weiden." Die Frau sagte: "Die Herren des Feldes werden dich verschlingen." Bischr sagte: "Du brauchst dich nicht zu sorgen. Ich werde mich und die Herde heil wieder heimbringen!"

Am andern Morgen packte Bischr seine Sachen in den Ziegenhautsack, öffnete das Tor des Gehöftes und trieb die Herde (=thakkethaith) hinaus. Er trieb die Herde vor sich her, mitten auf die Weide (=themurth) des Raben. Er setzte sich nieder, legte den Ziegensack zu seinen Füßen und behielt nur die Keule in der Hand. Nach einiger Zeit kam der Rabe und fragte: "Wie kommt es, daß du die Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte: "Siehst du nicht, daß ich Bischr bin? Glaubst du etwa so stark zu sein wie Bischr, so hebe doch meinen schweren Ziegenhautsack auf!" Der Rabe sagte: "So stark wie du bin ich noch lange!" Der Rabe bückte sich, um den Ziegenhautsack Bischrs aufzunehmen und so seine Stärke zu zeigen. Da schlug ihm Bischr mit der Keule in den Nacken, so daß er tot hinfiel. Er schnitt dem toten Raben den Kopf ab, steckte ihn in seinen Sack und trieb die Herde weiter auf die Weide des Igels. Dort setzte er sich hin, legte den Ziegenhautsack vor sich auf die Erde und behielt nur die Keule in der Hand.

Nach einiger Zeit kam der Igel und fragte: "Wie kommt es, daß du deine Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte: "Siehst du nicht, daß ich Bischr bin? Glaubst du eben so stark zu sein wie Bischr, so hebe doch meinen schweren Ziegenhautsack auf!" Der Igel sagte: "So stark wie du bin ich noch lange!" Der Igel bückte sich, um den Ziegenhautsack Bischrs aufzunehmen und so seine Stärke zu zeigen. Da schlug ihm Bischr mit der Keule in den Nacken, so daß er tot hinfiel. Er schnitt dem toten Igel den Kopf ab, steckte ihn in seinen Sack und trieb die Herde weiter auf die Weide des Hasen. Dort setzte er sich hin, legte den Ziegenhautsack vor sich auf die Erde und behielt nur die Keule in der Hand.

Nach einiger Zeit kam der Hase und fragte: "Wie kommt es, daß



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du deine Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte: "Siehst du nicht, daß ich Bischr bin? Glaubst du ebenso stark wie Bischr zu sein, so hebe doch meinen schweren Ziegenhautsack auf!" Der Hase sagte: "So stark wie du bin ich noch lange!" Der Hase bückte sich, um den Ziegenhautsack Bischrs aufzunehmen und so seine Stärke zu zeigen. Da schlug ihn Bischr mit der Keule auf den Nacken, so daß er tot hinfiel. Er schnitt dem toten Hasen den Kopf ab, steckte ihn in seinen Sack und trieb die Herde auf die Weide des Rebhuhns. Dort setzte er sich hin, legte den Ziegenhautsack vor sich auf die Erde und behielt nur die Keule in der Hand.

Nach einiger Zeit kam das Rebhuhn und fragte: "Wie kommt es, daß du deine Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte: "Siehst du nicht, daß ich Bischr bin? Glaubst du ebenso stark wie Bischr zu sein, so hebe doch meinen schweren Ziegenhautsack auf!" Das Rebhuhn sagte: "So stark wie du bin ich noch lange!" Das Rebhuhn bückte sich, um den Ziegenhautsack Bischrs aufzunehmen und so seine Stärke zu zeigen. Da schlug ihm Bischr mit der Keule in den Nacken, so daß er tot hinfiel. Er schnitt dem toten Rebhuhn den Kopf ab, steckte ihn in seinen Sack und trieb die Herde auf die Weide der Teriel. Dort lehnte er sich an einen Baum.

Nach einiger Zeit kam die Teriel. Die Teriel rief schon aus der Ferne: "Wie kommt es, daß du deine Schafe mein Gras abweiden läßt?" Bischr sagte: "Siehst du nicht, daß ich Bischr bin? Wenn du einen heißen Kopf hast, so komme nur näher. Schau her! Ich scheine doch machtlos!" Er lehnte sich gleichzeitig zurückgebeugt mit dem Rücken an den Baum und schlug die Hände rückwärts um den Stamm." Die Teriel kam näher und fragte: "Weshalb nimmst du diese Stellung ein?" Bischr sagte: "Kann ich dir trauen?" Die Teriel sagte: "Du kannst mir trauen." "Dann sollst du es wissen. Ich habe schon lange ein Rückenleiden, das meine Kraft verringert. Wenn ich mich nun so hinstelle, kommt meine Kraft sogleich für einige Zeit wieder. Hätte ich einen guten Freund, der mir in dieser Stellung auch noch für einige Zeit die Hände um den Baum festbinden würde, so würde ich meine Gesundheit ganz wiedergewinnen."

Die Teriel sagte: "Solch ein Rückenleiden habe ich auch. Du scheinst mir die Mittel gut zu kennen. Binde mich doch mal in dieser Weise fest; wenn du imstande bist, mich von meinem Übel zu befreien, will ich dich reich beschenken." Bischr sagte: "Ich



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will es versuchen. Du mußt mir aber zum Binden eine ganz feste Lederschnur geben." Die Teriel sagte: "Die sollst du haben. Ich werde sie sogleich holen."

Die Teriel lief heim und holte die Lederschnur. Bischr nahm sie und sagte: "Nun lehne dich rückwärts an den Baum und schlage die Arme um den Stamm." Die Teriel richtete sich mühsam auf und lehnte sich rückwärts. Die Teriel stöhnte: "Oh, oh, das schmerzt!" Bischr schnürte ihr die Hände zusammen und sagte: "Es dauert nicht lange. Die Schmerzen werden dir sogleich für immer vergehen." Als Bischr die Teriel ganz fest angebunden hatte, prüfte er, ob die Schnüre auch fest waren. Dann ergriff er sein Messer und schnitt ihr den Kopf ab. Den Kopf steckte er in seinen Ziegenhautsack. Den Körper der toten Teriel ließ er am Baume.

Danach trieb Bischr die Herde der Frau heim und sagte zu ihr: "Nun kannst du deine Schafe weiden, wo du willst." Er zeigte der Frau die Köpfe in seinem Ziegenhautsack. Die Frau war überaus glücklich. Bischr blieb noch einige Zeit bei ihr, dann nahm er Abschied und kehrte reich beschenkt heim.

Sein Vater war über die Heimkehr seines einzigen, winzigen Sohnes Bischr über die Maßen glücklich. Er war auf dessen Taten sehr stolz und gab ihm ein junges, schönes Mädchen zur Frau.


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