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Sagen aus dem Berner Oberland


Ausgewählt und herausgegeben von


Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal


Die schöne Mailänderin

Auf der Törbjeralp über der brodelnden Aare sah ein Hirte, der einem verlaufenen Kühlem nachstieg, bei finsterm Regen eine vornehme Dame dem Gletscher zuwandern. Er verdoppelte seine Schritte, um ihr, falls sie sich verirrt hätte, seine Hilfe anzubieten. Als er ihr nahe genug gekommen war, bemerkte er



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zu seinem Erstaunen, wie jung und schön sie war; doch fiel ihm besonders auf, dass sie keine Kopfbedeckung trug und barfuss einherging. Aus ihren prächtigen schwarzen Haaren, die reichgelockt auf schneeweisse Schultern herabfielen, tröpfelte der Regen. An ihrem feinen Halse hing eine brillantenbesetzte Goldkette; die schlanken Hüften umgab ein kostbarer Gürtel; mit Spangen waren die Arme geschmückt und an der Hand funkelten herrliche Diamantringe. Die von Nässe und Kälte geröteten Füsse der Frau schienen so zart, dass jedes Steinchen sie verwunden musste. Mit einer Hand hielt sie ihre seidene Schürze empor, um sich den Aufstieg durch die Wildnis zu erleichtern, und in der andern führte sie einen langen Reisestock. Ihr liebliches Angesicht trug die Spur von vieler Kümmernis, denn noch glänzten Tränen an den Wimpern; die Lippen bewegten sich leise, sie schienen zu seufzen und Gebete zu sprechen.

Voller Erbarmen sprach der junge Aelpler die seltsame Fremde an: «Um Gotteswillen, wo wollt Ihr hin bei so harter Witterung in einer so grausen Höhe? Ihr geht ja barfuss, ohne Hut und Schuhe;



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gewiss seid ihr verunglückt! Wo sind Eure Bedienten? Habt Ihr keinen Führer mitgenommen? Ohne Zweifel seid Ihr nicht fern von hier vom Pferde gestiegen und habt Euch zu weit von der Begleitschaft entfernt? »

«Nein, mein guter Bursche», erwiderte die Dame freundlich, «ich habe mich nicht verirrt, sondern komme wirklich ohne Begleitschaft, Pferde, Diener, Schuhe und Hut. Soeben wandelte ich aus einer grossen Stadt und aus einem glänzenden Palaste daher. Mein Leib liegt noch warm in Mailand auf dem Totenbette, vor dem meine Eltern bitterlich weinen und mein Gesicht benetzen. Ich habe bei Lebzeiten fast keine Erde getreten, weil ich in der Kutsche fuhr; nie entfernte ich mich ohne Begleitung vom Hause und keinem Lüftchen setzte ich mich aus. Da ich mich vor aller Anstrengung und Mühe fürchtete, muss ich meine Verzärtelung schutzlos in dieser Wildnis und im Eise des Gletschers abbüssen - dies ist mein Fegfeuer, denn sonst habe ich keine Sünden begangen. »

Bei den letzten Worten der armen Seele drängte aufeinmal wallender Nebel um



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die liebliche Gestalt, und nach der Aufhellung war von der schönen Frau keine Spur mehr zu erblicken. Zu spät fiel dem Hirten ein, die zarte Gestalt könnte sich ihm gezeigt haben, damit er sie erlöse. So laut er vermochte, rief er darum: «Sagt mir, womit ich Euch erlösen kann!» Statt einer Antwort flüsterte jedesmal nur ein schwaches Echo seine eigenen Worte. Trüb rauschte die wilde Aare, dumpf kreischte der Gletscher, und bleiche Dunstgestalten stiegen aus dem Eise auf und nieder. Die edle Mailänderin zeigte sich nicht mehr. Und sooft eine wunderbare Sehnsucht auch später den Hirten an die Stelle trieb, wo die frierenden Füsse der Büsserin gestanden stets widerhallte nur sein fragender Ruf aus finstern Nebeln und Regenschauern.


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