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Sagen aus dem Berner Oberland


Ausgewählt und herausgegeben von


Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal


Das Totenvolk von Gsteig

Mannigfach sind die Erscheinungen des Totenvolkes in den Alpen. Bald zieht es wie das wütende Heer dahin, bald benützt es die Geisterkutsche oder auch gespenstische Schiffe, wenn der Weg über Wasser geht. Meistens jedoch wandelt es, als grausige Prozession in unabsehbar langem Zuge, Gebete murmelnd durch die nachtstillen Dörfer. Es sind die Verstorbenen der Gegend, die da gleichgewandet, wie sie zu Grabe gelegt wurden, ihren schauerlichen Umgang vornehmen. Auch alle Lebenden der Gemeinde, die im gleichen Jahre noch sterben werden, gehören dem Zuge an. In der Reihenfolge ihres Todes bilden sie den Schluss der Prozession. Mancher Neugierige, der hinter dunkelm Fenster das Totenvolk an



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seinem Hause vorüberwandeln sah, erblickte sich selbst und viele seiner Bekannten in den fahlen Reihen der gestorbenen Schar.

Von der Kirche zu Gsteig im Saanenland wusste man längst, dass sich in ihr das Totenvolk zum Gottesdienste versammelte. Oft hatte der Mesmer nächtlicherweile die Kirchenfenster erhellt gesehen und die vollen Laute einer Predigt gehört. Doch nie wollte es ihm glücken, des Totenvolkes ansichtig zu werden, bis er das Mittel vernahm, durch welches ihm das Geheimnis offenbar werden sollte. Einmal in der Morgenfrühe eines Sonntags, als er die Kirche wiederum vom Totenvolk angefüllt glaubte, schritt er rückwärts, ein Totenbein auf der Achsel, durch ein Seitentürchen ins Gotteshaus, und sogleich zeigte sich seinem Auge die versammelte Geistergemeinde. Da sassen Männer und Frauen, so wie sie dem Kirchhofe entstiegen waren, gedrängt in den Bänken, und auf der Kanzel stand ein längst verstorbener Pfarrer, der den Toten des Tales die ewige Predigt hielt. Jede Furcht war dem Mesmer fremd, darum beschloss er auch, an dem unheimlichen



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Orte bis zum Schluss auszuharren. Seine Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Seit Stunden strahlte bereits die Morgensonne vom Himmel und die Glekken hoben zum Sonntagsläuten an; gleichwohl blieben die Schatten beisammen. Erst mit dem letzten Glockenschlag strömten sie zur Kirche hinaus auf den Friedhof. Dort wurden sie von den Gräbern aufgenommen, lautlos und unsichtbar für die Talleute, die sich inzwischen zum eigenen Kirchgang versammelt hatten. Der Mesmer hatte genug gesehen, doch wollte er den Anblick des Totenvolkes auch andern Menschen gewähren. Viele haben seither, ein Totenbein auf der Achsel und mit rückwärts gerichtetem Schritt, die Kirche von Gsteig betreten, die tote Gemeinde besucht und den Worten des Totenpfarrers ihr Ohr geliehen!


Copyright: arpa, 2015.

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