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Sagen aus dem Berner Oberland


Ausgewählt und herausgegeben von


Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal


Von den grauen Rottalherren

Schwindlig hoch über den Tälern zwischen der Jungfrau und der Ebnefluh dräut das vergletscherte Rottal. Senkrechte Felswände schliessen es von allen Seiten ein. Zerschrundete Gletscher fallen



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zwischen den Gräten herab und füllen die unergründeten Tiefen.

Dieses Gletschertal ist weit ins Land hinaus bis an die fernen Ufer der Aare und Rhone verrufen als der Sitz grauer Gespenster. Die berüchtigsten Hexenmeister, sogenannte Strudel, haben zu verschiedenen Zeiten Geister, die zerfallene Burgen, Wege, Feldmarken und Alpstadel unsicher machten, hinauf ins Rottal gebannt. Solche Hexenmeister waren vor allem der Stuffensteintoni und der Guntenjosi. Letzterm mussten die zu ewiger Busse Verdammten aus den Tälern von Lauterbrunnen und Grindelwald in Gestalt eines kohlschwarzen, drolligen Böckleins nach dem Rottal hinauf nachlaufen. Wenn etwa während der Wanderung unbekannte Leute das hübsche, lustige Tierchen von ungefähr streicheln wollten, drohte der Guntenjosi mit dem Finger und warnte:

Nit, nit! Strich mir d's Böckin nit,
Wenn d'nit selber ins Rottal witt!

Aus dem Emmental führte ein anderer Hexer, der Mühleseiler, ganze Gespensterscharen dem Rottal entgegen. Sie schwebten als Menschengestalten hinter dem



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Zauberer her, ohne den Boden zu berühren. Kam der Mühleseiler nächtlicherweise mit seinem Gespenstertrüppchen daher, so pflegte er den Hut unter dem Arme zu tragen. Begegnete ihm alsdann ein Mensch, so sagte er geheimnisvoll: «Sid so guet und geit uf d'Site, es chömed da Herre. »

Aus dem Saanenlande brachte der Guntenjosi die schönen Jungfrauen mit den falben Zöpfen, weil sie nicht lieben und heiraten wollten, nach dem Rottal. Durchdringend und jämmerlich wehklagten die unseligen Mädchen. Bei solchem Anlass überzog sich der klarschimmernde Geltenschuss, ein prachtvoller Wasserfall im Saanenland, bleich oder blutrot zum Zeugnis des Verhängnisses. Noch gegenwärtig ruft man an der Saane ungehorsamen Kindern zu: «Du wirst ins Rottal wollen zu den falbhaarigen Mädchen? » oder: «Der Guntenjosi muss dich ins Rottal führen!»

Wenn glühendheissen Hauches der Föhn durchs Oberland braust, dazu riesenhafte Felsstücke und Eiszacken gelöst werden und die Gletscher sich spalten mit dem Getön furchtbarer Kanonenfeuer und Gewehrsalven,



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dann heisst man die Erscheinungen das «Wetterschiessen.

Nach alter Sage war das vergletscherte Rottal einst eine der grasreichsten Triften des Berner Oberlandes. Ein guter Pass führte da hinüber nach dem hellen Wallis. Glücklich wären die Bewohner gewesen, hätte nicht die Willkürherrschaft grausamer Herren auf ihnen gelastet. Einst verfolgte einer dieser Ritter, von seinen Gelüsten gestachelt, ein Hirtenmädchen hinauf zu den Rottalfelsen; schon zagte die Unschuld, der Gewalt erliegen zu müssen. Da stand plötzlich ein grosser schwarzer Bock, wie auf der Alp noch keiner gesehen worden war, vor dem Bedränger und warf ihn kräftig, mit jähem Ruck, abgrundtief von der Felswand aufs Steingeröll. Gleichzeitig rollten ringsum die Firne herab und im Nu war das blühende Hochtal unter eisigen Panzern begraben.

So wurde das Rottal zur verwünschten Stätte der Geister, die an bestimmten Tagen, eigentümlich dumpf heulend, als graue Rottalherren durch die Lüfte ziehen müssen, bis sie endlich doch einmal Erlösung finden.


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