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Sagen aus dem Berner Oberland


Ausgewählt und herausgegeben von


Walter Menzi

1. bis 5. Tausend

Verlag Landschäftler A-G., Liestal


Ahasvers Ruheplatz

Ewig wandert Ahasver, der dem kreuztragenden Heiland eine kurze Rast verwehrte, durch die Welt. Als er zum erstenmal auf die Grimsel kam, lebte ein munteres Menschengeschlecht am Ufer der jungen Ströme. Die sonnigen Berge waren rebenumkränzt, Eichen und Buchen wiegten ihre Kronen, von sanftem Winde gefächelt. Inmitten fruchtbarer Obstwälder lagen stattliche Dörfer. Die Bewohner gewährten Ahasver wohltätiges Gastrecht, gaben ihm köstlichen Wein zu trinken und hiessen ihn weilen.

Mancher Jahreswechsel war über Ahasver dahingegangen, als er zum zweitenmal



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durch die Alpen wanderte. Er gedachte des frohen Volkes auf der Grimsel, an dessen Glück er sich noch einmal erlaben wollte. Aber düstere Ahnungen beklemmten seine Brust. Dicker Nebel verbarg ihm das umliegende Land. Droben angelangt, empfingen ihn eiskalte Stürme, und lange suchte er umsonst nach menschlichen



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Stätten. Endlich fand er einige Köhlerhütten, bewohnt von schweigsamen Menschen. Die gaben ihm willig von ihrem armseligen Gute zu kosten: schwarzes Brot und Bier, das sie aus Tannsprossen gebraut hatten.

Nach vielen Jahren betrat Ahasver, der ewige Jude, die bekannten Berge zum drittenmal. Der Pfad, den er früher gewandelt, war jetzt verschüttet. Ueber wildkahle Felsen strauchelte des Irrenden Fuss. Hie und da nur wuchs ein spärlicher Grashalm. Von den Halden, die Reben und später einsame Fichtenwälder getragen hatten, hingen todesstarre Gletscher herab. Aus Schnee und Eis ragten zerrissene Felsnadeln zum Himmel empor. Ausgestorben waren die Menschen, ertötet schien die Natur. Ausser dem durchdringenden Pfiff des Murmeltiers erklang kein lebendiger Laut durch die Wildnis der brodelnden Nebelfetzen.

Da erbarmte sich Gott, dass der ewige Wandler weinen konnte, um sein bedrücktes Herz zu erleichtern. Ahasver setzte sich auf einen Stein und liess seine Tränen rinnen. Hier allein, wo ringsum Felswände drohten, war ihm endlich ein Augenblick



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der Rast gegönnt. Unaufhaltsam weinte der Unglückliche, bis er bald auch diesem Orte wieder den Rücken wenden und weiterstreben musste, dem Haslital entgegen. Seine Tränen aber hatten sich in der Tiefe gesammelt und einen kleinen See gebildet. Dessen Wasser sind trotz der vielen Zuflüsse aus den Gletschern der Grimselberge warm geblieben wie die ersten Tränen Ahasvers.

Drei Male hat Ahasver den Grimselweg beschritten und ein viertes Mal wird er kommen. Dann wird sich ein einziger Gletscher vom Brienzersee nach dem Wallis hinüber ausdehnen über die freundlichen Talgelände. Und nur Ahasver wird einsam durch die erstarrte Gegend wallfahren, um seinen Rastplatz, den einzigen auf Erden, nochmals zu finden.


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